Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Die Stellung der Utopia in der Geschichte des Sozialismus.

Wer die ebenso leidenschaftliche wie tief durchdachte Anklage gegen die bürgerliche Gesellschaft und die so machtvolle Verherrlichung des Kommunismus liest, mit der Raphael Hythlodäus seine Darstellung Utopiens endet, kann, wenn er auch sonst nichts von der Moreschen Schrift gelesen hätte, nicht im Zweifel über ihren Charakter sein – so sollte man wenigstens meinen. Aber die bürgerliche Gelehrsamkeit scheint einmal dazu verurteilt, unzurechnungsfähig zu werden, sobald sie dem Sozialismus gegenübertritt, und so erklären die Historiker, ultramontane wie liberale, mit Vorliebe die Utopia als »heitere Scherze einer heiteren Seele«, »als das phantastische Gedankenspiel einer verrauschenden Stunde« oder als eine gelehrte Spielerei, als eine Variierung der platonischen Republik.

Wir bekommen ein anderes Bild, wenn wir zusehen, welche Rolle die Utopia in der Geschichte des sozialistischen Gedankens spielt.

Weit entfernt, eine Nachahmung des platonischen Kommunismus zu sein, ist der Moresche Kommunismus grundverschieden von ihm und ebensosehr vom christlichen Kommunismus. Nicht aus antiquarischer Bücherweisheit ist er entsprossen, sondern aus tiefer Einsicht in die Bedürfnisse und die Hilfsmittel seiner Zeit, und so verschieden das England Heinrichs VIII. vom Athen des Peloponnesischen Krieges und dem Reich der Cäsaren ist, ebenso verschieden ist der Moresche Kommunismus vom platonischen und urchristlichen.

Wohl hat er mit seinen Vorgängern manches gemein, so zum Beispiel die hohe Stellung der Frau, die lebhaft an Plato erinnert, oder die gemeinsamen Mahlzeiten; aber in wesentlichen Punkten erhebt er sich über alle früheren Formen des Kommunismus.

Bis zur Utopia hatte man nur einen kommunalen oder genossenschaftlichen Kommunismus gekannt; der Kommunismus wird in der Idee wie in der Wirklichkeit beschränkt auf einzelne Gemeinden oder Korporationen. More war der erste, der den Kommunismus dem neu aufgekommenen modernen Staate anzupassen suchte, im Gegensatz nicht nur zu seinen Vorgängern, für welche dieser Staat noch nicht existierte, sondern auch zu seinen kommunistischen Zeitgenossen, den christlich-demokratischen Wiedertäufern. Er war der erste, der die kühne Idee der Organisation der Produktion im Rahmen eines großen nationalen Staates faßte.

Hier haben wir aber auch schon ein zweites wesentliches Merkmal des Moreschen Kommunismus berührt. Zu dessen Kennzeichnung müssen wir etwas weiter ausholen.

Die soziale Situation in England zu Mores Zeit entsprach in vielen Punkten der Situation Italiens zur Zeit der Gracchen. Aber in einem sehr wesentlichen Punkt unterschied sie sich von dieser. In Italien wurde die Bauernwirtschaft verdrängt durch ein ökonomisch tieferstehendes Wirtschaftssystem, das der Sklavenwirtschaft. Man sah nur ein Heilmittel für die kranke Gesellschaft: die Neuschaffung einer Bauernschaft, die Rückkehr zum Gewesenen, nicht den Fortschritt zu einer höheren Produktionsweise. Aber das Lumpenproletariat wollte davon nichts wissen, es verlangte nach Brot und Spielen, nicht nach Arbeit und dem Besitz von Produktionsmitteln. Schließlich versank ein Teil der Gesellschaft in stumpfe Hoffnungslosigkeit, in einem anderen Teil bildeten sich Tendenzen nach einem Kommunismus der Genußmittel.

