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Ein bescheidenes Kunstreischen

«Neuen Zürcher Zeitung» am 22. und 23. März 1882.
(Bericht über eine Reise in Gesellschaft des Ehepaars Koller und des St. Galler Malers Emil Rittmeyer.)

Zu Anfang verwichenen Oktobers hieß es, daß Meister Stückelberg seine Werkstatt am Vierwaldstättersee nochmals für einen Winter schließen werde, um das letzte der vier großen Bilder in dem neuen Teilenkirchlein dem künftigen Sommer vorzubehalten. Da keiner weiß, ob er eine solche Jahreszeit wieder erlebt, und außerdem der See gerade im Oktober in seinem größten Reize zu schwimmen pflegt, so machten wir uns auf den Weg und mischten uns unter die Besucher, die bis zum Torschluß den fleißigen Künstler störten, wenn auch nur mit Klopfen an den Brettern des Verschlages.

Der andere Malermeister, auf den wir gerechnet hatten, die liebe Sonne befand sich freilich nicht zu Hause, und die Landschaft des Urnersees war in dem tief niederhängenden Nebel und mit ihrem gespensterhaften Gestein so acherontisch düster, grau und kühl, daß wir uns selber fast wie Schatten erschienen und froh waren, statt des Blutes eines odysseischen Schafbocks in der Wirtlichkeit zur «Tellsplatte» ein Glas guten roten Neuenburger Weines zu uns zu nehmen. Vorsichtig gossen wir den Trank in das Glas, warteten ein wenig, und als der Stern sich gebildet hatte, schluckten wir denselben und stiegen getrost den bröckelnden Steinpfad an das Ufer hinab, wo die Kapelle steht. Ein Trupp grauer Gestalten, gleich stygischen Luftgebilden, drängte sich und kratzte an der Türe. Wir hielten sie für in Plaids gehüllte touristische Nachzügler; als man sie aber um Stand und Namen befragte, fuhren sie seufzend um die Ecke herum und verschwanden im Gebüsch; denn es war schon eine Schar jener unseligen Dämonen, welche dazu verdammt sind, niemals mit Zungen genannt zu werden, weil sie keine menschliche Seele haben, und die daher unablässig die Welt durchwandern, um ihren Namen an alle Denkmäler zu schreiben, damit sie wenigstens gesehen werden. Es geht die Sage, sobald ein solcher Name von einer unschuldigen Jungfrau dreimal laut gelesen werde, so erhalte der betreffende Kiselak nachträglich eine Seele und sei erlöst. Wenn man die Photographien, die von den früheren Gemälden der Tellskapelle genommen worden sind, betrachtet und die Unmenge von Namen sieht, die bis in die Gesichter der Figuren hinein gekratzt und geschmiert wurden, so bangt man im voraus um das Schicksal des neuen Werkes.

Vorläufig aber erweckte die frische Farbenwelt des Innern, als wir eintraten, und die rüstige Gestalt eines werkfrohen Meisters unsere Munterkeit wieder. Die drei fertigen Bilder (bekanntlich der Rütlischwur, die Szene nach dem Apfelschuß und der Sprung aus dem Schiffe) überraschen in der Tat trotz aller guten Erwartung mit dem Eindruck eines entschiedenen Gelingens. Dies will viel sagen, wenn man den bei uns herrschenden Mangel an Übung und Gelegenheit zur Freskotechnik, das ewige Hic Rhodus, hic salta derselben in Betracht zieht, wo die Arbeit jedes Tages am Abend definitiv fertig sein muß und bei aller Vorsicht und Überlegung dieselbe Mischung nach Verschiedenheit der Temperatur rascher oder langsamer trocknet und damit aus dem Tone fällt. Die Bilder zeigen weder ein rotes Ziegelkolorit, so oft die Frucht der Verlegenheit, noch jene in manierierten bunten Abschattungen schillernde Malerei, welche überhaupt jede Schwierigkeit umgeht; sondern wir erblicken eine mit redlicher Bemühung Natur und Geschmack zu Rate ziehende, kräftige und sympathische Farbengebung.

