Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Rückkehr nach Ludwigsburg

Wir kamen nun in meine Vaterstadt Ludwigsburg zurück, aber ohne den Vater. (Es war das Jahr 1799.)

Dadurch, daß Herzog Friedrich mit einem prächtigen Hofstaate seine Sommerresidenz in Ludwigsburg genommen hatte, und mehr Militär als früher anwesend war, hatte Ludwigsburg ein etwas lebendigeres Ansehen gewonnen; aber es reichte auch dieses doch noch nicht hin, die langen Straßen und weiten Plätze wirklich zu beleben, und oft stand es, blickte man in eine solche Straße hinaus, längere Zeit an, bis man eine größere Anzahl von Menschen in ihr erscheinen sehen konnte; oft schwebte nur am äußersten Horizonte einer solchen Straße der Perückenmacher Fribolin oder der dicke Brunnenmacher Kämpf wie in einem Schattenspiele vorüber. Den glänzenden Hof und das Militär erblickte man mehr in den Alleen und Schloßräumen. Die Stadt, wenn sie auch an Leere etwas verlor, war beängstigender geworden.

Unsere Wohnung war wieder auf dem Marktplatze, in dem der Oberamtei gegenüberstehenden obern Viertel der Arkaden, wo jetzt mehrere Schulen eingerichtet sind. Da gab es nun viele schmerzliche Erinnerungen und Entbehrungen, besonders für meine gute Mutter. Ihre Haushaltung bestand nun nur noch aus meiner jüngeren Schwester Wilhelmine, aus mir und einer Magd; denn meine ältere Schwester Ludovika hatte sich noch zu Lebzeiten meines Vaters mit einem Geistlichen zu Wiernsheim im Oberamte Maulbronn, wie schon angeführt, verheiratet.

Kein Garten, keine Pferde, keine Hunde waren mehr vorhanden.

Der alte Kutscher Matthias war mit Betrübnis von uns geschieden; er hatte eine Anstellung als Waldschütze in den Wäldern bei Maulbronn erhalten.

Die schönen Ölgemälde des Vaters waren um einen Spottpreis verkauft worden.

Ein so stilles Leben wir nun in diesen Jahren führten, in einem um so unruhigeren trieben sich damals meine Brüder Carl und Georg in entgegengesetzten Richtungen umher, was meiner so leicht beängstigten Mutter da oft zu großer Sorge gereichte.

Mein Bruder Carl im Jahre 1799 und meine Schuljahre und Knabenzeit in diesem Jahre

Mein Bruder Carl hatte bald nach dem Tode des Vaters (1799) an der Grenze gegen Sinsheim an mehreren Gefechten gegen die Franzosen als Lieutenant bei einer Batterie lebhaften Anteil genommen und war nach Ludwigsburg zurückgekehrt, wo er ein eigenes Logis nahe dem Arsenal bewohnte.

Der Feldzug von 1800 aber ließ ihm keine Ruhe, er hatte denselben unter dem Reichskontingent mit den Österreichern mitzumachen, und es wurde ihm schon ein selbständiges Kommando, der Transport der Geschütze und Waffenvorräte auf der Donau, anvertraut. Es war seine Aufgabe, diesen Transport nach Maßgabe der Kriegsereignisse zu bewegen und die Sicherstellung der Vorräte zu bewirken. »Wenn schon in frühern kleinern Vorfällen (schreibt ein Waffengefährte von ihm) sein richtiger Blick und sein reifes Urteil sich kund gaben, so traten diese Eigenschaften in Verbindung mit dem Schatze gründlicher Kenntnis während dieses Feldzuges in höherem Grade werktätig hervor. Er wurde im Verlauf derselben zum Oberlieutenant bei der Artillerie ernannt.«

Mein Bruder Georg in Italien

Die Jahre 1798 und 1799 hatte mein Bruder Georg in Italien zugebracht und war vom Minister Reinhard zu vielen wichtigen Aufträgen und Sendungen verwendet worden. Als Kommissär des französischen Gouvernements hielt er sich längere Zeit in Florenz auf, wo sich seine Geschäfte auf die damaligen Angelegenheiten Toskanas bezogen. Bei einem Gefechte gegen die Insurgenten, das er nur aus Liebe für Gefahren mitmachte, erhielt er damals einen Säbelhieb über die Schulter.

Eine Sendung bekam er auch ins Hauptquartier des Generals Bonaparte, wo er von diesem zu Tisch geladen wurde. Es ist sehr merkwürdig, daß er nach der Zurückkunft von ihm in sein Tagebuch, was noch in solchem zu lesen ist, folgendes schrieb:

»Großer, von Europa und der Nachwelt besungener Held! Auch du bist worden nichts, und wirst werden nichts, als ein Mensch, der nicht getan hat, was er hätte tun können, und nicht geworden ist, was er der ganzen Menschheit hätte werden können!« –

Dennoch wäre er mit Bonaparte im Jahre 1798 gern nach Ägypten gezogen. Die Sache war auch bereits durch Bourienne oder General Championnet eingeleitet, und Bonaparte wollte ihn mitnehmen, als Reinhard ihn bewog, den Gedanken aufzugeben.

Auf einer Reise durch Italien begleitete er Bonapartes Schwester, Pauline, damals noch Generalin Leclerc.

Von seinem Aufenthalte in Italien vom Jahre 1799 schreibt sich nachfolgender Aufsatz von ihm:

An den Ufern des Anio

Langsam zieht sich der Anio zu den Füßen von Tivoli hin, endlich bricht sich sein Bett, und ein Felsenbecken empfängt den stürzenden Fluß, der unter Donnergeräusch, in Wasserstaub aufgelöst, schäumend, als tobte in und unter ihm vulkanisches Feuer, von Felsen zu Felsen, von Abgrund zu Abgrund stürzt, durch gesprengte Massen, durch Höhlen, die sein tausendjähriger Strom bildet, sich in immer furchtbareren Wogen niederwälzt, bis er endlich eine ruhigere Bahn findet.