Anders im England des sechzehnten Jahrhunderts. Nicht nur eine neue Staatsordnung wurde damals begründet, sondern auch eine neue, höhere Produktionsordnung, die nicht auf der Arbeit von Sklaven sich aufbaut, sondern auf der von Arbeitern, die frei sind in jeder Beziehung, vogelfrei, losgelöst von jedem Besitz, auch vom Haushalt des Besitzenden, dem der Sklave, der Handwerksgeselle, der Bauernknecht angehört. Derartige freie Besitzlose, Proletarier, in größerer Zahl hatte man bisher vorwiegend in der Form von parasitischen Lumpenproletariern gekannt. Die Zahl der arbeitenden Proletarier war verhältnismäßig gering gewesen. Um die Wende des fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert begann sie anzuschwellen; neben den städtischen Taglöhnern und den Hausindustriellen, die von Kapitalisten (Kaufleuten) ausgebeutet wurden, bildete sich ein Bergwerksproletariat, das für die kapitalistischen Gewerken (Aktionäre) der Bergwerke schanzte; bildete sich endlich mancherorts, namentlich aber in England, ein Proletariat landwirtschaftlicher Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft teils direkt dem Grundherrn, teils dem kapitalistischen Pächter verkauften.

Das Bedürfen dieser Art von Proletarier ist ganz anderer Art als das des Lumpenproletariers. Der letztere verlangt nicht nach Arbeit, sondern nach Brot; versteigt er sich zur Idee des Kommunismus, dann ist dieser ein Kommunismus der Genußmittel. Der echte Lohnproletarier, der sich über das Niveau des Lumpenproletariers nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch erhoben hat, kommt zu Brot nur durch Arbeit. Sein erster Wunsch ist: Arbeit. In gewissem Sinne begegnet er sich darin mit den Wünschen des Kapitalisten. Dieser bedarf eines Proletariats, das nach Arbeit verlangt, nicht nach Almosen. Die Wohltätigkeit ist ihm ein Greuel, denn sie verringert die Zufuhr freier Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt. Andererseits widerstreitet es seinem eigenen Interesse, die Arbeitskräfte verhungern zu lassen, die er gerade nicht braucht. Er kann sie später vielleicht verwenden, und ihre Anwesenheit übt stets einen Druck auf die Löhne. Können die Arbeitslosen sich nicht selbst erhalten, und sollen sie nicht von der Wohltätigkeit unterstützt werden, dann bleibt, um sie vor dem Hungertod zu bewahren, nichts anderes übrig, als ihnen Arbeit in einer Form zu geben, die der kapitalistischen Ausbeutung nicht Abbruch tut.

Das Recht auf Arbeit wird unter Umständen zu einem Bedürfnis nicht nur des Lohnproletariats, sondern auch der Kapitalistenklasse.

Das Recht auf Arbeit im kapitalistischen Sinne fand seine erste praktische Verwirklichung in England durch das Armengesetz der Königin Elisabeth von 1601, welches bestimmte, daß die Gemeinden verpflichtet seien, den arbeitsfähigen Armen Arbeit zu verschaffen. Es war nicht das Recht auf lohnende, zweckmäßige, nützliche Arbeit, sondern das Recht auf sinnlose Abrackerung gegen erbärmliche Entschädigung; das Arbeitshaus ( workhouse) wurde zu einem Hause der Qual, aus dem der Arbeiter jederzeit unter die Fuchtel des Kapitalisten sich zurücksehnte.

Lange, ehe die Gesetzgebung der Elisabeth die kapitalistische Fassung des Rechts auf Arbeit formulierte, hat More die Bedingung gefunden, unter der allein dies Recht auf Arbeit als Grundlage von Wohlstand im Sinne des arbeitenden Proletariats verwirklicht werden kann. Diese Bedingung ist das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln.

Dasselbe spielt in Utopien eine ganz andere Rolle, als bei den in den früheren Bänden betrachteten Formen des bewußten Kommunismus – vom urwüchsigen sehen wir ja in unserer ganzen Darstellung ab. Es bildet dort die Grundlage der Gesellschaft, während es bei den früheren Formen des bewußten Kommunismus, soweit es bei ihnen überhaupt vorkam, nur eine Neben- und Folgeerscheinung des Kommunismus an Genußmitteln war.

Für More ist gerade diese letztere Art des Kommunismus von sekundärer Bedeutung; wohl kennt er die Gemeinsamkeit der Mahlzeiten, aber nur für die städtische Bevölkerung, und auch für diese sind sie nicht obligatorisch, wenn auch selbstverständlich. Im übrigen aber herrscht in Utopien der private Haushalt, und zwar in der dem Handwerk und dem Bauerntum entsprechenden Form – eine höhere technische Grundlage hatte die Gesellschaft zu Mores Zeit noch nicht erreicht. Der Kommunismus Utopiens ist im wesentlichen ein Kommunismus des Produzierens.