Diese erreicht den Gipfelpunkt ihres Gelingens in der Pfeilszene zu Altdorf. Das figurenreiche Bild ist in allen Teilen samt der malerischen Architektur und dem landschaftlichen Hintergrund von gleichmäßig anziehendem durchsichtigem und kraftvoll wirkendem Kolorit; keine tote Stelle, wo die Lokalfarbe entweder fehlt oder in kunstwidriger Weise bloßgelegt ist, stört die Harmonie. (Die zum Betrachten nötige Distanz ist, beiläufig gesagt, noch nicht vorhanden, da man sich einstweilen noch auf dem ziemlich hohen Gerüstboden befindet.) Das Sympathische dieses Eindrucks erleidet auf den beiden andern Darstellungen insofern einigen Abbruch, als sowohl das Grau von Gewitterluft und See im Tellensprung, als dasjenige des Nachthimmels und des Hintergrundes im Rütlischwur etwas zu kalt, zu sehr nur schwarzgrau ist. So todgrau die verdüsterte Natur zuweilen erscheint, so darf im Bilde die leise Milderung durch das blaue und das gelbe Element nicht fehlen, das auch dort nie fehlt. Wir begreifen den Umstand übrigens sehr wohl und schreiben ihn gerade der redlichen Absieht zu, bei der Stange zu bleiben und nicht bunt zu färben. Die alten Freskomaler hätten sich einfach dadurch geholfen, daß sie mit dunkelblauen und braunen Tinten dreinfuhren.

Indessen, da die betreffenden Stellen nicht unbedeutende Flächen bekleiden, wird man bei Dekorierung des Plafondgewölbe und übrigen Nebenräume doppelt darauf denken müssen; den Bildern Rechnung zu tragen durch die Wahl des vorherrschenden Tones. Alles dies unmaßgeblich gesagt, da wir die Vorstellung von der Gesamtwirkung, die der Meister gefaßt hat, nicht besitzen.

Die Komposition betreffend, so gründet sich die Szene zu Altdorf in der Anordnung der Hauptgruppen auf das allbekannte Bild des Ludwig Vogel, wie uns scheint mit Recht. Wenn ein so eminent patriotischer Gegenstand in der Arbeit des Altmeisters so glücklich behandelt und so populär geworden ist, ohne daß er sich jemals der monumentalen, gewissermaßen offiziellen Ausführung erfreute, so darf der glücklichere Nachfolger, dem diese Aufgabe zufiel, dem Alten billig die Ehre erweisen, an sein Werk in ein paar großen Zügen zu erinnern, es pietätvoll hervorleuchten zu lassen und zu sagen, ich weiß das nicht besser zu machen! Hat er doch des Eigenen, Selbständigen dabei die Fülle hinzuzubringen, so daß wir immerhin ein neues schönes Werk besitzen. So unterscheidet sich die Hauptfigur bei aller Ähnlichkeit der Situation wesentlich von dem Teil Ludwig Vogels. Dieser ist in seiner heroisch-pathetischen Haltung dem Vogt und der ganzen Gesellschaft überlegen; es sieht fast aus, als habe er seine eigene Geschichte und den Schiller gelesen, er ist idealisiert. Stückelbergs Tell dagegen ist ganz in der Leidenschaft befangen; er weiß nichts, als daß er in der Not ist und sich wehren muß. Auf dem Plattenbilde schwebt er nicht etwa als eleganter Turner mit triumphierender Gebärde in der Luft, sondern er liegt von der Gewalt des Sprunges und der Wellen hingeworfen auf dem Strande, und der Gesichtsausdruck zeigt nur die unmittelbare Aufregung des Augenblickes, freilich als Vorbote Zugleich des nächsten Entschlusses.

Die Komposition des Rütlischwures dürfte, soweit uns das Vorhandene bekannt ist, an der Spitze aller den Gegenstand umfassenden Bildwerke stehen. Die etwelche rituelle Langweile, die sonst über den drei Männern zu schweben pflegt, wird durch die Gruppierung der hinzutretenden Volksgenossen der drei Länder aufgelöst, ohne daß man ein Theaterpersonal nach aufgezogenem Vorhang zu sehen glaubt. Die allgemeine Bewegung ist vortrefflich individualisiert und das hohe Pathos der Handlung von den wirklichen und natürlichen Regungen des Kummers, der Sorge, des Mutes und der Entschlossenheit erfüllt oder getragen. Hiebei ist die Kunst höchlich zu loben, mit welcher der Maler die bekannten schönen Porträtstudien verwendet, die er unter den Nachkommen der ersten Eidgenossen gesammelt hat. Da ist keine Rede von einer Anzahl mehr oder weniger unbelebter Modellköpfe; alles geht vollständig in der Aktion auf und verleiht doch derselben einen typischen Charakter. Rühmlich ist die naturwahre und wohlverstandene Behandlung des landschaftlichen Beiwerkes im Vordergrunde, der Steine, des Terrains und des Gesträuches etc., im Gegensatze zu dem konventionellen Schlendrian, mit dem sonst in historischen Fresken dergleichen bedacht wird. Sogar das mit dem Morgengrauen erlöschende Feuer am Boden ist gründlich studiert und leistet dadurch seinen Beitrag zur Wirkung des Ganzen.