Der Weg von Tivoli an den Kaskadellen vorüber nach dem Ponte Lupo führt über die Trümmer der Villa von Cicero, Cassius und Brutus, von Horazius, von Quintilius Varus. Gegenüber auf der andern Seite erheben sich noch stolz die Trümmer der Villa Mäcens. Da, wo der Günstling Augusts einst horazischen Weihrauch atmete, tönt jetzt des Hammers schallender Schlag aus der Mühlen Klappergeräusch. Da, wo einst Cyperwein aus goldenen Pokalen strömte, fließt jetzt des Werkmanns Schweiß unter der Arbeit Last. Hier, wo jetzt die Pflugschar bemooste Steintrümmer in die Erde drückt, diesseits des Stromes, im Schoße der schönen Natur, stärkte sich Cicero zum Kampfe gegen Catilinarische Kühnheit. Hier auf dieser andern Stelle sangen Tibull und Catull. Hier lebte den Musen der vaterländische Horaz, und über diesen Trümmern erhob sich einst die Villa des Quintilius Varus, des Zeugen germanischer Kraft, als sie den Kaisersadler in seinem hohen Fluge ergriff und blutend zur Erde schleuderte, daß der furchtbare Fall aus dem Auge Augusts Tränen des Schmerzes erpreßte. Hier endlich wandelten bei nächtlichem Dunkel und Regenschauer Brutus und Cassius. Hier heiligte die letzte Flamme römischer Freiheit den Dolch, der Caesars Brust durchbohrte.

Auf dieser der Geschichte geheiligten Stätte traf ich vor Jahren zuerst mit dem Helden zusammen, dessen Name mit allem Fuge auch der Geschichte dieses Landes angehört, dessen Charakter Roms schönsten Jahrhunderts würdig war, der, wie keiner der fränkischen Feldherrn, so viel Sinn für Vereinigung der italienischen Völker in eine unabhängige Nationalmasse hatte, mit Joubert, dem Unvergeßlichen. Im Austausch unserer Gefühle wandelten wir hier lange unter den Trümmern vergangener Größe dieses Volkes, aber schon damals glaubt ich in ihm jene Züge zu erkennen, denen das Glück nur selten entgegenkommt. Es war eine beklagenswerte Leidenschaft, die Liebe seiner Schwester, die ihn in die militärische Laufbahn warf. Die Unglückliche liebte ihn mit aller Glut verbotener Liebe, und als er sich geflissentlich von ihr entfernte, fiel sie in eine Krankheit und starb. Er suchte nun auf einer geschäfts- und geräuschvollen Bahn Zerstreuung und fand Ruhm und Lorbeeren. Schmerzvolle Eindrücke aber blieben stets in seiner Seele zurück, und nie durfte man in seiner Gegenwart von Liebe sprechen, ohne daß sich tiefe Melancholie seiner Seele bemächtigte. Schon zu Mantua sagte mir nach geraumer Zeit vor Jouberts Entlassung der General M.: Joubert werde nicht lange mehr bei der Armee bleiben, das Direktorium könne sich nur mit Menschen vertragen, deren Raub- und Gewaltsucht, mit feiger Unterwürfigkeit gepaart, den Herrschern ein Motiv der Sicherheit werde. Militärischer Ruf, mit Bürgersinn und Bürgertugend vereinigt, sei diesen Menschen ein Gegenstand des Mißtrauens oder der Furcht; Joubert werde sich nicht erhalten und schon arbeite man von Mailand und Paris aus gegen ihn. Ich sah seine Äußerung für übertrieben an, und mußte mich am Tage, da Joubert seine Dimissionsannahme erhielt, nur allzusehr von ihrer Gründlichkeit überzeugen. Ich war gerade an diesem Trauertage bei Joubert. Er hatte dem Exdirektor Merlin in einem Schreiben seine Meinung frei und offen mitgeteilt; Merlin hatte ihn dazu eingeladen, ihm seinen Glauben an einen entschiedenen Einfluß des Auslandes auf die Verhandlungen des Direktoriums nicht verschwiegen und sich mit edelm Unwillen gegen die beispiellose Behandlung der italienischen Völker erklärt, gegen ihre anhaltende Beraubung, Isolierung, und gegen ihre Herabwürdigung durch verhaßte Prokonsuls. Man hatte ihm unumschränkte Vollmacht über seine Armee verheißen, und von dem Tage seiner Ankunft an arbeitete ihm Furcht, Neid und Eifersucht aus Paris entgegen. Da man ihn selbst nicht anzugreifen wagte, so wurden die Pfeile gegen die Personen abgedrückt, die ihn umringten. Man verlangte Suchets Entfernung, den er als seinen Chef vom Generalstab für unentbehrlich hielt, dem er sein Zutrauen geschenkt hatte, und dessen Wert er besser beurteilen konnte, als dieses Direktorium auf seinen weichen Polstern im unseligen Palaste von Luxembourg. »Ich verlasse«, sagte er mir, »die Armee in einem Zustande, dem die Russen und Österreicher in mehreren Monaten noch nicht gewachsen sein können. Wenn einst die Zeit der Gefahr kommen sollte, bin ich bereit, jedem Rufe zu folgen; jetzt trete ich mit der Überzeugung zurück, daß ein Land wie Frankreich Männer genug besitze, die noch bessere Dienste denn ich zu leisten vermögen; anders zu denken wäre unverzeihliche Eitelkeit.« – Zu Reggio sagte er mir dies; dort sah ich ihn zum letztenmal, den großen Unvergeßlichen. – Am Tage der Schlacht von Novi hat er Wort gehalten. Auf den Ruf des bedrängten Vaterlandes war er dem Grabe entgegengeeilt, und der Tag seines Heldentodes war für die Feinde ein Sieg, blutig wie die blutigste Niederlage! – An dem Tage der Schlacht bei Novi floh der Genius der Freiheit von Frankreich.

 

Als Sièyes ins Direktorium eingetreten war, berief er Reinhard zum Ministerium nach Paris. Dieser reiste nun in Begleitung meines Bruders dahin zurück, und zwar zur See; denn seine Gattin fürchtete die Landreise.

Auf dieser Fahrt schiffte in kleiner Ferne ein englisches Schiff an ihnen vorüber. Hier beging mein Bruder in seinem fanatischen Hasse gegen die Engländer die Tollkühnheit, daß er beim Anblick der englischen Flagge sogleich in den Schiffsraum eilte und, ohne gegen irgend jemand etwas zu erwähnen, eine Kanone gegen das Schiff richtete, anzündete und die Kugel über die Flagge hinjagte.