Dieser fundamentale Unterschied zwischen dem Moreschen Kommunismus und dessen Vorgängern hat auch wesentliche Verschiedenheiten in ihren Verhältnissen zur Familie und Ehe zur Folge. Die Moresche Idealgesellschaft ist nicht, wie die platonische oder die der christlichen Kommunisten, der Familie und Einzelehe feindlich gesinnt und nur durch Inkonsequenz mit diesen Einrichtungen vereinbar. Andererseits aber steht das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln in Widerspruch zu jener Form der Familie und Ehe, in der der Haushaltungsvorstand der Herr über die Mitglieder seiner Familie ist; Herr über Weib und Kind ebenso wie über Sklaven und Knechte. Diese Herrschaft hat ihre ökonomischen Wurzeln in dem Privateigentum, vor allem dem an den Produktionsmitteln. Der Mann beherrscht die Familie als Besitzer ihrer Existenzbedingungen. Wo kein Privateigentum an den Produktionsmitteln herrscht, besteht auch nicht die ökonomische Wurzel der patriarchalischen Zwangsfamilie und Zwangsehe; sie hört in der kapitalistischen Gesellschaft auf für das Proletariat, sie hört in einem kommunistischen Gemeinwesen auf für die ganze Gesellschaft. Die Frau wird ökonomisch unabhängig vom Mann, die Kinder von den Eltern. Die fortschreitende Reduzierung der Arbeiten für den privaten Haushalt durch die technische Entwicklung wirkt in gleicher Richtung.

Die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln bedingt keineswegs die Aushebung der Einzelehe und Einzelfamilie, wohl aber eine erhebliche Änderung ihres Charakters. Die Bande, die Mann und Weib, Eltern und Kinder dann zusammenhalten, können verschiedenster Art sein, vor allem dürften da wirksam sein die als Produkt einer langen Kulturentwicklung heute bereits ziemlich erstarkten Empfindungen der individuellen Geschlechtsliebe und der väterlichen Liebe, die keineswegs so natürlich ist wie die mütterliche – aber Familie und Ehe hören auf, ökonomische Institute zu sein und auf der Herrschaft des Gatten und Vaters zu beruhen.

More ist, der ökonomischen Rückständigkeit seiner Zeit entsprechend, inkonsequent, wenn er die Zwangsehe und Zwangsfamilie mit Mannesherrschaft beibehält; aber er ist in seiner Art ebenso logisch und konsequent, wenn er Einzelehe und Familie beibehält, wie Plato es war, wenn er für sein ideales Gemeinwesen diese Einrichtungen verwarf.

Noch ein Punkt ist hier bemerkenswert: Mores Stellung zur Wissenschaft.

Der christlich-demokratische Kommunismus war, wie wir gesehen haben, der Gelehrsamkeit feind; gehörte sie doch zu den Herrschaftsmitteln seiner Zeit. Er entsproß nicht tiefer, wissenschaftlicher Einsicht, sondern dem instinktiven Bedürfnis und ebenso instinktiver Empörung der Besitzlosen und Ausgebeuteten und der mit ihnen Sympathisierenden. Dieser Kommunismus, der sich nur auf kleine Gemeinschaften erstreckte, bedurfte nicht der Wissenschaft, um erfaßt und durchgeführt zu werden; dazu genügte jene geschäftliche Erfahrung, die das Alltagsleben auch der unteren Klassen mit sich brachte.

In Utopien spielt die Wissenschaft eine große Rolle. Das ist selbstverständlich in dem Idealstaat eines Humanisten. Aber die hohe Stelle der Wissenschaft entspringt da nicht bloß einer persönlichen Liebhaberei. Ein sozialistisches Gemeinwesen im Rahmen des nationalen Staats ist, selbst in der einfachen Form, die More ihm gibt, viel zu kompliziert, als daß seine Idee einem philosophisch ungeschulten Geiste hätte entspringen können. Nur ein Denker, der nicht bloß die tiefste Einsicht in das gesamte ökonomische und politische Getriebe seiner Zeit besaß, sondern der auch seinen Gesichtskreis erweitert und von Vorurteilen gereinigt hatte durch das Studium vergangener gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer geistigen Produkte, ein Denker, der seinen Geist an den höchsten und kühnsten Resultaten der antiken Philosophie geschärft hatte, so daß er gewohnt war, einen Gedanken bis in seine letzten Konsequenzen zu verfolgen und aus den Anfängen einer Tendenz deren letzte Ergebnisse zu erkennen, nur ein derartiger Denker war imstande, zur Lösung der sozialen Probleme seiner Zeit ein kommunistisches Gemeinwesen, gleich dem utopischen, zu ersinnen.