Obgleich die Nebeldecke über dem See hängen blieb, verweilten wir doch zwei Tage auf oder vielmehr in der «Tellsplatte», in welcher der Namenspatron derselben ohne Zweifel rasch einen Augenblick eingekehrt wäre, wenn sie zur Zeit seines glorreichen Sprunges schon existiert hätte.

Als wir nach Luzern zurückgekehrt waren, führte uns ein freundlicher Stern in die permanente Kunstausstellung dieser Stadt, welche sich an zugänglichem Orte in dem alten Rathause befindet und immer etwas Neues aufzuweisen scheint. Unverhofft standen wir wenigstens vor einem neuen Bilde Arnold Böcklins, des Basler Mitbürgers Ernst Stückelbergs, von dem wir eben kamen. Kein merkwürdigerer Gegensatz hätte unser warten können. Dort ein Kreis historischer Kompositionen, das Ergebnis ganzer Entwicklungsreihen und kombinierter Arbeit; hier eine schimmernde Seifenblase der Phantasie, die vor unsern Augen in das Element zu zerfließen droht, aus welchem sie sich gebildet hat. Es ist wieder eine von Böcklins Tritonenfamilien, die wir in ihrem Stilleben überraschen, ohne daß sie sich stören lassen. Aus den hochgehenden Meereswellen, unter den jagenden Sturmwolken hebt eine Klippe ihren Rücken gerade soviel hervor daß die Leutchen darauf Platz finden. Der Triton sitzt aufrecht, dunkel und schattig, und läßt auf dem in die Luft gestreckten Bein das Junge reiten, das aus vollem Leibe lacht. Neben ihm liegt die Frau in völligem Müßigsein auf dem Rücken. Mit menschlichen Beinen begabt statt den Fischschwänzen, in modische Kleider gesteckt und nach Paris versetzt, würde die bildschöne Person bald im eigenen Wagen fahren; hier aber hat sie nichts zu tun, als eines der reizenden und geheimnisvollen Farbenepigramme Böcklins darzustellen. Denn wo der «schlohweiße» Menschenkörper in den Fisch übergeht, trifft ein durchbrechender Sonnenstrahl die Fischhaut, daß diese im schönsten Schmelze beglänzter Perlmutterfarben irisiert. Sowie dieser Sonnenblick hinter die Wolken tritt, wird das Märchen wieder im Wellenschaum vergehen, aus dem es gestiegen.

Es heißt, daß Böcklin nur einmal in seiner Jugend zahlreiche und sorgfältige Studien nach der Natur gemalt habe und seither sich mit Spazierengehen und Anschauen begnüge. In diesem Falle ist die Kraft, die man Phantasie nennt, zugleich die Schatzmeisterin, Ergänzerin und Neuhervorbringerin, und mit dem Gedicht des Gegenstandes ist auch schon das Licht- und Farbenproblem und die Logik der Ausführung gegeben. Auch von dem berühmten Düsseldorfer Andreas Achenbach sagte man Ähnliches. So soll er schon als junger Mensch in einer Winterlandschaft die durchsichtig übereinander liegenden Eisschichten eines wiederholt überfrorenen Flusses aus dem Gedächtnisse und alla prima so gemalt haben, wie andere es nur nach der Natur und mit gehörigen Untermalungen hätten hervorbringen können.