Dieser jugendliche Übermut brachte nicht nur dem Gesandten vielen Verdruß (denn es war, wenn ich nicht irre, Waffenstillstand zwischen Frankreich und England), sondern zog auch meinem Bruder eine Disziplinarstrafe zu.

In Toulon mußten sie Quarantäne halten, in deren Ruhe mein unruhiger Bruder oft verzweifeln wollte. Er schlug am Gestade des Meeres ein großes Zelt auf, in dem er zum Zeitvertreib Schauspiele und andere Festlichkeiten veranstaltete. In demselben Jahr wurde er von Reinhard von Paris nach Holland zu Brune ins Hauptquartier mit Aufträgen geschickt, wo er in seiner Lebendigkeit auch noch persönlich an einem Treffen der Franzosen gegen die Russen und Engländer, das während seiner Anwesenheit vorfiel, teilnahm und eine Verwundung durch eine Musketenkugel im Arm davontrug. Er hätte aber hier sein Leben noch auf eine andere Weise einbüßen können; denn als er nach seinem vollendeten Auftrage den kürzern Weg (die Kugel noch im Arme) zurückzunehmen gedachte, wäre er beinahe in den Dünen versunken.

Noch waren ihm in diesem und früheren Jahren mehrere Sendungen übertragen worden. Auf einem Blatte, das von seiner Hand beschrieben ist, finden sich noch flüchtige Notizen, aber ohne Jahrzahl; zum Exempel »Erste und zweite Reise nach Bremen ohne weitere Bemerkung.« – »Kongreß von Hildesheim, wohin Reinhard mich sandte.« »Meine Sendung nach Berlin«, und hierbei steht:

»Unmittelbar nach Katharinas Tode sollte ich nach Rußland. Kaufleute von Hamburg interessierten sich dabei. Freier Verkehr zwischen russischen und französischen Häfen, durch Hanseaten betrieben, sollte der erste Schritt zur Versöhnung oder Annäherung zwischen Rußland und Frankreich werden.«

Mein Bruder Louis und der Aufstand in Knittlingen

Während meine Brüder Georg und Carl in dieser Zeit vielseitiger Bewegung und Aufregung den Weg der Gefahr gingen, weilte mein Bruder Louis teils im Breisgau teils in Württemberg als Pfarrvikar. Mit dem Älterwerden hatte sich in ihm das republikanische Feuer gelegt. Es war bei ihm auch nur ein Strohfeuer; in meinem Bruder Georg, bei dem es ein echtes war, erlosch es bis zum Tode nicht.

Ungefähr um die Zeit unserer Rückkehr nach Ludwigsburg (1800) war mein Bruder Louis geistlicher Vikar in jenem Knittlingen bei Maulbronn. Ein vom Rhein heraufgekommener französischer Chasseur, der aber ein Württemberger, namens Schwarz, von Osweil bei Ludwigsburg war, hatte revolutionäre Ideen unter die Bürger jenes Städtchens gebracht, hielt mit ihnen Zusammenkünfte in den Wirtshäusern, wo Reden gehalten wurden und die Republik auch für Württemberg ausgerufen werden sollte. Der Nachfolger meines Vaters zu Maulbronn, Oberamtmann Seubert, der sich zu Beschwichtigung der revolutionären Köpfe an Ort und Stelle begab, mußte sich nach einer an die Bürgerschaft gehaltenen Rede flüchtig machen; denn die Knittlinger fielen ihn mit Knitteln an, und er rettete sich nur noch in Bauernkleidung nachts mit einer Laterne durch die Wälder ins Kloster Maulbronn zurück.

Auf einmal aber erschien der Herzog selbst in Knittlingen mit militärischer Begleitung, besprach das aufrührerische Volk und legte den Sturm bald durch seine imposante Gestalt und Rede.

Meine Mutter war diese Zeit hindurch untröstlich, denn sie glaubte nichts anders, als es werde ihr guter, armer Louis auch Anteil an dieser revolutionären Bewegung haben und könne stündlich in Ketten auf die Feste Asperg geführt werden; allein sie kannte ihn nicht genug. Er war auch auf dem Platze, auf dem der Herzog zu dem Volke sprach, an dessen Aufstand er übrigens nicht den geringsten Anteil hatte; er stand nahe bei dem Herzog, aber je kräftiger, donnernder dieser sprach, je mehr zog er sich in der Stille zurück bis in seine Studierstube, wo er für den morgigen Sonntag sich eine sehr salbungsreiche Predigt nach dem Texte: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« einstudierte.

Bald darauf kam er auf den Asperg, aber nicht als Revolutionär, sondern als Garnisonprediger.

Mein Bruder Carl und die Arretierungen in Ludwigsburg

Fast um die gleiche Zeit kam meine gute Mutter in einen ähnlichen und beinahe noch größeren Jammer durch meinen gar nicht revolutionären Bruder Carl.

Es wurden damals mehrere Württemberger, selbst Freunde meines Bruders, zum Exempel ein Konsulent Bonz in Ludwigsburg, ein Lieutenant Pinasse, Landschaftskonsulent Batz, Hauptmann Bauer, der als geschätzter General im baierischen Generalstabe starb und sich auch als militärischer Schriftsteller bekanntgemacht hatte, ferner Sekretär Hauff (Neffe meiner Mutter, Vater des Dichters) und mehrere andere, auf herzoglichen Befehl in der Nacht aufgehoben und auf die Feste Asperg abgeführt. Das österreichische Armee-Kommando in Württemberg hatte sie angegeben. Man hatte sie im Verdachte, in sträfliche Verbindungen mit den Franzosen zur Errichtung einer deutschen Republik getreten zu sein. Es wurde eine Staatskommission auf der Feste niedergesetzt, die die Gefangenen zu verhören hatte. Einer dieser, ein sehr feiger und schlechter Charakter, glaubte sich seine Sache zu erleichtern, wenn er auch vom Herzog sehr treu geglaubte Offiziere darein verwickelte, und so suchte er meinen Bruder auch schon durch die republikanischen Gesinnungen seines älteren Bruders, die dem Herzoge nur zu bekannt waren, zu verdächtigen. So kam es, daß mein Bruder eines Morgens auf einmal durch seinen Vorgesetzten, den General Kammerer, die Weisung erhielt, sich mit ihm auf Befehl des Herzogs sogleich auf die Feste Asperg zu begeben, um dort vor besagter Kommission ein Verhör zu erstehen. Man glaubte aber höhern Ortes so wenig an seine Schuld, daß ihm auch nicht einmal der Degen abgenommen wurde, er reiste mit seinem General wie zu einem Geschäfte im Dienste nach der Feste Asperg ab.

