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Achtes Capitel.

Am anderen Morgen hatten die Gefangenen durch Florentinens kluge Anordnung fast ihre gewöhnliche Zeit des Schlafes genossen und begrüßten erquickt und erfrischt den neuen Tag mit dem Lobe ihres himmlischen Vaters und der Erforschung seines geoffenbarten Willens, welches zu allen Zeiten das erste Geschäft ihres Tages war. Diesen Morgen kam es ihnen vor, als ob die Gefangenen in den benachbarten Zimmern ihrem Beispiele folgten, denn die sanften hellen Stimmen unserer weiblichen Gefangenen hatten kaum aufgehört, als dieselbe feierliche Melodie gleich darauf von stärkeren und tieferen Männerstimmen gesungen wurde, also von Brüdern in einem nahen Gefängniß: dies war Allen so rührend als erfreulich, besonders aber der Lady Arrondale, der es vorkam, als höre sie die Stimme ihres Sohnes unter den Anderen.

Betty Fairley und Isabelle machten sich nach dem Morgengebete ein eifriges Geschäft daraus, das Zimmer aufzuräumen und wußten bald, diesem düstern Aufenthalt ein Aussehn von Ordnung und Reinlichkeit zu geben.

Unter allen den schönen, jungen Gesichtern dort war keines lieblicher, als das der Betty Fairley. Florentine mochte eine regelmäßigere Schönheit sein, Olivia und einige Anderen zartere und feinere Züge haben, aber auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den allein ein Herz, das allen irdischen Dingen entsagt hatte, geben konnte, ein Herz, gestillt und gereinigt durch unablässige Gedanken an die geistliche, ewige Heimath, wohin allein jetzt ihre Hoffnung ging. Und wie sie so lieblich umherging, mit so großer Freundlichkeit jedem Erleichterung verschaffte, dabei doch so ernst, so still und so bescheiden, konnte man sie nicht ohne Bewegung ansehen, und ihre Dienste nicht ohne eigene Demüthigung annehmen. Ihre Tante Alison Guthrie war eine ältliche Frau, etwas unangenehm, von ernstem und verschlossenem, aber höflichem Benehmen; sie hielt sich von den Damen etwas entfernt; wurde sie aber angeredet, so waren ihre Antworten, wenn auch kurz, doch so weise und innig, daß sie ihr Achtung erwarben und den Wunsch erregten, sie näher kennen zu lernen. Zugleich bewies sie, wie wohl sie den Stand der öffentlichen Angelegenheiten und die Personen an ihrer Spitze kannte, indem sie, wenn die Frage aufgeworfen wurde, was der Geheime Rath wohl über sie beschlossen haben möchte, halb mit Bitterkeit, halb mit Schmerz ausdrucksvoll sagte: »wir werden dies ja sehen,« oder: »wir thun immer gut, wenn wir uns auf das Schlimmste gefaßt machen.«

Als Betty und ihre Gefährten die beiden Zimmer in Ordnung gebracht hatten, begaben sie sich in die kleine hintere Stube, wohin auch Alison Guthrie kam. Isabelle, ein junges, munteres Landmädchen, stellte sich ans Fenster, um den ihr neuen Anblick einer lebhaften Straße zu genießen und in dem anderen Gefängnisse waren einige der Jüngeren bald eben so beschäftigt. Aber Betty und ihre Tante hatten sich zurückgezogen und waren wieder mit ihren Bibeln beschäftigt, denn Betty war hungrig nach dem Worte des Lebens und schöpfte mit Freuden immer tiefer aus seinem nie versiegenden Wasser. Und die Art, wie ihre Tante die Bibel studirte, Vers für Vers, als ihr einziges Unterpfand für die ewige Seligkeit, ließ sie bei jedem anderen noch so feierlichen, innigen Vorlesen derselben unbefriedigt bleiben. Als der Schließer zur gewöhnlichen Stunde kam, um den Gefangenen das Frühstück bringen zu lassen, erwarteten Mrs. Leslie und ihre Freundinnen, jedoch vergeblich, Einiges über ihr künftiges Schicksal von ihm zu erfahren.