Das unverhoffte Anschauen von Gegensätzen war indessen mit dem Böcklinschen Bilde noch nicht zu Ende. Das Glück führte uns in das stille Landhaus des Herren Robert Zünd, des Landschafters, der durch die ernste und selbständige Richtung seines Genius, sowie durch die voll erworbene Fähigkeit, ihr auch zu folgen, sich längst auszeichnet. In frühern Jahren malte Zünd vorzugsweise stilisierte Landschaften, meist mit biblischer Staffage. Diese Bilder bewegten sich keineswegs in bekannten Schablonen, sondern waren immer schön und eigentümlich gedacht, sowie breit, fest und wirkungsreich behandelt. Unversehens, für den ferner Stehenden wenigstens, geschah eine Art Umwandlung. Die Formate der Bilder wurden kleiner, die heroischen Gegenstände verwandelten sich in friedlich intime Dorfgelände aus der Umgebung von Luzern, so anspruchslos und bescheiden in der Komposition als möglich, allein mit so zarter Sicherheit und harmonischer Reinheit des Pinsels behandelt, daß sie fast nur an die feinsten und kostbarsten Niederländer erinnern konnten. Das Wort Komposition ist oben insofern noch an seinem Platz, als der bei aller Bescheidenheit wohlbedachten Wahl des Gegenstandes eine sorgfältige Anordnung der einzelnen Teile und der Beleuchtung zur Seite stand und somit das Werk als selbständiges Bild, als ein Neues begründete.

Weder von der frühern, noch von dieser letzteren Stilform fanden wir eine Probe in der Werkstatt des Herrn Zünd. Auf der Staffelei stand der Vollendung nah das Innere eines prächtigen Hochwaldes von Laubhölzern, ein vollkommen geschlossenes Bild von vollster Wirkung und merkwürdiger Ausführung. Es war aber nichts anderes als die etwas vergrößerte Kopie einer bis zum letzten Strich nach der Natur gemalten Studie. Einige Änderungen, Weglassungen oder Zutaten, die der Künstler des lieben Herkommens wegen versucht, hatte er wieder beseitigt, um das gelungene Werk der Mama Natur nicht zu verderben. Es ist ja hin und wieder vorgekommen und kommt noch vor, daß ein Maler ein solches Kunststück mit ausdauerndem Fleiße unter freiem Himmel ausführt, wenn man auch nicht untersuchen darf, was er hinterdrein oder zwischendurch in der Stube verschönert oder verschlimmbessert. Wir wollten also schon den Zufall preisen, der hier wieder einmal durch das Medium eines preiswürdigen Meisters einen solchen Geniestreich gemacht und ein fertiges Bild geliefert habe; wie wunderten wir uns aber, als der Künstler nun eine ganze Schicht solcher Studienbilder, eines nach dem andern, hervorholte und aufstellte. Die verschiedenartigsten Motive entrollten sich, aber jedes war ein wirkliches klares und rundes Motiv, einem feinen Gedankenbilde, einem Gedichte gleichend und doch draußen aus dem Boden gewachsen bis zum letzten Halm. Und kein einziges Touristenstück, keine Vedute oder Knalleffekt aus dem nahen Hochgebirge darunter, sondern lauter Gegenstände, welche das ungeübte Auge, der ungebildete Geschmack draußen im Freien weder sieht noch ahnt, die aber doch dort und nicht erfunden sind, Dinge, welche in allen Meistersammlungen für schöne und gute Dinge gelten. Wo ist nun hier die schaffende Kraft? Die Phantasie oder Vorstellungskraft des Künstlers hat hier nichts zu erfinden; aber ohne sie würden diese Perlen, die kein anderer gesehen hätte, nicht gefunden, freilich aber auch ohne das virtuose technische Geschick des Künstlers nicht festgehalten und zu Gesichte gebracht werden, und eben dieses technische Geschick gehört wiederum mit zum Geheimnisse jener doppelsinnigen Phantasie und ist mit ihr aufs innigste verwachsen. Wahrscheinlich ist die edle Übung dieser fein gewählten und vollendeten Naturstudien, die man am liebsten gleich mit einem Rahmen versähe, auch wieder eine Phase des Künstlers, und wir dürfen vielleicht nach derselben einer neuen, aus den bisherigen Phasen sich entwickelnden Richtung entgegensehen; vielleicht entsteht so die wahre ideale Reallandschaft oder die reale Ideallandschaft wieder einmal für eine kurze Zeit.