Welch Herzeleid aber meine Mutter empfand, ist wohl zu erachten; auch wir Geschwister brachen in Klagen und Weinen aus.

Es hatte sich in Ludwigsburg unter den Familien eine allgemeine Angst verbreitet, und wer nur in etwas kein gutes Gewissen hatte, brachte die etwa verdächtig sein könnenden Papiere und Bücher auf die Seite, und Hunderte, die sich gegen die politischen Verhältnisse geäußert, erwarteten ihre Abführung auf die Feste.

Mein Bruder aber war an demselben Tage abends schon wieder von der Feste zurück, es konnte ihm nicht die mindeste Schuld beigemessen werden, und selbst bei einer Audienz, die er sogleich darauf beim Herzog begehrte, und in welcher er sich über den Vorfall beschwerte und nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit forderte, wurde ihm alle Genugtuung.

Unser Vetter Hauff, auch Bonz wurden bald vom Asperg entlassen, und es erstreckte sich die Zahl der gefangen gebliebenen nur noch auf sechs; denn es beruhte die Verhaftung bei einzelnen nur auf solchen Denunziationen und ungegründetem Verdachte, und die Persönlichkeit der gefangen gebliebenen war gar nicht derart, daß von ihnen eine Staatsumwälzung und Errichtung einer deutschen Republik zu erwarten gewesen wäre. Nur einem derselben, dem Landschaftskonsulenten Batz, ging es sehr übel; er wurde von den Österreichern lange herumgeschleppt, auf eine österreichische Festung gebracht und, wenn ich nicht irre, erst nach Jahren wieder in Freiheit gesetzt.

Hegels Schwester

Die Nichte meiner Mutter, die Gattin des Sekretärs Hauff, der dazumal zu Stuttgart seinen Wohnsitz hatte, kam in dieser Zeit oft in unser Haus, um ihrem auf dem Asperg gefangenen Gatten näher zu sein; auch hatte sie eine Freundin in Ludwigsburg, die gutmütig und entschlossen genug war, ihr Briefe an ihren Mann auf der Feste zu besorgen. Diese Freundin kleidete sich in Magdkleider, brachte die Briefe in ein Gefäß mit doppeltem Boden, in dem man den Gefangenen, was erlaubt war, gekochtes Obst, Gelée usw. zusandte, das sie zu Fuß dann auf die Feste trug und gut an Mann brachte.

Diese Person war die Schwester des berühmten Philosophen Hegel, damals als Gouvernantin bei dem Landvogte Grafen von Berlichingen in Ludwigsburg angestellt. Sie war schon eine ziemlich bejahrte Jungfer, ungemein mager, bleich, mit glänzenden Augen und großer Lebendigkeit, sowie von ausnehmender Güte.

Ihre Gefälligkeit kam auch in anderer Weise oft auf die Probe, häufig dadurch, daß sie die eiserne Hand des alten Götz von Berlichingen unter ihrer Verwahrung hatte, die bald in jenes, bald in dieses Haus zur Betrachtung für Einheimische und Fremde gewünscht wurde, und die sie immer gefällig selbst brachte und erklärte.

Die Arme aber verfiel nach und nach in Geisteskrankheit und bekam die fixe Idee: sie sei ein Päckchen, das man auf der Post verschicken wolle, welcher Gedanke des Verschicktwerdens sie immer in die größte Unruhe und Verzweiflung versetzte. Näherte sich ihr ein fremder Mensch, so fing sie an zu zittern, denn sie befürchtete, der komme sie mit Bindfaden zu umwickeln, zu versiegeln und auf die Post zu tragen. Diese Angst steigerte sich in ihr bis zur höchsten Schwermut, in welcher sie einen freiwilligen Tod in den Fluten der Nagold fand.

Schule und Schulkameraden

In Ludwigsburg fing nun für mich ein ernsterer Schulunterricht an.

Es war dort ein strenger aber guter Lehrer der klassischen Sprachen, mit Namen Breitschwerdt, der, soviel als möglich war, alles aufbot, bei mir das früher Versäumte nachzuholen.

Es war ein Mann von steifer militärischer Haltung, in seinen Glanzstiefeln hatte er, wie in einem Köcher, Haselnußstecken verwahrt, mit denen er, zwar mich nicht, aber andere seiner Schüler, oft empfindlich durchschlug. Mit mir schien er, als einem ohne eigene Schuld Vernachlässigten, mehr Mitleiden zu haben.

In dieser Schule waren übrigens viele tüchtige junge Leute, denen ich, weil sie schon größere Fortschritte gemacht hatten, nacheifern mußte.

Ein Knabe, namens Pflüger, der immer einer der ersten in dieser Schule war, ist Drehermeister in Ludwigsburg. Er war sehr stark in Verfertigung von Hexametern und gab mir zu solchen die erste Anweisung.

Ich hatte an den römischen Autoren große Freude. Sallust, Caesar usw. wurden meine Lieblingsbücher, und als ich an die Dichter kam, namentlich an Ovids Verwandlungen, so erwachte in mir auch die Poesie immer mehr, und ich lieferte dem Lehrer häufig meine Übersetzungen in gebundener Sprache. Dabei wurde nun auch Italienisch und Französisch geübt und vieles von Metastasio, Petrarca usw. in Versen übersetzt. Aus dieser Zeit besitze ich noch die »Isola deserta« von Metastasio, von mir in Jamben übertragen. Weniger Fortschritte machte ich in der griechischen Sprache, ob mich gleich die Dichter Griechenlands sehr ansprachen, wobei ich aber immer die Übersetzungen zu Hülfe nahm; namentlich die Vossische Übersetzung beim Homer, die ich mit meiner Schwester Wilhelmine in einem Wäldchen bei Neckarweihingen, wohin wir dazumal im Frühling alle Abende wanderten, mit steigender Begeisterung las.

Es folgten dem bald eigene Nachbildungen und epische Versuche in Hexametern.

