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II. Die Hillschen Postreformen.

Häufig hat man schon gefragt, wie es komme, daß das Postwesen in England im großen ganzen entwickelter, vielseitiger und fortschrittlicher ist als sonstwo, mit Ausnahme Deutschlands. Dabei wissen die Leute, die so fragen, nicht einmal, daß dieser wichtige Kulturfaktor bis 1840 im Nebellande mehr im argen lag, als in den meisten anderen Staaten Europas.

Jene Frage ist dahin zu beantworten, daß die Ursache des Vorranges Englands zum Teil an der Priorität des Eisenbahnwesens liegt, welches, eine englische Erfindung, naturgemäß zuerst auf der Insel John Bulls auch zur Entfaltung kam, – in erster Linie aber darin gesucht werden muß, daß daselbst die Neugestaltung des Postwesens im Geiste der modernen Zeit viel früher in Angriff genommen wurde als anderwärts. Die Erfindung der Eisenbahnen förderte die Entwicklung der Post durch die Beschleunigung des Verkehrs auf allen Gebieten, auch auf dem der Briefbeförderung, und die Steigerung des Verkehrs machte die Einführung von Postreformen zu einer bloßen Frage der Zeit.

Den Anstoß zu dem ganzen modernen Weltpostwesen, das den meisten von uns wie etwas Selbstverständliches und längst Gewohntes erscheint, gab eine 1837 veröffentlichte Broschüre: »Die Wichtigkeit und Durchführbarkeit einer Reform des Postwesens.« Ihr Verfasser war Rowland Hill, ein Bruder Matthew Davenport Hills, des verdienstvollen Reformators des Gefängniswesens. Als kleiner Knabe schon zeigte er eine große Vorliebe für arithmetische Berechnungen: es machte ihm ein besonderes Vergnügen, auf dem Kaminteppich zu liegen und stundenlang Zahlen herzusagen. Erwachsen, wurde er Lehrer der Mathematik an seines Vaters Schule. Später erhielt er die Stelle eines Schriftführers der Kommission für Südaustralien und leistete bei der Organisierung dieser Kolonie wertvolle Dienste. Wahrscheinlich war es vor allem seine Neigung für Zahlengruppen, die seine Aufmerksamkeit auf die Anzahl der zur Post gegebenen Briefe lenkte, sowie auf deren Verhältnis zur Bevölkerungsziffer, zu den Beförderungskosten und den staatlichen – auch stattlichen – Portosätzen. Dazu kam, daß er Gelegenheit hatte, zu beobachten, wie gar viele Unbemittelte die Postverwaltung hintergingen, indem sie einander leere Briefbogen sandten, ihr Befinden durch unscheinbare Zeichen auf der Adresse andeuteten, die Zahlung des Strafportos für diese unfrankierten Foppbriefe verweigerten und solchergestalt in Wirklichkeit zwar recht lakonisch, aber dafür ganz unentgeltlich korrespondierten.