»Wir werden doch gewiß heute freigelassen werden.«

»Ich habe keine neuen Befehle, meine Damen.«

»Sie werden wenigstens heute doch unsre Freunde zu uns lassen?«

»Das darf ich nicht ohne ausdrückliche Erlaubniß.«

»Sie werden doch wohl einige Zeilen von mir an meinen Sohn besorgen,« sagte die Lady Arrondale, »ich will sie Ihnen offen geben, wenn es sein muß.«

»Das darf ich nicht, mir ist streng eingeschärft worden, Mittheilungen irgend einer Art nicht zu dulden. Mit Ungehorsam kann ich mein Leben aufs Spiel setzen.«

»Wie lange haben Sie hier wohl jemals schon Damen gefangen sitzen gesehn?«

»O manchmal eine lange Zeit.«

»Aber wenn sie nun die Strafen bezahlen, die ihnen auferlegt worden sind?«

»Das hilft nicht immer.«

»Nein, nein, er hat Recht,« sagte Mrs. Leslie zu Lady Arrondale, die diese Fragen gethan hatte. »Die Lady Cavers ist beinahe zwei Jahre im Gefängnisse gewesen und ihre Familien ohne Haupt, der Vater todt, der älteste Bruder im Auslande.«

»Ach die ist hier,« sagte der Schließer.

»Und ist doch wohl, hoffe ich?« fragte Mrs. Ednam.

»Sie ist eine Frau von gewaltigem Muthe,« erwiderte der Schließer, »nichts kann sie beugen, sonst wäre sie längst schon frei geworden. Wenn sie vom Geheimen Rathe Abgeordnete an sie schicken, dann kommen die aus ihrem Gefängnisse wieder heraus, als hätten sie selbst vor dem Geheimen Rathe gestanden und seien mit der Tortur bedroht worden. Einstmals wurde sie beredet, eine Bittschrift für ihre Kinder bei dem Geheimen Rath einzureichen, sie war aber so voll Strafreden, daß sie ihr mehr Uebeles als Gutes thaten. Sie sollten sich das ein warnendes Beispiel sein lassen, meine Damen.« Mit diesen Worten entfernte sich der Schließer.

Dieser Tag ging hin und noch einer, es verging eine ganze Woche und es verminderte sich nichts in der Lage der Gefangenen. Die jungen Leute fingen an, ganz blaß auszusehen, wegen des Mangels an Bewegung und der Enge des Raumes, in welchem so viele wohnten, und die älteren wurden ganz krank, weil ihnen ihre Ruhe und Bequemlichkeiten fehlten, denn sie konnten bald des Nachts gar nicht mehr schlafen wegen der schlechten Anstalten und des Mangels an Betten.

Am zehnten Tage ihrer Gefangenschaft trat ein Beamter des Geheimen Raths hinein und citirte die Lady Dalcluden, die Lady Graden, Mrs. Ednam und ihre Nichte Catharine Pringle an einem noch zu bestimmenden Tage vor dem Geheimen Rathe zu erscheinen, bis wohin sie aber noch gefangen bleiben sollten; die andern Gefangenen sollten aber sogleich in Freiheit gesetzt werden.

»Gott sei Dank!« rief Mrs. Leslie, als der Beamte hinaus war. »Sie, meine theure Mrs. Colville, sind in diese Citation nicht mit eingeschlossen. Sie werden nun meinen lieben Kindern eine Mutter sein.«

»Schon bei jeder anderen Gelegenheit würde es mir Freude gemacht haben, Torriswood auf diese Weise meine Dankbarkeit zu bezeugen,« erwiderte die Lady Arrondale mit Wärme.

»Wir können die Gelegenheiten uns nicht auswählen, meine theure Freundin. Wie schwer hätte ich jetzt von allen diesen Kindern mich trennen können, da auch Mrs. Ednam hier ist und Lady Graden? O wie ist doch Gottes gnädige Hand in jeder noch so schweren Führung zu spüren!«

Mrs. Leslie's Kinder weinten nun sehr und drängten sich an ihre Mutter.

»Müssen wir uns nun trennen, meine liebe Tante?« fragte Florentine ruhig, aber so bleich, wie Marmor.

»Ja, meine Liebe, aber ich hoffe nicht auf länger als auf einen oder zwei Tage. Beste Florentine, laß uns jetzt nicht unseren Gefühlen zu sehr nachgeben, wir glauben ja, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen; laß uns die Aechtheit unsers Glaubens durch die Willigkeit beweisen, mit der wir Alles tragen, was uns aufgelegt wird. Wie viel schlimmer hätte doch Alles noch kommen können? Ihr laßt mich hier zurück bei meinen theuren Freundinnen; ich weiß, ihr seid bei einer liebenden Freundin. Meine kleine liebe Annot,« sagte sie, indem sie ihr jüngstes Kind an ihre Brust drückte, »du bist noch nie auf einen Tag von mir entfernt gewesen. Willst du mir wohl etwas versprechen, Annot?«

Das Kind konnte nicht sprechen vor Weinen und Schluchzen.