Zum ersten Male seit Plato tritt bei More wieder die Wissenschaft in den Dienst des Kommunismus. Sie, die dem christlich-demokratischen Kommunismus nur als Feindin sich zeigte, beginnt nun selbst die Grundlagen zu einer neueren, höheren Form des Kommunismus zu legen.

Aber bei Plato ist die Wissenschaft, gemäß dem aristokratischen Charakter seines Kommunismus, das Monopol der Aristokratie. Der Moresche Kommunismus ist demokratisch; nicht der drohende Zerfall der Aristokratie hat ihn erzeugt, sondern das Anschwellen des Massenproletariats. Sein Ziel ist die Aufhebung jeglicher Herrschaft und Ausbeutung, die Zugänglichkeit aller Genüsse für alle. Die Wissenschaft darf weder Herrschaftsmittel bei ihm sein, noch ein nur wenigen erreichbares Genußmittel. Er macht sie, als den höchsten aller Genüsse, allen zugänglich.

Wohl war seine Zeit noch weit entfernt vom Maschinenwesen, aber ihm genügen bereits die Planmäßigkeit der Produktion und die gleiche Arbeitspflicht aller, um die Zeit der gewerblichen Arbeit täglich für jeden auf wenige Stunden zu reduzieren, neben denen genügend Raum für wissenschaftliche Beschäftigungen bleibt.

Dieser Gedanke konnte den christlich-demokratischen Kommunisten nicht kommen. Sie hatten nicht nur kein Interesse an der Lösung, die er brachte, da sie zur Wissenschaft sich ablehnend verhielten, sie konnten auch gar nicht daran denken, die Arbeitszeit in dem Maße zu verkürzen, wie es in Utopien geschieht. Denn sie bildeten nur kleine Gemeinden innerhalb der bestehenden Gesellschaft, welche weder deren Planlosigkeit noch deren Ausbeutung aufhoben. Wo sie geduldet wurden, wie in Mähren, geschah es gerade, weil sie so gute Ausbeutungsobjekte waren. Sie arbeiteten nicht bloß für sich, sondern auch für ihre Herren, Grundherren und Landesherren, ihre Arbeitszeit unterschied sich daher nicht von der ihrer privat wirtschaftenden Genossen; der Kommunismus brachte ihnen größere wirtschaftliche Sicherheit, auch größeren Wohlstand, aber kaum geringere Arbeitslast. Es wird vielmehr gerade die Emsigkeit der böhmischen Brüder, der mährischen Wiedertäufer, der Mennoniten usw. hervorgehoben. Die Arbeitszeit bei den mährischen Täufern dauerte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, mit einer Stunde Mittagspause. Loserth, Der Kommunismus der mährischen Wiedertäufer, S. 134.

Betrachten wir alle diese Eigentümlichkeiten der Moreschen Utopie: Ausdehnung des Kommunismus auf das Gebiet eines großen nationalen Staates, Begründung des Gemeinwesens auf den Kommunismus der Produktion, Versöhnung des Kommunismus mit der Einzelehe und Familie sowie, ohne Preisgabe des demokratischen Wesens, mit der Wissenschaft, endlich weitgehende Verkürzung der täglichen Arbeitszeit für körperliche Arbeit. Diese Punkte unterscheiden den Moreschen Kommunismus von allen vorhergehenden Formen des bewußten Kommunismus, wir finden sie dafür mehr oder weniger ausgeprägt, wenn auch nicht immer alle vereinigt in den Formen des seitherigen Kommunismus, die irgendwelche Bedeutung erlangt haben.

Mit der »Utopia« Mores beginnt der moderne Sozialismus.

