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Bettagsmandate

Zu dem Eidgenössischen Dank- Buß- und Bettag (am 3. Septembersonntag) erließ die Regierung ein Mandat an die Bevölkerung des Kantons, in welchem sie sich zur Zeitlage äußerte und an die Pflichten des Bürgers erinnerte. Sie wurden als Plakate angeschlagen und von den Kanzeln verlesen. Gelegentlich wurde der Staatsschreiber mit der Abfassung der Mandate beauftragt.

Zum Sonntag, dem 21. Herbstmonat 1862

Mitbürger!

Wir heißen auch heute die Pflicht willkommen, welche uns auferlegt, beim Herannahen des eidgenössischen Bettages ein getreuliches Wort an Euch zu richten.

Als die Eidgenossen diesen Tag einsetzten, taten sie es wohl nicht in der Meinung, einen Gott anzurufen, der sie vor andern Völkern begünstigen und in Recht und Unrecht, in Weisheit und Torheit beschützen solle; und wenn sie auch, wo Er es dennoch getan, in erkenntnisreicher Demut für die gewaltete Gnade dankten, so machten sie umso mehr diesen Tag zu ihrem Gewissenstag, an welchem sie das Einzelne und Vergängliche dem Unendlichen und ihr Gewissen, das in allen weltlichen Verhandlungen so oft durch Rücksichten des nächsten Bedürfnisses, der scheinbaren Zweckmäßigkeit, der Parteiklugheit befangen und getäuscht wird, dem Ewigen und Unbestechlichen gegenüberstellen wollten.

Mitbürger! Wenn in ernster Feierstunde sich jeder von Euch fragen wird, welches ist mein innerer sittlicher Wert als einzelner Mann, welches ist der Wert der Familie, welcher ich vorstehe, so stellt ei sich diese Fragen, zum Unterschied von den übrigen Festtagen unserer Kirche, vorzugsweise mit Beziehung auf das Vaterland und fragt sich: Habe ich mich und mein Haus so gefühlt, daß ich imstande bin, dem Ganzen zum Nutzen und zur bescheidenen Zierde zu gereichen, und zwar nicht in den Augen der unwissenden Welt, sondern in den Augen des höchsten Richters; Und wenn sodann alle zusammen sich fragen: wie stehen wir heute da als Volk vor den Völkern und wie haben wir das Gut verwaltet, das uns gegeben wurde? so dürfen wir nicht mit eitlem Selbstruhm vor den Herrn aller Völker treten, der alles Unzureichende durchschaut und das Glück von ehrlicher Mühewaltung, das Wesen vom Scheine zu unterscheiden versteht.

Zwar ist unserm Volk neulich Ehre geworden bei edlen und großen Völkern, welche das zu erringen trachten, was wir besitzen, und unsere Absendlinge als Beispiele und Lehrer in den Hantierungen nationalen Lebens gepriesen haben, und erleuchtete Staatsgelehrte weisen schon allerwärts auf unsere Einrichtungen und Gebrauche als auf ein Vorbild hin. Aber wenn auch, wie einer unserer Redner am frohen Volksfeste es aussprach, der große Baumeister der Geschichte in unserem Bundesstaate nicht sowohl ein vollgültiges Muster als einen Versuch im kleinen, gleichsam ein kleines Baumodell aufgestellt hat, so kann derselbe Meister das Modell wieder zerschlagen, sobald es ihm nicht mehr gefällt, sobald es seinem großen Plane nicht entspricht. Und es würde ihm nicht mehr entsprechen von der Stunde an, da wir nicht mehr mit männlichem Ernste vorwärts streben, unerprobte Entschlüsse schon für Taten halten und für jede mühelose Kraftäußerung in Worten uns mit einem Freudenfeste belohnen wollten.

Die Erfüllung unseres öffentlichen Lebens äußert sich Vorzugsweise in der Erziehung unserer Kinder zu einem menschenwürdigen Dasein, zu den höchsten Zwecken unseres Staates, und in der Bestellung und Vollziehung unserer Gesetzgebung.