»Psch, Annot! Psch mein Kind, dieses Weinen und Schluchzen ist nur ein Beweis davon, wie stark noch dein Eigenwille ist; der muß gebrochen werden, liebes Kind. Annot, wer schickt alles dieses?«

»Der böse Geheimerath,« schluchzte heftig das Kind.

»Aber wer läßt es zu, Annot? Wer regiert noch über dem Geheimerath?«

»Gewiß der Satan,« antwortete das Kind betrübt und mit steigender Heftigkeit.

»O, wie ist das natürliche Herz des Menschen doch so trotzig und so aufrührerisch,« rief Mrs. Leslie aus, »und das ist die erste Probe, auf die du gestellt wirst, Annot. Ich erwartete etwas besseres von dir.«

Das Kind brach in einen neuen Strom von Thränen aus. Es machte sich von seiner Mutter los und verbarg sein Gesicht in dem Schooß von Beatrice Fairley, die während des Zusammenseins in dem gemeinschaftlichen Gefängnisse seine ganze kindliche Zuneigung gewonnen hatte; dort weinte und schluchste Annot, als wenn das Herz brechen wollte. Beatrice bog sich zärtlich über das Kind und sagte mit sanfter aber ernster Stimme: »Siehe, liebes Kind, so ist die Sünde. Du schon erkennst jetzt ihre ganze Bitterkeit. Denn aller Kummer, alle schweren Trennungen, Gram und Mühen, die wir erfahren, kommen nur von der Sünde. Wir müssen ihre bitteren Früchte kosten, damit wir den Herrn um so inniger lieben lernen, der uns den Weg gezeigt hat, auf dem wir ihrem Elende und ihrer Strafe entrinnen können.«

Das Kind wurde ruhig, als Beatrice mit ihm sprach. Sie fuhr fort. »In welchem Geiste trug Er wohl unsre Krankheit und lud die Strafe auf sich, auf daß wir Frieden hätten?«

Annot drückte ihr Gesicht an Beatricens Brust, und so wurde die Unterredung leise fortgeführt. Sie endete damit, daß Annot mit niedergeschlagenem Blicke zurückkehrte und um Vergebung bat. Diese erhielt sie bald, und wurde nun so still und ergeben wie die andern.

»Sie werden doch Alle nach meinem Hause gehen,« sagte Lady Dalcluden, »und Sie, liebe Alison Guthrie und Beatrice Fairley werden doch Lady Arrondale nicht verlassen?«

»Wenn sie uns in ihrer Nähe zu haben wünscht, so thäten wir unrecht, ihren Wunsch nicht zu erfüllen; aber was können wir der Lady Arrondale gewähren dafür, daß wir sie belästigen?«

»Wenn es Ihnen paßt, liebe Alison, so würden Sie und Beatrice mir ein großer Trost sein,« erwiderte Mrs. Colville.

»Das ist uns genug, gnädige Frau,« sagte Alison.

»Und du, liebe Annot, kommst alle Tage,« sagte Mrs. Leslie, deren ganzes Herz an dem Kinde zu hängen schien, »und wenn sie dich nicht herein lassen, mich zu sehen, so gehst du bei dem Gefängniß vorüber, damit ich dich aus dem Fenster sehen kann. Ich werde auf dich aufpassen, und ehe du fort gehst, wollen wir die Stunde verabreden.«

Die Thüre des Gefängnisses wurde nun wieder aufgeschlossen und der Schließer erzählte den Gefangenen, es wären Freunde unten, die gekommen wären, um die losgelassenen Gefangenen zu sehen. Er dürfe diese Personen zwar nicht in das Gefängniß lassen, sey jedoch bereit, ihre Namen zu nennen. Da nannte er denn auch außer andern Namen Mr. Colville und setzte hinzu, daß dieser ihn gebeten hätte, zu bestellen, der Wagen der Lady Dalcluden sey am Gefängniß und warte auf sie.

»Können Sie mir wohl sagen, ob die Gefangenen, die von dem Conventikel zu Canonmill hieher gebracht worden, losgegeben sind,« fragte Lady Arrondale, die früher immer vergeblich versucht hatte, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten.