Wohl klebt ihr in Einzelheiten noch manche Rückständigkeit ihrer Zeit an. Wenn sie zum Beispiel die Frau höher stellt, als im allgemeinen das sechzehnte Jahrhundert tat, wenn sie ihr zum Beispiel den Zugang zur Wissenschaft eröffnet, so läßt sie doch die Unterordnung der Frau unter den Mann bestehen. Sie fesselt auch jeden an ein bestimmtes Handwerk, allerdings mit Ausnahmen, sie kennt sogar noch Zwangsarbeiter.

Andererseits sind viele der späteren sozialistischen Systeme, namentlich neuere, mit viel reicheren, mannigfaltigeren und kunstvolleren Einrichtungen ausgestattet. Aber so viel prächtiger und moderner auch diese sozialen Gebäude sein mögen, ihre Grundlagen sind dieselben wie die der Utopia. Darüber ist der Sozialismus bis in die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht hinausgekommen. Ja manche der späteren Systeme weisen sogar Rückschritte auf, indem sie zum Beispiel die staatliche Grundlage verlassen und den Sozialismus wieder auf kommunaler oder genossenschaftlicher Grundlage ausbauen wollen.

Noch in einem wesentlichen Punkt ist die Utopia vorbildlich geworden für den Sozialismus bis zu dem bezeichneten Zeitraum, in einem Punkt, der von ihr den Namen erhalten hat, im Utopismus.

Wir haben gesehen, daß More ein Gegner von Volksbewegungen war. Das gilt nicht bloß für den Humanisten und Staatsmann, sondern auch für den Kommunisten. Kommunistische Volksbewegungen waren ihm verhaßt, auch die Bewegung der Wiedertäufer. So schrieb er an Johann Cochläus: »Deutschland bringt jetzt täglich mehr Ungeheuer hervor, als Afrika jemals tat. Was kann ungeheuerlicher sein als die Wiedertäufer

Diese Abneigung gegen Volksbewegungen bildet eine Eigentümlichkeit auch der meisten späteren Sozialisten bis in das vorige Jahrhundert hinein, selbst noch zu einer Zeit, als eine kraftvolle Arbeiterbewegung bereits begonnen hatte, sich zu entwickeln, wo die Sache der Demokratie keineswegs so hoffnungslos war wie zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts. Aber diese Sozialisten betrachteten die Gesellschaft nicht als einen Organismus, der sich entwickelt, sondern als ein Uhrwerk, das, einmal in bestimmter Form gegeben, immer in derselben Weise abläuft. Sie verglichen nicht das Proletariat ihrer Zeit mit dem vor fünfzig und hundert Jahren; sie sahen daher nicht, daß es vorwärts marschiert, daß es eine aufsteigende Klasse ist, daß ihm die Zukunft gehört. Sie verglichen das Proletariat mit den besitzenden Klassen ihrer Zeit und fanden diese jenem in allen Punkten so sehr überlegen, daß ihnen die selbständige Bewegung des Proletariats hoffnungslos erschien, daß nur aus den höheren Klassen die Macht kommen konnte, die den Sozialismus durchführte.

More läßt den Kommunismus in Utopien von einem erleuchteten Fürsten eingeführt werden; der aufgeklärte Despotismus geriet später vielfach in Mißkredit, man erwartete mehr von der bürgerlichen Philanthropie, von erleuchteten Millionären oder gar von Zauberformeln, deren Anwendung ohne weiteres die neue Gesellschaft bringen sollte. Der Klassenkampf des Proletariats blieb unbeliebt, er erschien nicht nur hoffnungslos, er störte auch die Kreise der Sozialisten, da er die bürgerlichen Philanthropen abstieß, die für den Sozialismus gewonnen werden sollten.

Hand in Hand mit der Anschauung des Utopismus, die Arbeiterklasse sei unfähig, sich selbst zu befreien, geht eine andere Eigentümlichkeit desselben, der Drang nach detaillierter Ausmalung der Zukunftsgesellschaft. Das war ganz unvermeidlich. Der Utopismus rechnet nicht auf den Enthusiasmus jener, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, sondern auf den Enthusiasmus und die Menschenfreundlichkeit jener, denen es in der bestehenden Gesellschaft ganz wohl geht, die für sich an ihr nicht viel auszusetzen haben. Die Menschenfreundlichkeit zu erwecken, dazu bedarf es einer sprechenden Darstellung des Elends, von dessen Ausdehnung die Mehrzahl der Wohlhabenden keine Idee hat, und einer scharfen Hervorhebung aller bestehenden Mißstände überhaupt. Diese Seite, die kritische, ist in der Regel die glänzendste und ergreifendste in den Werken der Utopisten. Aber sie genügt nicht, um die Menschenfreundlichkeit zu jenem Enthusiasmus zu erheben, der die notwendige Vorbedingung zur Durchführung einer so großartigen Ausgabe ist, wie die Verwirklichung des Kommunismus. Dazu bedarf es des eingehenden Nachweises, daß die Idealgesellschaft auch des Schweißes der Edlen wert ist. Je plastischer und anschaulicher diese Gesellschaft vor die Augen der Menschenfreunde gezaubert wird, desto größer ihre propagandistische Wirkung in den Kreisen der Besitzenden.