Unsere Kirche wird allmählich, aber sicher in jener Reinigung von der Willkür menschlichen Wähnens und Streitens und in jenem frischen und liebevollen Anfassen der Welt fortschreiten, welche ihr endlich wieder die allgemeine Macht über die Gemüter verleihen und sie vor drohender Zersplitterung bewahren werden. Die Angelegenheiten der Volks- wie der höheren Schule werden nicht aufhören, der Augapfel des zürcherischen Volkes zu bleiben und jener festen Gestaltung entgegenreifen, welche jedem Mitgliede unsers Gemeinwesens seine Lebensstellung klar, sicher und erfreulich macht.

Betrachten wir aber das eilige und veränderliche Leben unserer Gesetzgebung, wie es die Mehrzahl der eidgenössischen Stände bewegt und vorwärts oder rückwärts treibt, sehen wir, wie der Wechsel der Bedürfnisse und Anschauungen, die rasch folgenden Übergänge der Zeitverhältnisse und Zustände Gesetze entstehen und verschwinden lassen, ehe sie nur entfernt in das Bewußtsein des Volkes gedrungen sind, erfahren wir, wie jedes kleine Bedürfnis Veranlassung gibt, selbst an unserer so schwer erkämpften Bundesverfassung und mit ihr an den Grundlagen des eidgenössischen Lebens zu rütteln, so finden wir den Maßstab, den wir an unsere wirkliche Reife zu legen haben, und müssen uns fragen: Sind wir ein Volk von Männern, welche zur Stunde ein Gesetz hervorzubringen vermögen, das, in ihre Herzen gegraben, für die Dauer von auch nur einem Jahrhundert berechnet ist! Die Antwort wird uns sagen, daß wir in unserer Gesamtheit noch nicht die dazu unentbehrliche harmonische Durchbildung, Einsicht und Beständigkeit errungen haben, noch nicht diejenige gute Willensstärke und Vertragstreue, welche ein vereinbartes, einfaches, fest umschriebenes Gesetz ohne Arg zu ertragen vermag und es in Fleisch und Blut übergehen läßt. Wir werden damit ein Ziel vor uns sehen, das wir erst noch zu erreichen haben, und die innere Kraft zu erwägen, welche uns zur Stunde noch dazu mangelt, wird eine nicht unwürdige Aufgabe des eidgenössischen Gewissenstages sein.

Inzwischen dürfen wir nicht ermüden, den Ausbau unserer öffentlichen Einrichtungen nach Pflicht und Gewissen zu betreiben und, allein von wahrer Nächstenliebe sowie von der Achtung vor dem Rechte beseelt, das Wehen des Geistes, der durch die Zeit fährt, zu beobachten.

Was unsere kantonale Gesetzgebung betrifft, so dürfte es hier der Ort sein, eines kurzen aber vielleicht folgennahen Gesetzes zu erwähnen, welches seit dem letzten Bettage geschaffen wurde. Der von Euch erwählte Große Rat, liebe Mitbürger, hat mit einigen wenigen Paragraphen das seit Jahrtausenden geächtete Volk der Juden für unsern Kanton seiner alten Schranken entbunden, und wir haben keine Stimmen vernommen, die sich aus Eurer Mitte dagegen erhoben hätten. Ihr habt Euch dadurch selbst geehrt, und Ihr dürft mit diesem Gesetze, das ebensosehr von der Menschenliebe wie aus Gründen der äußern Politik endlich geboten war, am kommenden Bettage getrost vor den Gott der Liebe und der Versöhnung treten. An Euch wird es sodann sein, das geschriebene Gesetz zu einer fruchtbringenden lebendigen Wahrheit zu machen, indem Ihr den Entfremdeten und Verfolgten auch im gesellschaftlichen Verkehre freundlich entgegengehet und ihrem guten Willen, wo sie solchen bezeigen, behilflich seid, ein neues bürgerliches Leben zu beginnen. Was der verjährten Verfolgung und Verachtung nicht gelang, wird der Liebe gelingen; die Starrheit dieses Volkes in Sitten und

Anschauungen wird sich lösen, seine Schwächen werden sich in nützliche Fähigkeiten, seine mannigfaltigen Begabungen in Tugenden verwandeln, und Ihr werdet eines Tages das Land bereichert haben, anstatt es zu schädigen, wie blinder Verfolgungsgeist es wähnt.