Der als Dichter bekannte Philipp Conz war dazumal Diakonus in Ludwigsburg. Er wurde der Beichtvater meiner Mutter und nahm sich meiner Fortschritte nicht nur in den toten, sondern auch in den lebenden Sprachen (namentlich auch im Italienischen) sehr an. Er war die Güte und Naivetät selbst.

Was ich in gebundener Rede verfertigte, brachte ich ihm; aber seine Dichterbildung war eine sehr klassische, und meine unklassischen Versuche veranlaßten ihn nicht, mich zum Dichten aufzumuntern, daher ich auch später, besonders als mich die deutsche Volkspoesie mehr als alles Klassische anzog, alle Verse ihm lieber verbarg.

Mein Bruder Carl mühte sich ab, mir Unterricht in der Mathematik zu geben; aber er konnte mich hier nicht weiter als zur sogenannten Eselsbrücke, dem pythagoreischen Lehrsatze, bringen.

Er sagte oft zu mir: »Den allerdümmsten meiner Artilleristen kann ich in diesem Wissen weiter bringen als dich.« Man mußte den Unterricht aufgeben, denn ich war und blieb für die Mathematik durchaus vernagelt.

In die damalige unschöne Literatur arbeitete ich mich durch die reichlich mit Cramerschen, Spießischen, Lafontaineschen usw. Schriften versehene Lesebibliothek des Herrn Antiquar Nasts ein, welcher oft selbst die Auswahl leitete, damit nichts Verderbliches ins junge Blut übergehe; aber je abenteuerlicher Titel und Inhalt dieser Bücher waren, desto mehr drang ich in ihn, sie mir abzugeben.

Dagegen sorgte mir Conz für Schillers neueste Tragödien, für Klopstocks, Höltys, Mathissons, Salis Gedichte; Goethes Werke lernte ich erst etwas später kennen.

Mein Bruder Carl war ein großer Verehrer von Seume, dessen Gedicht an Münchhausen:

»Freund trinkst du einst an
Deutschlands schönem Rheine« usw.

er immer im Munde führte; daß ich nun Seumes Gedichte auch mit Liebe las und Nachbildungen versuchte, konnte nicht fehlen.

In ästhetischen Dingen folgte ich in früher Jugend zu sehr oft fremdem Urteile und Dafürhalten. Ich stand auch zu gern jedem nach, wobei auch immer das Gefühl in mir vorherrschend war, ich würde einen andern betrüben, und betrüben wollte ich nie einen Menschen. So gab ich auch damals in ästhetischen Urteilen meinem Bruder Carl gerne nach, obgleich die Poesie seine schwache Seite so wie meine die Mathematik war.

Ich fand, daß oft gerade ein Dichter, der mir nicht zusagte, außerordentlich gepriesen wurde, und dies machte mich dann oft an mir selbst irre.

Anwesenheit der Franzosen und meines Bruders Georg in Ludwigsburg

Viele Zerstreuung gewährte jetzt auch in Ludwigsburg, besonders der Jugend, der Einzug und die Beherbergung vieler französischen Truppen. Im Frühling 1801 musterte Moreau auf dem Felde neben dem Salon und den Alleen der Solitüde die 46. und 57. Halbbrigade, die dort unter dem Kommando des Generals Grandjean aufgestellt waren. Jene hieß in der Armee die tapfere (la brave), diese die fürchterliche (la terrible).

Die 46ste, eines der schönsten Korps in der damaligen französischen Armee, führte das Herz des durch den Lanzenstoß eines österreichischen Ulanen bei Neuburg a. D. gefallenen ersten Grenadiers, Latour d'Auvergne, mit sich in einer goldenen Kapsel an der Fahne des ersten Bataillons angeheftet und mit einem schwarzen Flor umhängt, um es nach Frankreich zu bringen, wo es im Pantheon bewahrt werden sollte. Auf dem Flor war ein Herz in Gold gestickt, durch das eine Lanze ging. Sooft die Grenadiere des ersten Bataillons verlesen wurden, so ward auch Latours Name durch den Sergeantmajor zuerst aufgerufen, worauf der in der Linie zuerst stehende Grenadier antwortete: »Il est mort au champ d'honneur.« Diesen Ruf hörte ich damals manchmal auf dem Marktplatze in Ludwigsburg, wo die Kompanie aufgestellt war.

Moreau war bei seiner Musterung in Ludwigsburg von seiner Gemahlin und einem großen Gefolge begleitet. Nach der Musterung gingen sie im Schlosse, in den Gärten und in der Favorite umher, wo der General an dem Springbrunnen scherzhaft seine Frau zu bespritzen suchte, während sie in leichten Sprüngen auswich. Es war eine nette, freundliche, mehr kleine als große Frau in einfachem weißem Kleide. Als sie von der Parade zurück in das Schloß gingen, bestiegen sie nicht die Treppen, sondern kletterten an der Terrasse hinauf, schnurgerade gegen das alte Schloß. Moreau war anfänglich ein paar Schritte vor seiner Frau voraus, welche aber in der Mitte der Höhe Kraft und Mut verlor und nicht mehr weiter konnte. Da kam ein großer plumper Kerl mit rotem Kopfe und hervorstechenden Augen, der Gartenportier M., die Terrasse im Eilschritt herab auf die zierliche Frau zu und wollte ihre Hand ergreifen, um sie emporzuziehen, aber als sie ihm ihre Hand entzog, wollte er sie gar auf seine Arme heben und machte dazu ganz komische Gestikulationen, bis Moreau die Verlegenheit seiner Frau bemerkte und ihr nun selbst die Hand reichte.

Wie in Maulbronn einen französischen Chasseur, so hatte ich mir jetzt bald einen französischen Grenadier zum Freunde erwählt, an dem ich bald mit großer Liebe hing und den ich überall aufsuchte.

Einst vermißte ich ihn zwei Tage lang und fragte und suchte nach ihm vergebens, als ich ihn endlich in einem Biergarten völlig besoffen liegend fand; da wurde mir dieser Sohn der Freiheit auf einmal zum Ekel, ich wandte mich von ihm und sah ihn nie wieder.