Während die postalischen Einnahmen anderer Staaten fortwährend stiegen, sanken diejenigen Englands trotz der Zunahme der Bevölkerung. Die törichten Einrichtungen des britischen Postwesens zeitigten viele Mißbräuche. Die Portosätze waren überaus hoch und mannigfaltig; sie unterschieden sich nach der Entfernung, dem Gewicht, dem Umfang und der Bogenzahl der Briefe. Die Londoner Lokalpost bildete einen abgesonderten Zweig der Verwaltung und hatte eigene Tarife. Die Frankaturkosten für jeden zahlungspflichtigen Brief betrugen durchschnittlich 6½ Pence (gleich 55 Pfennige)! Und das war noch nicht alles; überstieg ein Brief den Umfang von einem Bogen, so unterlag er einem höheren Satz. Die Ermittlung der Bogenzahl führte natürlich zu ungemein vielen Verletzungen des Briefgeheimnisses seitens der Beamten. Die Parlamentsmitglieder erfreuten sich des Vorrechtes, eine gewisse Menge von Briefen portofrei abschicken zu dürfen; Mitgliedern der Regierung stand dieses Recht in unbeschränktem Maße zu. Die so Begünstigten durften auch – mit Hilfe ihrer Unterschrift auf den Umschlägen – die Briefe jeder beliebigen anderen Person portofrei machen, so daß die Postanstalt einen großen Teil ihrer Arbeit unentgeltlich besorgen mußte. So erklärten sich ihre Mindereinnahmen teilweise; den Rest der Erklärung fand man im Briefschmuggel, der in ungeheurem Maßstabe betrieben wurde und infolge der bestehenden Auswüchse des Postwesens im ganzen Lande, namentlich aber auf den hauptsächlichsten Verkehrsstrecken, in hoher Blüte stand. Die Besitzer fast sämtlicher öffentlicher Kommunikationsbehelfe befaßten sich mit diesem gesetzwidrigen, wenngleich nicht unbegreiflichen Geschäftszweig.

Entschlossen, seinen Landsleuten zu einem verbesserten Postwesen zu verhelfen, ohne die Staatskasse zu schädigen – im Gegenteil! – forderte Hill, daß das Porto für einen einfachen Brief von bestimmtem Gewicht (nicht Bogenzahl) innerhalb des vereinigten Königreiches einen Penny betrage, daß die ungerechten Portofreiheiten aufhören und daß die Entrichtung der Frankatur angesichts des voraus sichtlich starken Anwachsens des Korrespondenzverkehrs behufs Entlastung der Postbeamten in Briefmarken – eine von Hill auf Anraten Knights aufgegriffene Idee von P. Chalmers – erfolge. Nebenbei empfahl er einen häufigeren Postengang und eine größere Beförderungsgeschwindigkeit. Seine Darlegungen beruhten in erster Linie auf dem Umstand, daß die Beförderungskosten recht niedrig sind und durch große Entfernungen nur in sehr geringem Grade gesteigert werden, sowie auf der Anschauung: je billiger die Portosätze, desto größer die Einnahmen und der Gewinn.

Diese Ansicht war bereits von der Praxis bestätigt worden, indem im Jahre 1836, also ein Jahr vor dem Erscheinen der Hillschen Broschüre, das Zeitungsporto von 4 Pence auf 1 Penny herabgesetzt worden war und diese Maßregel eine ungeheure Zunahme des Umsatzes zur Folge gehabt hatte. Trotzdem und trotz der zahlreichen Petitionen, die das Parlament aus dem Publikum erhielt, hatte unser Reformator lange zu kämpfen. Heute fordert Henniker Heaton die Einführung des Pennyportos im internationalen Verkehr des ganzen Weltpostvereins; damals aber erklärten viele »Weise« Hill für wahnsinnig, weil er das Brief-Pennyporto für das Inland vorschlug. In den Kreisen der Gesetzgebung und der Postverwaltung wurden die unsinnigsten Einwendungen gegen die Ausführbarkeit oder gegen die Ratsamkeit der geplanten Reformen laut. Die ganze Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit, welche den meisten großen Neuerungen in den Weg zu treten pflegt, machte sich auch Hill gegenüber geltend. Dieser mußte manchen harten Strauß ausfechten, doch schließlich drang er durch. Da der vom Parlament eingesetzte Sonderausschuß sich für die Einführung der Reform aussprach, bissen Regierung wie Gesetzgebung in den sauren Apfel, nicht ohne daß die letztere sich verpflichten mußte, ein infolge der Neuerungen etwa entstehendes Defizit anderweit zu decken.