Gemäß der Bitte jenes reinen und unvergänglichen Gebetes: Gib uns heut unser tägliches Brot, haben noch alle Mandate das Land zum Dank für das Gegebene, für den Segen des Jahres, und zu Geduld und Vertrauen in Zeiten der Sorge und des Mangels aufgefordert. Es ist nicht an der Zeit, heute diese Bitte zu vergessen, und schon können wir mir der Bitte auch den Dank verbinden; denn die Ernten standen in goldenem Segen. Aber mehr noch als die schweren Gewitter, welche in eilender Folge über viele Täler zogen, mahnt ein finsterer Schatten menschlichen Unglückes, welcher ungesehen und unheimlich mitten durch unsern Wohlstand schreitet, den empfangenen Segen zu Rate zu halten und zu wachen, daß uns zum Wiedergeben etwas übrig bleibe. Denn noch nie ist der Tagesfrieden so häufig aufgeschreckt worden durch den gewaltsamen Untergang von Verlassenen, durch Taten der Verzweiflung; noch nie haben die klaren Fluten unserer Seen und Ströme so oft die Opfer der Not in sich aufgenommen wie in diesem schwülen, von Festgesängen und von den Donnerschlägen des Himmels widerhallenden Sommer.

Über das Weltmeer her dröhnt das wildeste Kriegsgetöse, dasjenige eines mörderischen Bruderkrieges, in unsere Ohren und berührt nicht nur allzunah die tägliche Sorge von Tausenden unserer Mitbürger, sondern trifft auch mit eherner Mahnung unser vaterländisches Herz. Dort haben vor erst achtzig Jahren wahre Weise und Helden die größte und freiste Republik der Welt gegründet, eine Zuflucht der Bedrängten aller Länder. Die unbeschränkteste Freiheit, die beweglichste Begabung in Verkehr und Einrichtung, in Erfindung und Arbeit aller Art, ein unermeßliches Gebiet zu deren Betätigung, ohne einen freiheitfeindlichen und mächtigen Nachbar an irgend einem Punkte der weiten Grenzen, sehen wir den großen blühenden Staatenbund jetzt in zwei Teile gespalten, die sich wie zwei reißende Tiere zerfleischen. Und welches ist die unerhörte Gewalt, die solches bewirkt; Es ist die in Geiz verwandelte Bitte um das tägliche Bror, es ist der Streit um Gewinn und irdischen Vorteil, der unter dem Vorwande ökonomischer Notwendigkeit die ältesten und ersten Grundzüge christlicher Weltanschauung verleugnet und in Strömen Blutes erstickt.

Angesichts eines solchen Schicksales werden wir, liebe Mitbürger, am eidgenössischen Bettage mit der Bitte um das tägliche Brot die Bitte vereinigen: Laß unser Vaterland niemals im Streite um das Brot, geschweige denn im Streite um Vorteil und Überfluß untergehen!

Wenn Ihr so das Wohl des Vaterlandes und die Erhaltung seiner Ehre und Freiheit vom Himmel erfleht, so gedenket auch der Völker, welche zur Stunde in heißem Fieberkampfe mit den Feinden ihrer Freiheit ringen, und gedenket der kranken Schwester über dem Meere, welche so viele Euerer Brüder in ihren Reihen zählt!

Möge am 21. Herbstmonat unsere Landeskirche in ihren einfachen Räumen ein einfach frommes, hell gesinntes Volk vereinigen; möge aber auch der nicht kirchlich gesinnte Bürger, im Gebrauche seiner Gewissensfreiheit, nicht in unruhiger Zerstreuung diesen Tag durchleben, sondern mit stiller Sammlung dem Vaterlande seine Achtung beweisen.