Mein Bruder Georg hatte im Jahre 1800–1801, als Sekretär der französischen Gesandtschaft, den Gesandten Reinhard in die Schweiz begleitet, von wo aus er öfters wieder zu diplomatischen Versendungen nach Italien gebraucht wurde. Bei einer kurzen Versendung nach Mailand fügte es der Zufall, daß er mit der französischen Armee zugleich über den Bernhard ging. Er konnte nie genug die Großartigkeit dieses Zuges beschreiben, in welchem vierzigtausend Mann über Höhen und Abgründe dahinzogen, und die Schwierigkeiten, die sie beim Transporte des Geschützes zu überwinden hatten. Noch ergreifender aber sei für ihn acht Tage später die tiefe Einsamkeit dieser Gegend gewesen, als er durch sie wieder seinen Rückweg nahm.

An meiner Erziehung nahm mein Bruder Georg auch von der Ferne aus Anteil und er drang in seinen Briefen an die Mutter immer darauf, mich mehr für den freien Stand eines Gewerbsmannes als eines Gelehrten oder Beamten ausbilden zu lassen.

Selbst wenn ich mich auch für einen der letztern Stände entscheiden sollte, meinte er, wäre es immer gut, ich würde dabei auch noch ein Handwerk lernen.

Zu unserer großen Freude kam er im Jahre 1801 von der Schweiz aus noch selbst nach Ludwigsburg, und da war es, wo er die Seinigen (mich ausgenommen) zum letztenmale sah. Schon am ersten Tage seiner Ankunft wurde ich von ihm bei einem Schreinermeister installiert, der mir täglich zwei Stunden Unterricht in seiner Kunst geben sollte; auch bezahlte er ihn dafür auf mehrere Monate voraus. Es konnte mir dies nur Unterhaltung und Freude gewähren; Hobeln und Sägen, so schwer es mir anfänglich fiel und oft stark verwundete Hände verursachte, ging doch bald gut vonstatten, und mein Lehrherr Bickelmann (so hieß der Schreinermeister) ließ mich bald wenigstens die gröbsten Möbel allein verfertigen, und diese waren die Särge, deren ich sehr viele schuf. In spätern Jahren fielen sie mir bei den Leichen meiner ärztlichen Praxis oft ein.

Meinem väterlichen Lehrer Conz konnte ich bald durch meine Kunst eine Freundlichkeit erweisen; sein lebhafter, lieber Knabe Eduard, von dem unten die Rede ist, derselbe, der vom Teufel nichts erfahren sollte, starb, und ich machte ihm den Sarg. Der Tisch, auf dem ich noch speise, wurde um jene Zeit auch von mir verfertigt. Noch auf eine andere Kunst brachte mich mein Bruder Georg, auf das Spiel der Maultrommel. Es war sein Lieblingsspiel, und er hinterließ mir einige seiner kleinen Instrumente. Von da an übte ich mich auf der Maultrommel und brachte es auf diesem Instrumente so weit, daß ich auf demselben eigentümliche Töne und Weisen fand, womit ich durch mein ganzes nachfolgendes Leben Hunderte von Menschen und mich selbst am meisten erfreute. Ich brachte es so weit, daß ich mein tiefstes Innere, mein ganzes Gemüt, meinen Kummer, jeden leisen ungeborenen Seufzer in die Töne dieses Instrumentes legen und in ihnen ausdrücken konnte. Es klang bei mir nicht wie die Weisen der Tyroler, nicht zitherartig, mehr wie die Töne einer Äolsharfe, die vor allen den tiefen Schmerz, der in der Natur liegt, ausdrücken. So konnte ich, wie die Natur in die Saiten der Äolsharfe, in die Zunge dieses Instrumentes all die Trauer meines Herzens legen.

Ich machte die Beobachtung, daß die Töne der Äolsharfe vor und bei einem Regen am ergreifendsten, schmerzvollsten sind, und so waren es auch die Töne meiner Maultrommel in den Stunden der Tränen, in stiller Nacht, mit mir allein.

Wie vielen Dank mußte ich dafür meinem Bruder Georg wissen, der dieses Instrument, freilich in andern Tönen, aber auch in denen seines Innern spielte: Kriegsmärsche und Lieder der Freiheit, in Klängen einer Zither der freien Höhen Tyrols.

Auch für einen Künstler, der mir und meiner Schwester Wilhelmine im Malen Unterricht geben sollte, sorgte mein Bruder Georg. Er hieß Hofmann und war ein armer Teufel, der sich mehr mit Anstreichen als mit Malen beschäftigte. Es war eine kleine dürre Figur und hatte ein Haar, das wie ein Malerpinsel in die Höhe stand, auch mit allerhand Farben versehen war; denn er wischte Finger und Pinsel während des Malens geschwind in den Haaren ab. Da das Anstreichen seine Hauptforce war, so ließ er uns auch bald in Öl malen und wählte dazu als Originale kleine Kopien von Harper usw., die dann besonders ich in ungeheurer Vergrößerung wiedergeben mußte. Zwei solcher großen, von mir in damaliger Zeit gemalten, wahnsinnigen Ölstücke, Landschaften, gerieten ominöserweise in das Irrenhaus nach Winnenthal, wo sie sich noch befinden.

Zu diesen Gemälden, von denen eine Menge entstanden, die wir meistens sogleich an Freunde und Verwandte verschenkten, machte ich in meiner Werkstätte bei Schreiner Bickelmann die Rahmen, die ich nach damaliger Mode oft sogar mit Messingstäbchen verschönerte. Auch meine Schreinersarbeiten wurden immer bald verschenkt; denn mich konnte nur etwas freuen, was ich andern geben konnte, und da meine Mutter ebenso fühlte, so verhinderte sie es nie.