Von unserem verwegenen Ausfluge heimgekehrt saßen wir ein Weilchen auf dem Trockenen punkto Malerfreuden, bis wir auf den billigen Einfall gerieten, dahin zu gehen, wo wir hätten anfangen sollen, und so suchten wir Rudolf Kollers sonnigen Wohnsitz auf, den die Wellen des Sees in ewig wechselnder Gestalt bespülen. Die Bedeutenden unter unsern Schweizerkünstlern leben meistens in einer Art freiwilliger Verbannung; entweder entsagen sie der Heimat und verbringen das Leben dort, wo Sitten und Reichtümer der Gesellschaft sowie Einrichtungen und Bedürfnisse des Staates die Träger der Kunst zu Brot und Ehren gelangen lassen, oder sie entsagen, gewöhnlich in zuversichtlichen Jugendjahren, diesen Vorteilen und bleiben in der Heimat, wo ein warmes Vaterhaus, ein ererbter oder erworbener Sitz in schöner Lage, Freunde, Mitbürger und Lebensgewohnheiten sie festhalten. Gelingt es auch dem einen und andern, seine Werke und seinen Namen in weiteren Kreisen zur Geltung zu bringen und sich zu entwickeln, vermißt er auch weniger den großen Markt und die materielle Förderung, so ist es doch bei den Besten dieser Heimsitzer nicht leicht auszurechnen, wie viel sie durch die künstlerische Einsamkeit, den Mangel einer zahlreichen ebenbürtigen Kunstgenossenschaft entbehren. Alle Liebhaber, Dilettanten, Schreibekritiker regen weder an, noch ist etwas von ihnen zu lernen; man kennt uns ja insgesamt daran, daß wir vor allem neu Entstehenden uns entweder mit alten Gemeinplatzen behelfen oder uns erst besinnen und suchen müssen, was wir etwa sagen können oder wollen, um nur etwas zu sagen. Der wirkliche Kunstgenosse dagegen weiß auf den ersten Blick, was er sieht, und beim Austausche der Urteile und Erfahrungen verständigt man sich mit wenigen Worten. Und nicht nur das tägliche Schauen alter und neuer Meisterwerke und der Wetteifer mit vielen tüchtigen Genossen erhalten die Kraft: auch der Ärger über widerstrebende Richtungen, der kritische Zorn über die hohlen Gebilde aufgeblasener Nichtkönner ist gesund und bewahrt die Künstlerseele vor dem Einschlafen, und auch diese Nutzbarkeit ist nur auf den Plätzen des großen Verkehres zu haben.

Was nun unsern Rudolf Koller betrifft, so gehört er zu der Partei derjenigen, die daheim bleiben und vereinzelt im Vaterlande leben, und es ist zu vermuten, daß nicht zum mindesten die bequeme und liebliche Behausung am See den Maler festgehalten habe. Wie dem auch sei, so hat dieser die Einsamkeit siegreich überwunden und bis auf diesen Augenblick so rastlos und mutvoll gearbeitet, wie wenn er mitten im auf- und anregenden Treiben eines Zentrums lebte. Auch jetzt fanden wir das Atelier wieder nach Verhältnissen eines Meisters ausgestattet, der sich durch keine Schwierigkeiten von seinen Zielen abziehen, sondern Konzeptionen und Ausführungen in unverminderter Kraft und Kühnheit sich folgen läßt. Eine Sendung für die gegenwärtige Wiener Ausstellung stand eben bereit: neben der durch Gewittersturm überraschten Heuernte, die von der letztjährigen Schweizer Ausstellung her bekannt ist, in gleich großem Maßstabe ein seither entstandener Aufzug auf die Alp, ein Bild, das mit seiner prächtigen Naturfrische und Lichtfülle aufs neue das große Talent beurkundet, welches ein im konventionellen Schlendrian versunken gewesenes Genre original in die Höhe gebracht hat und aufrecht hält.

Es ist nicht die programmgemäße Erzählung eines vollständigen Aufzuges von Tieren und Leuten, der sich in einer formenüberfüllten Gebirgslandschaft hinanschlängelt; vielmehr sehen wir in echt malerischer Beschränkung eine einzelne Gruppe vor uns, die uns mitten in die Fahrt versetzt. Der Zug hat schon die höhere Bergregion erreicht und sich in der Freiheit der «reinen Lüfte» gelockert. So treffen wir eben auf eine lustig vordringende Gruppe von ein paar Rindern und einem Rudel Schafe, worunter ein angehendes Stierli, das offenbar zum erstenmal auf die Alp kommt. Ein junger Senn, an eine schöne falbe Kuh gelehnt, schaut sich um und lenkt so den Blick auf einige Hirten und Tiere, die in der Entfernung durch den silbernen Morgenduft heraufkommen. Trotz dieser mäßigen Zahl von Figuren fühlen und wissen wir, warum es sich handelt, wir befinden uns sozusagen selber mitten in dem Stück schöner Natur und wohliger Bewegung. Wir wissen, daß ein Teil des Zuges schon voraus ist, ein anderer noch kommen wird.