   

Zum Sonntag, dem 20. Herbstmonat 1863

Mitbürger!

Wieder naht der vaterländische Bettag, an welchem alle Eidgenossen vor Gott, ihren alleinigen Herren, treten, um ihre Gewissen vor ihm, dem Allwissenden, zu prüfen, die Gebote des Unendlichen zu vernehmen und ihm für seine unwandelbare Güte zu danken.

Möge der Tag ernster Sammlung nach der heißen Arbeit des Sommers, wie nach dem Geräusche der nationalen Feste unserm gesamten Volke willkommen sein, als einem Volke, welches weder über der Arbeit, noch über der Freude die Übung geistiger Wachsamkeit aus den Augen setzt. Denn wenn wir die ununterbrochene Bewegung des Völkerlebens und die Lage unsers teuren Vaterlandes mitten darin überblicken, so müssen wir fühlen, daß kein Stillstand, keine träge Ruhe des Geistes für uns möglich ist, ohne uns selbst zu verlieren.

Jenseits und diesseits der Meere brennen alte und neue Kriegesflammen fort, Flammen des Bürgerkrieges und des Völkerhasses, welche als erschütternde Beispiele davon zeugen, wie nah uns noch mitten in unserm Jahrhundert alle Greuel der rohen Gewalttat und Vernichtung stehen, wie schwer es ist, menschliche und christliche Gesittung auch im Streite zu bewahren, die kostbaren Güter der Unabhängigkeit zu erhalten und, wenn sie einmal verloren sind, dieselben wieder zu erringen. Und wo wir sonst hinblicken, da droht altes oder neues Verschulden seine Sühne zu suchen und den Frieden zu gefährden.

Uns selbst hat die Vorsehung diesen Frieden bis dahin gnädig bewahrt. Allein der Wechsel der Bedürfnisse, die gewaltigen materiellen Entwicklungen der Zeit, welche fortschreitend neben jenen dunklen Kämpfen die Welt bewegen, sie durchdringen von allen Seiten auch unser Vaterland, vielfach Segen und Leben verleihend, aber auch vielfache Keime zu Eifer und Zwist ausstreuend.

Hier gilt es nun, mitten im Wechsel der Anforderungen zu verharren im Geiste unserer Vorfahren, festzuhalten die Treue am Bunde, die Einfachheit und Reinheit der Sitten, die Redlichkeit der Denkart. Und diese für uns unentbehrlichen Güter, liebe Mitbürger, dürfen wir nicht allein im Brausen der hohen Festeswogen, in der Entfaltung äußerer Kraft suchen; wir finden sie am sichersten in der ernsten Einkehr in uns selbst und in dem Gedanken an das Ewige und Unvergängliche, welches alles Menschenwerk und /dasein überdauert, aber dasselbe auch erhebt und erhält, solange es ihm bestimmt ist.

Nur indem wir die göttlichen Lehren der Gerechtigkeit und Liebe durch unser Gemeinwesen zu verwirklichen trachten, können wir in der Stunde der Verwirrung und Gefahr auf Licht und Schutz von oben hoffen, gleichwie nur der den Frieden zu bieten vermag, der den Frieden selbst im Herzen trägt.

Lasset uns, liebe Mitbürger, jeder an seinem Orte nicht nachlassen in Übung der so nötigen Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, welche den Mann erst zum freien Manne erhebt. Vergeblich würden alle freien Gesetze und tot alle Rechte sein, wenn wir unsere gefährlichsten Zwingherren, die Leidenschaften des Neides, des Hasses, des Stolzes und die Unsitte jeglicher Art in unserer eigenen Brust nicht zu bekämpfen vermöchten. Denn wer der Knecht seiner eigenen Leidenschaft ist, fällt zuletzt jeder Art von Knechtschaft anheim.