Wir haben vor etwa dreißig Jahren an dem Beispiel von Bellamys » Looking backwards« erlebt, wie groß die Wirkung einer derartigen anschaulichen Schilderung sein kann – wie groß, aber auch wie wenig nachhaltig, wie kraftlos der Enthusiasmus ist, den der Utopismus erzeugt. Heute kümmert sich kein Mensch mehr um die Utopie des Amerikaners.

Neben der Rücksicht auf die propagandistische Wirkung ist es noch ein anderer Umstand, der den Utopisten zur Ausmalung des »Zukunftsstaates« drängt, und dieser Umstand ist der entscheidende dabei.

Das Bedürfnis nach dem Kommunismus ersteht überall, wo ein hoffnungsloses Massenproletariat sich bildet. Je nach dem Charakter dieses Proletariats, ob es Lumpenproletariat oder arbeitendes Proletariat ist, gestaltet sich auch der Charakter des seinen Bedürfnissen entsprechenden Kommunismus; er ist entweder ein Kommunismus der Genußmittel oder der Produktionsmittel. Aber das Auftreten des hoffnungslosen Massenproletariats und des Bedürfnisses nach Kommunismus fällt keineswegs zusammen mit dem Auftreten der Bedingungen zur Verwirklichung des Kommunismus.

Solange dieser nicht als das notwendige Endergebnis einer absehbaren Entwicklung der Gesellschaft erscheint, gibt es nur einen denkbaren Weg, ihn durchzuführen: die Ausarbeitung eines möglichst umfassenden Planes der neuen Gesellschaftsordnung und die Gewinnung der nötigen Mittel zu dessen Ausführung. Die Gesellschaft wird gedacht wie ein Gebäude, dessen Formen von dem Belieben des Architekten und Bauherrn abhängen, an dessen Aufbau man aber nicht schreiten kann, ehe die nötigen Pläne und Berechnungen vollendet sind. Diese Auffassung ist das wesentliche Kennzeichen des Utopismus.

Derselbe wurde immer mehr und mehr erschüttert durch die tatsächliche ökonomische und politische Entwicklung der dreißiger und vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts; vollständig, konsequent und vollbewußt überwunden wurde er erst durch Marx und Engels, die mit dem Kommunistischen Manifest 1847 eine neue Epoche des Sozialismus begründeten.

Dies näher auszuführen, ist hier nicht der Ort. Worauf es uns hier ankam, das war, darauf hinzuweisen, daß bis zur Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus durch Marx und Engels, also durch mehr als drei Jahrhunderte, der sozialistische Gedanke sich in den Bahnen bewegt hat, die Thomas More zuerst gewandelt ist.

Das Werk, das den bürgerlichen Geschichtschreibern als ein Scherz und eine Spielerei erscheint, ist ein Merkstein geworden in der Geschichte des menschlichen Denkens; es hat in der Geschichte des Sozialismus eine Epoche von mehreren hundert Jahren eingeleitet, es hat die Form des Sozialismus begründet, die unmittelbar derjenigen vorhergeht, in der er die Welt erobern wird.

Wenn man diese Leistung vergleicht mit der ökonomischen Rückständigkeit seiner Zeit und ihren geringen Hilfsmitteln sozialer Einsicht, dann begreift man erst völlig die Bedeutung des ersten modernen Sozialisten.

Thomas More ist nicht nur eine der liebenswürdigsten und selbstlosesten, eine der charaktervollsten und kühnsten, er ist auch eine der genialsten Gestalten in der Geschichte der Menschheit.


 << zurück weiter >>