Koller hat, lange bevor die jetzige Sensationsmalerei existierte, seine Vordergründe, wo die Größenverhältnisse der Bilder es bedingten, mit ungebrochen blühenden Farben auszustatten geliebt; er steht nun um so gerechtfertigter da, als er dabei niemals seine männliche Art und Besonnenheit und die Gesetze ehrlichen Fleißes überschritten hat. Auch auf gegenwärtigem Bilde stehen wir im frischesten Grün, das von der bunt aufgeblühten Alpenflora durchwirkt ist. Von diesem Boden heben sich die Figuren um so kräftiger ab, als das Firngebirge des Hintergrundes, mit den wallenden Wolken des Morgennebels verschmolzen, mehr geahnt als gesehen wird und kaum hie und da schimmernd durchblickt. Dies gibt, verbunden mit dem kraftvollen Vorgrunde, der ganzen Darstellung ihre Weite, Leichtigkeit und Lichtfülle, sowie auch die heitere Ruhe in aller Bewegung. Das Bild ist übrigens nicht nach Wien abgegangen, da es noch im Atelier verkauft wurde.

Einen eigentümlichen Reiz gewährte das zweite Zimmer der Werkstatt durch seine dermalige Ausschmückung. Die eigentliche Landspitze des Zürichhorns, angrenzend an Herrn Kollers Besitzung, ist ein Überrest des ursprünglichen Ufergeländes im idyllischen Zustände vor der Zeit der Landanlagen und Quaibauten, als Schilf und Weidicht mit den über das Wasser hängenden Fruchtbäumen abwechselten. Man hat jetzt keinen Begriff mehr von dem malerischen Anblick der Seeufer bis nahe an die Stadtmauern, und Goethe müßte weit hinauffahren, bis er singen könnte:

Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.

Bis jetzt Staatseigentum, blieb das fragliche Landstück auf Zusehen hin im alten Zustande, zumal es Ausmündungsstelle eines Wildbaches ist, der erst in letzter Zeit eingebaut wurde. Diesem Umstände ist es zu danken, daß ein kleiner Wald von Weiden sich vollständig auswachsen konnte und einen Park von stattlichen Bäumen mit vollen runden Formen bildet, wie sie ein Poussin sich nicht besser wünschen konnte, mit Durchblicken in den westlichen Abendhimmel, auf den See und auf die im Morgenlichte schwimmenden Gebirgslinien. Niemand, der nicht näher hinzutrat und namentlich das Innere des aus der Entfernung so schlicht anzusehenden kleinen Gehölzes nicht kennt, vermutete einen so köstlichen Schatz darin zu finden. Aber erst durch eine Reihe rein landschaftlicher Bilder, die Rudolf Koller daraus geschöpft hat, ist der Wert recht zu Tage getreten, und zwar wörtlich in allen Tagszeiten; denn vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung hat er die schönen Bäume mit der atmosphärischen Erscheinung verbunden wiedergegeben, in durchgeführten Bildern dieselbe Einsamkeit, dasselbe geheimnisvolle Naturwalten in mannigfachem Wechsel dargestellt und so seine alte Vielseitigkeit neuerdings bewährt. Wir könnten uns nichts Sinnigeres denken als ein Zimmer oder einen Saal, der ausschließlich mit diesen anmutigen Baumbildern dekoriert wäre, wozu freilich ein etwas geschulter Geschmack und eine unverkümmerte Liebe zur alten grünen Waldeinsamkeit gehörte.

Das Wäldchen ist übrigens aus Anlaß der letzten Bachkorrektion schon bedeutend geschädigt worden und wird wohl bald ganz vom Erdboden verschwinden. Daher ist das Denkmal, das der Künstler dem vergänglichen Gewächse gestiftet hat, ebenso verdienstlich als rührend. Bäume wachsen immer wieder, aber immer weniger in den Himmel; denn wenn es im «Faust» heißt: «Aber die Sonne duldet kein Weißes», so kann man jetzt sagen: «Aber der Bauherr duldet kein Grünes». Die gleiche Generation, die jetzt Bäume pflanzt, pflegt sie auch wieder umzuschlagen, auszureißen und sorgfältig klein zu machen, ehe sie abzieht, gleich wie die Mietsleute Stuben und Küche ausfegen, wenn sie eine Wohnung verlassen. Kein Mensch wird einst glauben, daß die Kollerschen Weidenbilder hier gewachsen und gemalt worden seien.


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