Möchten alle, welche durch Amt, Bildung oder gesellschaftliche Stellung dazu berufen sind, vorangehen in jener Schlichtheit und Gediegenheit des Lebens und Denkens, anstatt dem entbehrenden und mühebelasteten Volke tägliche Bilder der Genußsucht, der Eitelkeit und gedankenlosen Zerstreuung darzubieten.

Alles Edle und Große ist einfacher Art. Möge diese klare Einfachheit bei aller materiellen Entwicklung unserer Zustände fort und fort die Grundlage unseres religiösen Lebens, unserer Wissenschaft und Erziehung bleiben, und wir werden der Einigkeit und Genügsamkeit nicht ermangeln, welche uns schließlich zum wahren Großen führt und uns zu jeder Stunde mit Dank erfüllt vor den Herren treten läßt, der uns mit allen seinen Werken in seiner starken Hand hält.

Dankbar müssen wir auch am Schlüsse dieses Sommers zu ihm aufblicken, da seine Sonne in ungewöhnlichem Glänze über den Ländern stand und die unverdrossene Arbeit unsers Volkes in reichem Maße belohnte. Hat auch im Beginne der Jahrszeit ein schwerer Gewitterzug einen Teil unserer Fluren betroffen und die schönen Hoffnungen des Fleißes zerstört, so wird solche Prüfung nur umso kräftiger unsere Bruderliebe wachrufen und uns im früchteprangenden Herbste daran erinnern, daß alle für einander einstehen und helfen sollen, wo es gebricht.

Mitbürger! Wir laden Euch somit ein, die kommende Bettagsfeier mit aufrichtigem Danke gegen den Geber alles Guten, mit ernstem Sinn und fruchtbringender Reue für den Fehl, der keinem unter uns mangelt, zu begehen, wie es einem Volke geziemt, welches, der Leuchte der freimachenden Lehre unsers Erlösers folgend, das Panier der Freiheit voranträgt und mit demutvoller Kraft die besondere Aufgabe erfüllt, welche die Vorsehung einem jeden Volke gestellt und zu deren Erfüllung sie ihm die Fähigkeit nicht versagt hat.

Nur so werden wir mit Gottes Hilfe die Herren unseres Schicksales bleiben und allen kommenden Stürmen mit entschlossener Ruhe entgegensehen können.

Der eidgenössische Dank-, Buß- und Bettag ist auf Sonntag den 20. Herbstmonat angesetzt, und wir erwarten, daß der festliche Tag mit derjenigen Würde und Ruhe werde verlebt werden, welche nicht nur das Gesetz, sondern auch die Achtung vor dem feiernden Vaterlande gebieten.

   

Zum Sonntag, dem 15. Herbstmonat 1867

Liebe Mitbürger!

Es liegt uns die Pflicht ob, Euch die diesjährige Feier des eidgenössischen Dank-, Buß- und Bettages zu verkünden und Euch zu einer würdigen Begehung dieses stillen und ernsten Festes einzuladen.

Gewaltig schreitet das Schicksal, gelenkt durch Gottes Ratschlüsse, über die Erdteile hin und prüft die Reiche und Völker in ihrem Innersten. Unablässig ringt der Kampf zwischen dem Gedanken der Freiheit, des Friedens unter den Völkern und den Machtbestrebungen der Herrschenden, dem Drange der Dienenden nach äußerem Schein. Und wie unaufhörlich die Waagschalen auf und nieder schwanken, weht in der einen Stunde ein Hauch der Hoffnung durch die gärende Welt, während schon die nächste Stunde wieder die Gemüter mit Besorgnis erfüllt und jedes ruhige Tun verwirrt.

Eine unübersehbare Kriegsgefahr, welche vor kurzem abermals über großen Nachbarstaaten schwebte und uns verhängnisvoll näher treten konnte, mußte, wie vor einem Vorboten besserer Tage, vor der Macht besserer Einsicht und des allgemeinen Friedensrufes weichen. Aber die Anzeichen der Unruhe und der Streitlust dauern fort, und auch unser kleines Volk, welches soeben in dem großen Wettkampfe der Arbeit rüstig mit aufgetreten ist und nichts weiter begehrt, als dieser Arbeit fleißig obzuliegen, leidet unter den verderblichen Stockungen der Erwerbstätigkeit, von deren ungehemmter Entfaltung das Wohl so vieler abhängig ist, Und es sieht sich überdies gezwungen, seine friedlichen Ersparnisse jenen Rüstungen zu opfern, welche nötig sind, um in der Stunde der Entscheidung seine Unabhängigkeit verteidigen zu können.