Meine Malerkunst gebrauchte ich auch öfters dazu, um meinen strengen Professor Breitschwerdt, wenn er meine schlechtgelieferten Aufgaben durchlesen, an ihrem Ende noch etwas zu besänftigen. Ich machte zu diesem Zweck an ihr Ende ein kleines Landschäftchen, eine Burg, eine Mondbeleuchtung, und suchte ihm doch irgend eine Fertigkeit von mir vors Gemüt zu stellen. Er war aber hier billig, was sich in einem andern Falle zeigte. Er bekam einen jungen Menschen, er hieß Liomin, in Kost und Unterricht, der älter als wir alle war, aber weit unter uns in Hinsicht auf die toten Sprachen stand. Dagegen war er schon ein ausgezeichneter Klavierspieler. Diesen stellte er uns vor und sagte: »Ihr dürft diesen nicht verachten, weil er euch in den Sprachkenntnissen noch sehr nachsteht, ihr sollt wissen, daß er schon ein guter Klavierspieler ist, was ihr nicht seid!«

Knabenspiele im Winter

Ludwigsburg hatte damals noch keine Turnanstalt, aber der weite Marktplatz und die vielen Alleen gaben Raum genug zu sich selbst findenden Spielen und Leibesübungen der Jugend, und Winterszeit bot der große Stadtsee eine schöne Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen. Da war dieser See ein glänzender Belustigungsplatz für alle Stände; und noch erinnere ich mich eines jungen Mannes aus Philadelphia, ich meine, er hieß Gebhardt, der zum Besuche von Verwandten nach Ludwigsburg gekommen war, der sich durch seine Kunst im Schlittschuhlaufen (Klopstocks und Uhlands Lieblingsunterhaltung) damals vor allen auszeichnete: denn er bildete in seinem Laufe nach Willkür die schönsten geometrischen Figuren, Ringe, Triangel, Oblonga, und diese wieder zu Arabesken und Blumenformen verschlungen, im Eise.

Aber auch die Abhänge in den Alleen und die abschüssigen Straßen der Stadt lockten die Knaben vielseitig zu Fahrten auf Bergschlitten bis in die späte Nacht, oft noch im Mondenscheine, an.

Die abschüssige Straße, die von dem Holzmarkte bis zu dem Tor des Schloßgartens über die Chaussee, die nach Stuttgart führt, hinläuft, und die der Kaffeeberg heißt, war damals jeden Winter bei guter Schneebahn ein Tummelplatz von Hunderten von Knaben auf Bergschlitten, die im unaufhaltsamen Laufe, wurden sie einmal oben am Holzmarkte angesetzt, bis vor das Tor und die Schildwache am Schloßgarten hinabschossen. In einem solchen Schusse war ich eines Abends auch einmal hier auf einem Bergschlitten begriffen, als ich zu meinem Schrecken auf einmal einen Herrn in steifester Hofkleidung mit Orden, Degen und seidenen Strümpfen, dem mein Schlitten unaufhaltsam zwischen die Füße gefahren war, auf meinen Schoß auf den Schlitten bekam und mit ihm so noch eine gute Strecke bis zum Tore des Schloßgartens zur Ergötzung vieler Zuschauenden hinabschoß. Der Herr war, am Ziele angekommen, nicht weniger erstaunt als ich. Es war der damalige Hofmarschall von Bär, ein zu gutmütiger Mann, als daß die Sache weitere Folgen gehabt hätte; nur wurden von dort an diese Fahrten den Kaffeeberg herab verboten.

Die Camera obscura im Mondenscheine

Der Vater meiner Freunde Burnitz war Schloßkastellan und hatte seine Wohnung im Corps de Logis des Schlosses, nicht weit von den Zimmern, in denen man den Herzog Karl Alexander eines unnatürlichen Todes sterben ließ, und auch nicht weit von der fürstlichen Gruft. Es war diese Gegend des Schlosses, wie ich schon erwähnte, noch zu Zeiten des Herzogs Ludwig der Platz unserer kindischen kriegerischen Spiele. Er hatte auch durch seine Stille und durch seine Geistersagen etwas Mysteriöses, Poetisches (das ihm wohl in neuerer Zeit durch die Einlogierung der Kreisregierung genommen worden sein mag). Auch damals wurde ich oft durch meine Freunde Burnitz dahingezogen. Sie hatten eine große tragbare Camera obscura, die da unser Lieblingsspiel war. Es war am Corps de Logis ein Plateau, das in die Gegend von Marbach und an das sogenannte Favoritenwäldchen mit seinem Schlößchen sah. Auf dieses trugen wir gemeiniglich die Camera obscura und unterhielten uns mit den Bildern, dem Favoritschlößchen, der Emichsburg und den Steinbildern auf den Dächern des Schlosses, die sich ihr präsentierten. Einmal glaubten wir, es könne dies auch im Mondenscheine geschehen und würde da noch wundersamer sein. Nicht ohne Zagen trugen wir daher einmal die Camera obscura in die Mondnacht hinaus und setzten sie auf das Plateau des Schlosses nicht weit von der Gruft. Wir wagten lange nicht hineinzusehen, faßten aber endlich den Mut, lüfteten den Vorhang und sahen hinein; aber in demselben Augenblicke packte uns ein Schauer, wir ergriffen die Flucht, und jeder meinte etwas Entsetzliches gesehen zu haben.

Der Dichter Conz

Nun kam die Zeit meiner Konfirmation. Conz hatte mir den Religionsunterricht erteilt. Er ließ uns in demselben neben mündlichem Unterricht auch religiöse Aufsätze ausarbeiten, aber es war ihm bei diesen um eine schöne Stilisierung mehr zu tun als um den religiösen Inhalt.

Ein Theologe war er nicht, ob er gleich in der Stadtkirche zu predigen hatte, bei welchem Predigen aber der Übelstand war, daß er sehr undeutlich sprach. Er war von sehr fetter Leibeskonstitution und tat die Pfeife nur ungern, um zu sprechen, aus dem Munde. Seine Hauptstärke war die Philologie, und seine Gedichte trugen neben großer Korrektheit doch oft sehr die Farben und Töne der verschiedensten Dichter des Altertums und der Neuzeit, die er emsig las und vielfach kritisierte, an sich. Es war ein kindlicher Mensch, voll Herzensgüte und Naivetät. Er lebte immer in seiner Gedankenwelt, so daß es ihm oft geschehen konnte, an den einen Fuß einen Stiefel, an den andern einen Schuh anzuziehen. Sein häufigster Umgang war der Freund Schillers, Herr von Hoven, der auch mit ihm die gleichen politischen Gesinnungen hegte.