»Ja, gnädige Frau, alle, einen oder zwei ausgenommen.«

»Wissen Sie, ob ein junger Mann, Namens Colville, freigelassen ist?«

»So heißt wenigstens einer von denen, die zurückgeblieben sind,« antwortete der Schließer, »er muß also wohl frei sein; sie werden jetzt eben das Gefängniß verlassen. Ich hoffe, meine Damen, daß sie mit der Behandlung, die sie hier erfahren haben, zufrieden sind,« fuhr der Schließer fort.

Der Wink wurde verstanden, und bald schien er sehr dankbar für die reichliche Belohnung, die er für seine Gefälligkeiten erhalten hatte.

Aber nun wollte Niemand der erste sein, um von den lieben Freunden, die zurückbleiben mußten, Abschied zu nehmen. Florentine hatte der Catharina Pringle Hand fest in die ihrige geschlossen, während sie mit einem blassen und ängstlichen Gesicht auf ihre Tante sah, die wegen der Kraft ihres Charakters und wegen ihrer großen Ergebung von allen unwillkührlich als die Führerin angesehen wurde.

»Liebe, liebe Florentine,« sagte Mrs. Leslie, »du mußt mir versprechen, zu verhindern, daß Colville Lady Arrondale früher sieht als bis ihr alle in meinem Hause seid,« denn Mrs. Colville war jetzt so bewegt von der Erwartung, ihren Sohn wieder zu sehen, daß sie kaum im Stande war, zu gehen oder zu stehen. »Nun dann,« fuhr Mrs. Leslie fort, »sey der Herr mit euch lieben Freunden, so wie ich darauf vertraue, daß er mit uns ist. Kommen Sie, liebe Mrs. Ednam, theure Lady Graden, und du meine kleine Gefangene – wir wollen keinen erweichenden und langen Abschied nehmen.« Sie zog sie in das innere Gefängniß, sah Annot noch einmal an, blickte gen Himmel und machte dann die Thüre zu.

Die freigegebenen Gefangenen standen einige Zeit unbeweglich da, ihre Augen auf die verschlossene Thüre geheftet; niemand wagte es jedoch, sich den Wünschen von Mrs. Leslie zu widersetzen, und obschon die jüngeren sich der Thränen nicht enthalten konnten, so folgten sie doch still, als Lady Arrondale, gestützt auf Florentinen, fortging, um das Gefängniß zu verlassen.

Ein langer finsterer Gang führte zu dem äußersten Thor des Kerkers. Von diesem Gange gingen wieder andre ab, zu welchen man auf ein Paar Stufen hinabstieg. In einem oder zwei derselben aber stieg man einige unregelmäßige Stufen hinauf, um nach andern Gemächern des Gefängnisses zu gelangen. Durch einen dieser Gänge schien das einzige Licht, das unsern Gefangenen den Weg wies, und auf den Stufen, die zu ihm führten, stand jetzt ein junger Mensch, der ängstlich ihre Ankunft erwartete.

»Meine Mutter,« rief er aus, als Mrs. Colville sich dem Licht näherte und stürzte auf sie zu, um sie zu führen.

»Hugo, mein lieber Hugo,« und sie sank liebevoll in seine Arme; »dein Bruder ist hier, Hugo, er erwartet uns an dem Gefängniß-Thor.«

»Mein Bruder! weiß er, daß Sie hier sind?«

»Nein! Ich kann hier nicht mit ihm zusammentreffen.«

»Das will ich schon in Ordnung bringen,« sagte Florentine, verließ Lady Arrondale und ihren Sohn, und ging mit den beiden ältesten Frauen weiter.

Als die Gefangenen aus dem Gange heraus kamen, stiegen sie einige Stufen herunter und kamen in eine kleine viereckige gemauerte Halle, wo Colville und einige andre sie ängstlich erwarteten. »Liebste Florentine! lieber Colville!« flüsterten sie sich zu. Colville schien nur für Florentinen Augen zu haben, und erst auf ihre Bitte führte er die beiden älteren Frauen in den Wagen. Die andern folgten Hugo. Colville führte seine Mutter, welche von ihren beiden Söhnen beinahe in den Wagen gehoben werden mußte, ohne daß Colville merkte, wer die Person war, deren Gemüthsbewegung ein schmerzliches Gefühl des Mitleids in ihm erweckte, welches jedoch sogleich verschwand, als er sich wieder zu Florentinen wandte. Hugo's Augen waren fest auf seinen Bruder gerichtet; er verfolgte mit seinen Blicken, ohne von den Uebrigen Notiz zu nehmen, jede Bewegung Colville's, während dieser, nach Florentinens Anweisung, so viele Personen in den Wagen ihrer Tante führte, als derselbe fassen konnte, und die Uebrigen zu Fuß weiter gehen hieß. Nachdem sich alle in Bewegung gesetzt, bot er Florentinen seinen Arm. Er sah sich nach Hugo um, und fragte dann leise: »Wer ist der junge Mensch, Florentine? Sollen wir ihn bitten, uns zu begleiten.«

Florentine antwortete nicht, indem sie aber ihren Arm in Colville's legte, forderte sie Hugo auf, an ihre andere Seite zu kommen. Er folgte und sie nahm auch seinen Arm an.