Unsere Unabhängigkeit aber, liebe Mitbürger! ist nichts anderes als die Freiheit, als Männer nach unserm Wissen und Gewissen uns einzurichten und zu leben, wie es auch unsere Väter gehalten haben.

Ihr Gewissen, ihr Bewußtsein vorzüglich auch mit Rücksicht auf das Bestehen und Gedeihen eines unabhängigen Vaterlandes zu reinigen und zu stärken, haben die Eidgenossen den Tag eingesetzt, den wir zu feiern gedenken.

Wenn jemals, so ist er diesmal geeignet, unsere Blicke nach oben zu richten und dem Herren, der unser einziger Herr ist und uns bis jetzt erhalten hat, von neuem vertrauen zu lernen.

Bitten wir ihn, daß er uns das rechte Vertrauen lehre, welches aus dem heißen Danke für seine unwandelbare Güte hervorgeht, mit ernster Selbstprüfung und Anstrengung aller Kräfte, welche dem Menschen verliehen sind, verbunden ist und uns fähig macht, unsere Fehltritte aufrichtig zu bereuen, jene Vergehungen aber zu vermeiden, über welche keine Reue und Buße den gefallenen Völkern hinweghilft.

Wenn leibliches Wohlergehen das Erste und Nächste ist, für das wir Gott in unserer menschlichen Schwäche zu danken pflegen, so dürfen wir ihm aus vollem Herzen unsern Dank darbringen. Die verderbliche Seuche, welche seit bald vier Jahrzehnten die Länder heimsucht und zahllose Opfer verschlungen hat, ist plötzlich in unserer Mitte erschienen und mit der Hilfe des Allmächtigen, wie wir hoffen dürfen, wieder abgewendet worden, ehe sie weitere Kreise mit Unglück und Jammer heimsuchen konnte. So ist denn unser Land im weiten Umkreise der Länder fast das einzige, welches seit langer Zeit, wie vor den Schrecken einer Kriegsüberziehung, so auch vor der vollen Wirkung verheerender Todesseuchen bewahrt geblieben ist, und wir können an unserm Heimatsherde kaum die Leiden ermessen, welchen rings um uns, näher und ferner, die Menschheit unterworfen war und ist.

Umso ergebungsvoller sollten wir diejenigen Prüfungen, die auch uns auferlegt sind, und manches Mißgeschick zu ertragen wissen, das im Wechsel der Zeit und unzertrennlich vom Weltlauf bald über diesen, bald über jenen von uns verhängt ist.

Was die Sorge für des Leibes Nahrung betrifft, so haben wir nicht minder der ewigen Vorsicht Dank zu sagen, daß sie dem Fleiße unserer Landbebauer ihren Segen nicht vorenthalten hat. Wenn auch da und dort eine Hoffnung nicht in Erfüllung ging, so belohnte dafür eine Fülle anderer Erzeugnisse die verwendete Arbeit, und wir glauben mit beruhigter Erwartung dem Abschlüsse des Erntejahres entgegensehen zu dürfen.

Möchte hiezu die Erhaltung des Weltfriedens kommen, damit auch unser Gewerbsfleiß seine Früchte tragen und Tausenden von Händen ihre sichere Arbeit wieder zuwenden kann. Wie aber auch die Geschicke sich erfüllen, so bitten wir den Allgütigen um die eine Wohltat, daß er in Zeiten der Prüfung und Not nicht den einen Stand gegen den andern in Groll und Anschuldigung sich kehren, sondern alle Stände des Volkes, wie sie sich gegenseitig unentbehrlich sind, auch in Eintracht sich stützen und helfen lasse.