Dieser erzählt von ihm in seiner Lebensgeschichte eine Anekdote, die ihn sehr charakterisiert: »Als Conz als Diakonus nach Ludwigsburg kam, hatte er nur ein einziges Kind, einen Knaben von fünf Jahren. Diesen Knaben zu einem vollkommen vorurteilslosen Menschen zu erziehen, war sein Hauptaugenmerk, und seine größte Sorge war, daß ihm über keinen Gegenstand falsche Begriffe beigebracht werden sollten, und besonders sollte er nie von dem Teufel etwas hören. Ich sagte ihm, daß dies unmöglich sei, und was insbesondere den Teufel betreffe, so dürfe er den Knaben nie aus dem Hause lassen, weil es täglich geschehen könnte, daß er auf der Straße den einen zu dem andern sagen höre: ›Der Teufel solle ihn holen.‹ Conz beharrte auf seinem Grundsatz, und als wir eines Tages wieder über dieses Thema sprachen, sprang der Knabe in das Zimmer und rief: ›Vater, ich habe den Teufel gesehen!‹ – ›Was? wo?‹ rief ihm der Vater entgegen. ›In einem Buche‹, erwiderte der Knabe; ›aber der hat Hörner, größer als ein Bock, und einen Schwanz, länger als eine Kuh!‹ Der Vater war so erstaunt, als ob der Knabe den Teufel leibhaftig gesehen hätte; ich konnte das Lachen nicht halten und sagte: ›Da sehen Sie, Freund, was das Hüten und Bewahren hilft, jetzt hat Ihr Eduard den wahren Begriff von dem Teufel.‹«

Conz war nur in seiner literarischen Welt zu Hause, in der gemeinen war er ein Fremdling, und weil er glaubte, alle Menschen seien so gut und kindlich wie er, so verging selten ein Tag, wo er sich nicht in der guten Meinung von den Menschen betrogen sah. In religiöser Hinsicht schien damals Conz nur den Glauben seiner römischen und griechischen Klassiker zu haben und in ihm erst im späteren Leben das christliche Bewußtsein zu erwachen. Da sah man ihn, statt wie früher mit Ovids Verwandlungen oder dem Anakreon in der Hand, nur mit dem griechischen Neuen Testament in seinem Garten gehen.

Die Zeit meiner Konfirmation

Auch in mir war der christliche Glaube leider nicht stark geworden, und die kurze Antwort auf die kurze einzige, auf mich zufällig gefallene, Frage in der Kirche bei der feierlichen Konfirmationshandlung:

»Welches Glaubens bist du?« Antwort: »Ich bin ein Christ!« strafte mich Lügen; denn ich war noch gar kein Christ. Dennoch war ich nicht ohne Glauben. Ich glaubte an keine Vernichtung nach dem Tode, sondern an eine pythagoräische Seelenwanderung, die sich mir auch auf die Tiere, da ich sie so sehr liebte, erstreckte. Meine Beobachtung der Verwandlung der Insekten und das Lesen der Schriften dieser alten Philosophen brachte mich darauf.

Die größte Angelegenheit aber war mir, daß ich zur Konfirmationshandlung einen Frack anziehen sollte. Ich hatte in meinem Leben bisher noch nie einen Frack getragen und ich tat es auch jetzt durchaus nicht, obgleich meine Mutter, um mich zu zwingen, ihren Kriegsvogt, meinen Oheim, den Landschaftskonsulenten Kerner, zu Hülfe zog. Es fruchtete nichts, ich kam zu dem feierlichen Akte in einem Überrock, zum Erstaunen der Stadt Ludwigsburg, in die Kirche.

Zum Glücke war der orthodoxe Spezial Zilling gestorben; denn dieser hätte mich ohne Frack und schwarzes Mäntelchen nicht konfirmiert.

Nun kam bald zur Sprache, was aus mir zu machen sei. Meine Mutter hatte sich ihres kleiner gewordenen Vermögens wegen sehr einzuschränken, schon drei der Brüder hatten den Eltern durch höheres Studium große Kosten verursacht; da kam der Pfleger meiner Mutter (der Amtsschreiber Heuglin) in aller Liebe auf den sinnigen Einfall, man solle einen Konditor aus mir machen, dieses Geschäft sei sehr profitabel, und da ich zeichnen und malen und auch Reime machen könne, so würde ich mich bald in Verfertigung und Erfindung von Bonbons und Zuckerfigürchen auszeichnen, welche der Konditor Bechtlin, so gut er für mich als Lehrer wäre, wegen seiner theosophischen Grübeleien bisher sehr vernachlässigt habe.

Dies sprach er meiner guten Mutter so lange vor, bis sie auch in mich drang, ich solle in diesen Plan eingehen. Voll Jammer wandte ich mich an meinen väterlichen Freund Conz in einem Briefe nach Tübingen (er war inzwischen als Professor der Ästhetik dahin gekommen), und dieser schrieb: »Nein, Konditor sollen Sie mir nicht werden!« Ich bestand auch darauf, es nicht zu werden. Wäre ich auf den Plan eingegangen, so hätte ich wenigstens einen sehr originellen und nichts weniger als prosaischen Lehrherrn erhalten. Man hätte mich nämlich zu dem besagten Konditor Bechtlin in Ludwigsburg getan. Dieser Mann gehörte auch zu den Ludwigsburger Originalen damaliger Zeit. Er hatte sich eine eigene Theosophie geschaffen, sprach immer von dem Durchgange des Menschen durch die vier Elemente und seiner Vollendung durch seine Erweckung ins Licht, von dem Sitze Gottes in der Sonne und seiner Vermählung mit den Planeten, von den Sternen, als den künftigen Sitzen der ins Licht erweckten Menschen, die ihnen von Jesus Christus vermöge seines Quartiermeisteramtes angewiesen worden seien. Vielleicht wäre ich hier früher zu einem theosophischen Glauben gekommen, aber es sollte noch nicht sein.

Ich hatte aber nichts dagegen, als man mir nun den Vorschlag machte, Kaufmann zu werden und mich auf das Comptoir der herzoglichen Tuchfabrik in Ludwigsburg, wo ich dann zugleich auch die Tuchfabrikation erlernen könnte, aufnehmen zu lassen.

Dies war nun ein großer Mißgriff; denn ich taugte zum Kaufmann so wenig als zum Mathematiker, und meine Neigung, lieber zu geben als zu nehmen, befähigte mich auch nicht zum Kaufmanne; aber ich schickte mich besonders deswegen darein, weil ich meiner Mutter keine großen Kosten mehr machen wollte.


 << zurück weiter >>