Die Postverwaltung bildete sich nämlich ein, daß ein Sinken der Einnahmen unvermeidlich sein werde, genau wie die zonentariffeindlichen Eisenbahnverwaltungen sich gegenwärtig einbilden, ihre Einnahmen müßten im Falle der Einführung niedrigerer Sätze sinken. In Wirklichkeit ergab sich schon nach wenigen Jahren ein großer Überschuß; dieser, sowie das enorme Steigen des Briefverkehrs übertraf alle Erwartungen, und allmählich machten sämtliche Kulturländer von dem Hillschen Einheits- und Markensystem Gebrauch. Hill trat nach Annahme seiner Vorschläge an die Spitze der britischen Postverwaltung, zog sich 1864 mit reichen Nationaldotierungen und hoher Pension vom Dienst zurück, wurde geadelt und starb 1879 im Alter von 84 Jahren. Mit vollem Recht wurde ihm in London ein Monument gesetzt. Was sind Eroberer und große Kriegshelden gegen Reformatoren wie Hill? Jene vernichten, diese schaffen Gutes, unterwerfen Zeit und Raum ihrem Willen und drängen in kurze Zeiträume zusammen, was sich sonst vielleicht nur langsam entwickeln würde. Fast die ganze Erde hat aus Rowland Hills Bemühungen Nutzen gezogen, denn sein Einheitsporto ist nach und nach von fast allen Kulturländern angenommen worden, zuletzt (erst 1906) von dem postalisch so rückständigen Frankreich.

Und die Briefmarken – welch ungeheure Rolle spielen sie in unserem modernen Leben! Sie sind das beliebteste aller Sammelobjekte geworden, und manche alte Marken haben einen Wert von Tausenden. Es gibt zahllose Markenhandlungen, in Berlin sogar eine offizielle Markenbörse, der Engrosexport dieses Artikels ist sehr nennenswert. Man hat bereits viele Briefmarken-Zeitungen, mehrere Werke über Markenkunde, und die letztere ist fast zum Range einer Wissenschaft (»Philatelie«) erhoben.

Hill führte während seiner langen Dienstzeit noch sehr viele Verbesserungen im Postwesen ein, die natürlich zunächst hauptsächlich seinem Vaterlande zugute kamen. Unter ihm, beziehungsweise auf seine Anregung verbilligten sich auch die internationalen Porti wesentlich; er machte die Post zur Bank, zur Sparkasse, zur Versicherungsanstalt usw., begann die Herausgabe von postalischen Hilfsbüchern fürs Publikum und von Jahresberichten der Postverwaltung, richtete ein vortreffliches Beschwerden-Bearbeitungssystem ein, schuf die wunderbaren fliegenden Postzüge Eine ausführliche Behandlung des gesamten englischen Postwesens findet sich in des Verfassers »Bilder aus dem englischen Leben« (2. Aufl., Leipzig 1883).. Er hatte die Freude, die Einführung der offenen Postkarte Dieser ausgezeichnete Verkehrsbehelf, eine Erfindung des österreichischen Ministerialrats und Volkswirtes Emanuel Herrmann, wurde am 1. Oktober 1869 eingeführt – zu allererst in Österreich-Ungarn. und die Gründung des Weltpostvereins zu erleben.

Seit Hill hat, was insbesondre die Verbilligung der Tarife betrifft, keine so einschneidende Reform Platz gegriffen, wie die unter Stephans Nachfolger Podbielski eingeführte Ermäßigung der Postgebühren im reichsdeutschen Ortsverkehr: Brief bis 250 g 5 Pf., Postkarte 2 Pf., Drucksache von 101-250 g 5 Pf. usw. Diese radikale Herabsetzung war eine Folge der Übernahme der privaten Lokalposten – einer Eigentümlichkeit Deutschlands – durch die staatliche Postverwaltung. Leider hat der Reichstag in unbegreiflicher Verblendung im Mai 1906 einen Teil dieser segensreichen und bei Übernahme der Privatposten verbürgten Reformen wieder rückgängig gemacht – ja, ja, wir stehen im Zeichen des Verkehrs!!!


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