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Zu Friedrich Theodor Vischers achtzigstem Geburtstage

«Allgemeinen Zeitung», 30. Juni 1887.

Vor mehr als zwanzig Jahren kehrte ich eines Sonntagabends von einem Spaziergange in der Umgebung von Zürich nach der Stadt zurück an der Seite eines Mannes, der sich dem Ende seines sechsten Jahrzehnts nähern mochte, aber noch wohlgebaut und mit rüstigen Gliedmaßen dahin schritt. Er war keineswegs modern und doch mit schlichter Eleganz gekleidet, da er, die schlotterige Tagesmode verachtend, an dem als zweckmäßig erkannten Gewandschnitte «schönerer Jahre» unverbrüchlich festhielt, der an Schulter, Arm und Hüfte dem Körper sein Recht ließ. Der Hut saß ihm gut und frei, fast etwas schieflich zu Haupte und schien zu sagen: Ein Mann geht unter mir!

Die Dämmerung war stark vorgeschritten, als unser Gespräch plötzlich unterbrochen wurde. Auf der anderen Straßenseite gab ein dichter dunkler Männerhaufen die schönste Prügelei zum besten, ganz in sich gekehrt, wie von der Welt abgewandt. Wir standen still und sahen bald, daß dieser Knäuel erboster Leute auf einen Einzelnen loshauen mußte, der unerkennbar in der Mitte stak und erbärmlich um Hilfe schrie. Mein Begleiter horchte nur einen Augenblick hin, faßte seinen Stock fester und sprang mit einem Satze über die Straße weg. Während er unerschrocken eindrang und den Knäuel zerteilte, hörte ich seine helle Stimme rufen: «Ihr Himmelsakermenter, was ist das? Schämt ihr euch nicht, alle auf einen loszuschlagen?»

Das wird nun gut ausfallen! dachte ich, behutsam näher tretend. Aber schon hatte die Masse sich gelockert, Stöcke und Fäuste ruhten, wogegen eifrige Reden sich kreuzten und dem Eindringling geräuschvollen Aufschluß gaben, jedoch ohne die Feindseligkeit wider denselben zu kehren. Offenbar hatte er den richtigen Fleck getroffen und hörte aufmerksam zu. Es stellte sich heraus, daß der Geprügelte durch bodenlos freches Benehmen die erst fröhlich angeheiterten Handwerksgesellen bis ins Unerträgliche gereizt, im kritischen Augenblick dann zum Messer gegriffen habe usw.

Ah so! sagte der Friedensstifter, daß der Bursch feig ist, hat er freilich auch durch sein Geschrei bewiesen! Aber nun wollen wir ihn laufen lassen, nicht wahr? er wird sein Teil ja weg haben!

Der Übelzugerichtete war bereits in der Dunkelheit verschwunden, die wackeren Zuschläger zogen auch ab, nicht ohne dem Manne, der wahrscheinlich Ärgeres verhütet, guten Abend zu wünschen. Ruhig, als ob nichts geschehen wäre, setzte er den Weg mit mir fort. Es war der Herr Professor Friedrich Theodor Vischer vom Schweizerischen Polytechnikum und der Universität in Zürich.

Aus diesem und manch anderem Zuge, sozusagen Fazetten des Edelsteines, der vorstehenden Namen trägt, erkannte ich, wie monistisch der Mann eingerichtet, gewachsen ist, wie Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln unmittelbar eins bei ihm sind. Und diese Einheit, in allem Wechsel der Zeit mit derselben Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe gerüstet, muß eine gesunde Lebensart sein; denn heute feiert Vischer den achtzigsten Geburtstag, und wie feiert er ihn!

Lang steht er schon auf der Höhe des Lebens unter der Halle seiner Werke; der goldene Abendschein liegt in dem Gebälke, doch die Sonne weilt über dem weiten Horizont und will nicht scheiden. Denn eben ertönte noch der schönste Gesang aus der Halle herüber, Lied auf Lied, und gleich wandelt er wieder stracken Ganges umher, das Richtmaß in der Hand, und prüft abermals das festgefügte Zimmerwerk, mißt und klopft hie und da an die Balken und möchte dies oder jenes wohl anders gemacht haben. Laß das Gebälke ruhig stehen, junger alter Herr! Wir müssen zwar bekennen, daß wir langehin uns mehr an den reich gewirkten Teppichen erbaut haben, die du so verschwenderisch dran und drüber gehängt hast; mit der Zeit aber wurden wir gesetzter und fangen erst jetzt an, hinter die Teppiche zu schauen und rückwärts zu lernen, bis wir das Gerüste in des Meisters Sinn verstehen. Und wenn es auch etwas zunftmäßig aussieht, so wird der Tag doch kommen, wo keiner es mehr anders wünschen wird! Und wenn über dem gewaltigen Giebeldache nichts mehr als der blaue Äther steht, so ist uns das eben recht, weil aus diesem gerade nach der heutigen Kosmogonie ja doch alles kommt und dahin zurückkehrt, heute oder morgen!

Aber hört! Jetzt singt er wieder, laut, wohltönend, er scheint vergnügt zu sein, bis ihn die Arbeit seiner Kraft ruft und er lehrend das junge Volk um sich sammelt. Nun steht ein Redner ersten Ranges vor ihnen, kein Spiegelredner, sondern einer des lebendigen Wortes.

Nach getaner Arbeit ist gut ruhen, denkt er, als er irgend etwas bemerkt, das ihn zornig erregt, ein Ungeschmack, eine Roheit, eine Philisterei, da ihm das Kleine am Herzen liegt und das Große. Er wettert herrlich für die wehrlos gequälte Kreatur; denn als ein ganzer Mann erbarmt er sich ihrer, und wenn er ein alter Heiliger wäre, so würde ihn einst eine große Schar erlöster Tiere ins Himmelreich begleiten.

Die Ehre, Stärke und harmonische Freiheit des Vaterlandes sind seine lebenslängliche Leidenschaft, und er hat sie jederzeit redlich erlitten und durchgekämpft, ohne den Mannestrotz zu verlieren: wenn er am wenigsten hoffte, so war es am wenigsten geraten, ihm mit Mitleid zu kommen.

Jetzt sitzt er wieder vor der Halle gleich einem kritischen Landgrafen, abhörend, erwägend, urteilend und gegen Unbilde auch die eigene Sache unverhohlen verfechtend, Irrtum bekennend und unverweilt richtig stellend. Und seine Sonne tut keinen Wank und scheint ihm golden ins Gesicht.

Unter solchen Umständen ist das Anwünschen, es möge noch lange so gehen, keine Kunst oder Heuchelei. Es scheint sich (unberufen!) von selbst zu verstehen. Und dennoch rufen wir heute: Heil Dir, teuerster Mann! Bleibe noch manches geräumige Jahr der große Repetent deutscher Nation für alles Schöne und Gute, Rechte und Wahre!


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