Ob wir auch mit dem Gefühle voller geistiger und sittlicher Gesundheit vor den Allwissenden treten können, das, liebe Mitbürger! muß uns der ernste Einblick in uns selbst sagen, dem wir vor allem uns zu unterziehen verpflichtet sind, wenn wir keine abgestorbenen Glieder unsers Gemeinwesens werden wollen.

Hier ist der Punkt, wo wir den Herrn um ein helles Auge und um Kraft zur Ausrottung grober Selbstliebe, des Eigenruhmes und Eigennutzes zu bitten haben.

Möge Gott uns die Fähigkeit verleihen, unser häusliches Leben in Einfachheit und guter Sitte unserm öffentlichen Leben anzuschließen und dieses selbst einer gesunden und glücklichen Entwicklung offen zu halten.

Möchte er uns hiefür ein unbefangenes und redliches Herz und die Kraft geben, mit der Würde und Ruhe eines Volkes, das der Freiheit gewohnt ist, zu raten und zu tun, was Kirche, Schule und unser gesamtes bürgerliches Leben im steten Fortschreiten erfordern. Möchte er uns hiezu feste Gewissenhaftigkeit, Wahrhaftigkeit und Furchtlosigkeit schenken und uns vor dem Eifer böser Leidenschaft bewahren, der niemals gute Früchte bringt.

Könnte es uns so gelingen, auch an innern, sittlichen Eigenschaft ten, für welche uns Christus das erhabene Vorbild gibt, das Vaterland reicher machen zu helfen, so würden wir zu seinem Schutz ebensoviel beitragen als wie mit eisernen Waffen.

Liebe Mitbürger! Wir bitten Euch, am kommenden Bettage im Verein mit allen schweizerischen Brüdern Gottes und seiner unendlichen Liebe zu gedenken und aus dieser die eigene Liebe zu schöpfen, die allein auch für Freie das Dasein erträglich macht.

   

Zum Sonntag, dem 17. Herbstmonat 1871

Mitbürger!

Mitten im Vorschreiten eines verheerenden Nationalkrieges hatten wir die letzte Einladung zur eidgenössischen Bettagsfeier an Euch ergehen lassen. Ihr wißt, in welcher Weise die Geschicke der Streitenden seither sich erfüllt haben und daß eine Reihe von Ereignissen an unsern Augen vorübergezogen ist, wie sie nur selten in der Weltgeschichte sich folgen.

Wieder ist der Herbst und mit ihm der Tag der vaterländischen Andacht genaht, und wir dürfen sagen, daß die furchtbaren Kämpfe, zum Teil dicht an unseren Grenzen, sich vollzogen haben, ohne daß die unserm Vaterlande durch sie drohenden Gefahren verwirklicht worden sind. Während wir die anstrengenden Pflichten der Bewährung unserer friedlichen Landesmarken übten, wat es uns gleichzeitig vergönnt, an dem Wetteifer der mit uns von dem unerhörten Schauspiel erschütterten Welt teilzunehmen und das fremde Elend nach Kräften lindern zu helfen. Selbst der Übertritt einer Heeresmasse, so zahlreich, wie sie noch nie mit einem Schlage von außen her auf dem Boden unserer Heimat erschienen ist, hat nur dazu gedient, unsere öffentlichen Einrichtungen zu erproben und den werktätigen Sinn unseres Volkes wach zu halten und zu erhöhen.

Wenn auch manches Opfer an Gesundheit und Leben dabei gebracht werden mußte, so können wir doch nicht dankbar genug aufblicken zum Herrn aller Völker, da er abermals uns so freundlich geschützt hat.