»War dieser junge Mensch mit Ihnen im Gefängniß, Florentine?« fragte Colville leise.

»Er nicht, aber seine Mutter.«

»Wer ist seine Mutter,« fragte Colville wieder und sah den hübschen Knaben an, dessen lebhafte Blicke den seinigen begegneten.

»Kennen Sie ihn nicht, Colville?«

Colville sah ihn wieder an. »Ist das mein Bruder Hugo?«

»Philipp!« rief Hugo, aber die Stimme versagte ihm und seine Augen schwammen in Thränen.

Die Brüder drückten sich zärtlich die Hände, denn sie konnten sich in der lebhaften Straße nicht umarmen, und sahen sich ernst mit thränengefüllten Augen an.

»Und die Mutter, Hugo, wo ist sie?«

»Du wirst sie bald sehen. Sie ist in Edinburgh.«

Florentine beschleunigte ihre Schritte. »Lady Arrondale weiß, daß Sie in Edinburgh sind, Colville, und ist gewiß sehr ungeduldig, Sie zu sehen.«

»Sie sagten, Florentine, die Mutter meines Bruders wäre im Gefängniß. War meine Mutter mit Ihnen zusammen eingesperrt?«

»Ja wohl und Sie halfen ihr in den Wagen meiner Tante.«

»Wo aber finde ich sie jetzt, liebe Florentine?«

»Eben bei meiner Tante.«

Florentine eilte weiter. Colville schwieg; aber sie fühlte, wie er zitterte. Hugo hatte sie verlassen, um an der andern Seite seines Bruders zu gehen und Colville hatte seinen Arm untergefaßt, und ihn dicht an sich herangezogen.

Es war nur eine kurze Strecke von dem Gefängniß bis zum Hause der Lady Dalcluden, so daß Florentine mit den beiden Brüdern bald dort ankam. Sie suchte sogleich mit Colville Lady Arrondale, und fand sie in großer Bewegung, die Ankunft ihrer Kinder erwartend. Colville warf sich vor ihr nieder und umarmte sie, während sie weinend auf seinen Nacken sank. In Florentinens Auge glänzte eine Thräne der innigsten Theilnahme. – – – – – –


So weit hatte Miß Kennedy diese Erzählung aufgezeichnet, als ihr bald darauf erfolgter Tod die Arbeit unterbrach. Wir haben das Bruchstück unverändert so mitgetheilt, wie es sich im Schreibtische der seligen Verfasserin vorgefunden hat. Wäre es ihr vergönnt gewesen, ihr Werk zu vollenden, so würden wir, nach dem, was sie einer ihrer Schwestern mitgetheilt hat, im Lauf der Geschichte gesehen haben, wie Torriswood, Rathillet, Beatrice Fairley und andere zuletzt ihr Leben darbringen, um der Sache, der sie anhingen, treu zu bleiben, und wie Colville und die übrigen gereinigt aus dem Ofen der Trübsal hervorgehen. Nach ihrem Plane würde sie so einen kurzen aber treuen und anschaulichen Abriß von den Leiden der Presbyterianischen Kirche unter den unseligen Regierungen der beiden letzten Könige aus dem Hause Stuart, Carl II. und Jacob II. gegeben, und so die Urtheile der bekanntesten Geschichtschreiber berichtiget haben, welche die Covenanter stets als gehässige, starrköpfige, fanatische Menschen schildern, die es Pflicht gewesen sey, auszurotten. Denn nur dem Heldenmuthe dieser Männer, deren die Welt nicht werth war, und die für ihren Gott und ihr Vaterland sich kühn in die Bresche warfen, um sie gegen die feindlichen Heere zu vertheidigen, verdankt Schottland das unschätzbare Vermächtniß seiner Kirche und seiner Freiheiten, das ihm noch gegenwärtig die kostbarsten Früchte trägt.


 

Berlin, gedruckt bei Petsch.

 


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