Dennoch ist die Lage auch unseres Vaterlandes nicht mehr ganz dieselbe, wie sie es vor diesem Kriege gewesen ist. Wiederum hat eine jener großen Nationen, von denen wir umgeben und mit denen jeweilig Teile unseres Volkes stammverwandt sind, ihre Einheit und damit eine kaum geahnte Machtfülle gefunden. Und während in unserm Norden eine glänzende Kaiserkrone wieder errichtet worden ist, wie zum Zeichen, daß Heil und Gelingen nur von einer Lenkerhand ausgehen können, ringt die darnieder geworfene Nation in unserm Westen an ihrem Wiederaufbau; aber auch hier, im Unglücke, handelt es sich nicht um ein Zusammenwirken freier Männer, sondern um den Namen des rettenden Führers, welcher gesucht wird. So scheint denn das republikanische Prinzip, welches unser bürgerliches Dasein von jeher bedingt hat, mehr zu vereinsamen als Unterstützung zu finden. Lächelnde, wenn auch unberufene Stimmen lassen sich hören: was willst du kleines Volk noch zwischen diesen großen Völkerkörpern und Völkerschicksalen mit deiner Freiheit und Selbstbestimmung!

Wie zur Antwort auf solche Fragen haben in unserer Mitte Szenen der Gewalttat und Rechtsverletzung stattgefunden, welche den Urteilsspruch des Strafrichters erforderlich machten, das glückliche Gefühl bewahrten Friedens und gesicherter Ordnung weithin getrübt, unsern Ruf gefährdet haben.

So einstimmig die betreffenden Vorgänge verurteilt wurden, mochten sie doch nicht ganz fremd sein einer gewissen Scheu und Furcht, welche dem Neuen und in seinen Folgen noch Ungekannten gegenüber manches Gemüt beschlich, und angesichts solcher Stimmungen schien die Frage nicht unberechtigt: sollte unser Vaterland die neuentstandenen Machtverhältnisse wirklich nicht zu ertragen, ihnen nicht ins Auge zu schauen vermögen?

Mitbürger! Als unsere Vorfahren den eidgenössischen Bettag einsetzten, taten sie es im Geiste jener höheren Glaubenseinheit, welche über den Konfessionen steht, um die ewige Weltordnung für das Vaterland anzurufen und aus ihr die Gesetze abzuleiten, die sie sich gaben, aus ihr das Vertrauen in den Fortbestand ihrer Unabhängigkeit zu schöpfen. Diese Quelle der Kraft und Wohlfahrt ist uns nicht verschlossen. Demütigen wir uns vor Gott, so werden wir vor den Menschen bestehen! Erforschen wir seinen Willen aus den Geschicken, welche er den Großen und Mächtigen bereitet, wenn sie die Wege ihrer Willkür wandeln, und lernen wir immer mehr aller eigenen Willkür entsagen! Meiden wir den Schall leerer Worte und den Scheingenuß und suchen wir immer mehr die Ruhe und den Frieden fruchtbringender Arbeit und Pflichterfüllung, so werden wir au stets die Liebe und die Mittel zum wahren Fortschritte bewahren und äufnen, welcher keine Feinde, sondern Freunde erweckt und die von den Vätern errungene Unabhängigkeit erhält, solange wir ihrer wert sind!

Liebe Mitbürger! Leicht erkennen wir an unserm Nächsten, ob er sich von Vorurteilen und Eigensucht zu befreien und entschlossenem Anteil an der notwendigen gemeinsamen Arbeit des Fortschrittes zu nehmen imstande sei. Schwerer ist es, die Fähigkeit und den gutem oder bösen Willen hiezu in uns selbst zu erkennen. Trennen wir daher nicht den Staatsbürger, der sich oft an erfüllter Form genügen läßt, vom vollen und ganzen Menschen, welcher, mitten in der Gemeinschaft, einsam und verantwortlich der göttlichen Weltordnung gegenübersteht! Steigen wir hinab in die Grundtiefen unseres persönlichen Gewissens und schaffen wir uns dort die wahre Heimat, so werden wir ohne Neid und ohne Furcht auf fremde Größe und in die Zukunft blicken können.

In diesem Sinne möchten wir Euch zur würdigen Begehung der diesjährigen Feier des eidgenössischen Dank-, Buß- und Bettages einladen.


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