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Die Verminderung der Grösse

Die literarischen Erzeugnisse, denen wir in den verschiedenen Epochen begegnen, sind durchaus nicht immer das Ergebnis eines freien Spiels und einer selbstständigen Entfaltung der produktiven Kräfte jener Zeit. Neben solchen Leistungen, in denen eine starke und in sich abgeschlossene Persönlichkeit sich mit ihrer eigenen und unabhängigen Sprache und Gestaltung zum Vortrag bringt, steht immer eine ganze Literatur, die ihre besondere Note von dem Umstand bekommt, dass sie gewisse zeitgebundene literarische Bedürfnisse befriedigt. Zuweilen erscheint es so, als ob solche Literatur originell sei und erst durch ihre Originalität ein Bedürfnis im Kreise der Leser erzeuge; etwa derart, wie das Angebot von neuen Gegenständen des täglichen Bedarfs, unterstützt von einer psychologisch angehauchten Propaganda, künstlich Bedürfnisse erzeugt, von denen gestern noch niemand geträumt hat.

Aber wenn man die literarischen Moden der Zeit genauer analysiert, stellt sich doch heraus, dass sie einem in der Zeit liegenden Bedürfnis entgegenkommen und es lediglich aktualisieren. Die Detektiv-Geschichte zum Beispiel, für die Edgar Allan Poe den literarischen Grundton angab, und die sich dann lawinenhaft zu einer Massenliteratur auswuchs, erzeugte nicht erst ein ganz neues Interesse, sondern befriedigte ein schon vorhandenes. Unter den Themen, die das brennende Interesse der Menschen erregen, hat das Verbrechen von jeher eine bevorzugte Stellung eingenommen. Zu den frühesten Anthologien der Weltliteratur gehören nebst Götterlegenden und Märchen vor allem berühmte Verbrechen, Gerade sie rühren an tiefe Instinkte. Sie befriedigen ein ewig latentes Bedürfnis aus nicht überwundenen Urzeiten: die Bereitschaft zur Begegnung mit den bösen und grausamen Möglichkeiten unserer unbewussten Welt. Im Mord manifestiert sich am klarsten jene Hemmungslosigkeit, jene letzte unbedenkliche Herrschaft über Andere, die das Recht des Urmenschen und der – durch Zivilisation nur unzulänglich verdrängte – Wunschtraum des modernen Menschen ist. Aber gerade diese Zivilisation mit der gewaltigen Komplizierung der äusseren Tatbestände des Lebens hat sowohl das Verbrechen als auch seine Aufdeckung aus ihrer Geradheit und Primitivität auf ein Niveau äusserster Differenziertheit gehoben. Anstelle der Folter von einst, die Geständnisse erzwang, trat das psychologische Kalkül, das kriminelle Tatbestände mit fast mathematischer Gewissheit errechnet. Der literarische Produzent, der sich auf diesen Vorgang einstellte, konnte einer unersättlichen Schar von Abnehmern gewiss sein. Die latente Nachfrage erzeugte das Angebot.

Die gleichen Erwägungen gelten auch für andere Sparten der Literatur, vor allem für das weite Gebiet, das wir mit dem Namen Biographie bezeichnen. Auch sie hat eine sehr lange Geschichte, die eben ihrer Dauer wegen bekundet, dass das Interesse der Menschen an dieser Gattung der Literatur niemals ausgesetzt hat. In den Anfängen ist die Biographie sozusagen regional begrenzt. Sie trägt ausgesprochenen Stammescharakter. In ihrer klassischen Form, wie etwa die Erzväter-Legenden der Bibel sie darstellen, befriedigt die Biographie nicht nur das Interesse des Menschen an einmaligen und ungewöhnlichen Vorgängen, an Dingen, die an seine Neugierde und seine kindliche Bereitschaft zum Staunen appellieren; sondern sie dient ihm zugleich dazu, eine persönliche Beziehung, eine unmittelbare Verknüpfung zwischen dem Träger der Biographie und sich selbst zu schaffen. Der Held – wenn wir ihn einmal so nennen wollen – ist nicht irgend jemand, von dem zu hören es ihr gelüstet. Er ist der Ausgangspunkt seiner Stammesgeschichte; er ist sein eigener, entfernter Vorfahre, an dessen Schicksal er nachfühlend und nacherlebend teil hat. Und es ist nicht ein Schicksal der Alltäglichkeit, das übliche und gewohnte, wie es jeden von ihnen treffen kann. Es ist sehr tief eingebettet in einen Untergrund des Geheimnisvollen, des Mystischen, des Wunderbaren. Gott oder die Götter oder ein Zauber walten da in den Anfängen und in den Abläufen, und sie heben alles Tun und alles Geschehen hoch über den Alltag hinaus. Die Biographie hat in ihren Urzeiten die Klangfarbe des Religiösen.

Es ist in voller Übereinstimmung mit dieser nicht-alltäglichen Bedeutung, dass diese biographischen Berichte sich in das nicht-alltägliche, in das betont feierliche Gewand des Epos kleiden. Ob wir den erregenden Lebensbericht des Gilgamesch oder die klassisch ernsten Shahnama-Gesänge des Firduzi oder die pathetischen Kampfsagen des Bhagavadgita oder die Abenteuer der Odyssee vor uns haben: das wesentliche ist immer der biographische Bericht, der sich vor dem Hintergrund des Religiösen oder auch nur des Mythologischen abspielt, gekleidet in die höchste Kunstform, die jeweils zur Verfügung steht. Und es ist sehr bezeichnend, dass die Aera, die die Kultur der europäischen Welt einleitete, eröffnet wird mit dem dreifachen biographischen Bericht der synoptischen Evangelien über das Leben und das Schicksal einer einzigen Gestalt. Wenn von den Barbaren der europäischen Länder überhaupt zu erwarten stand, dass sie ihr primitives Göttertum zugunsten einer wirklichen Religion aufgaben, so konnte das nicht einfach dadurch geschehen, dass man ihnen einen Gott vorstellte, der jenseits ihres Verständnisses lag. Es musste eine Gestalt gegeben werden, zu [deren besonderem] Charakter und Schicksal sie sich persönlich in Beziehung setzen konnten, und zwar nicht nur passiv aufnehmend, sondern auch aktiv nachahmend.

Dass hier eine klare Absicht vorherrschte, wird in der Forderung nach der imitatio Christi ohne weiteres einleuchtend. Hier – wie auch in der nachfolgenden reichen Literatur der Heiligen-Geschichten – wird zugleich einer der wesentlichen Gründe aufgehellt, warum die Biographie einem immer latenten Bedürfnis des Menschen entgegen kommt. Kein Mensch – und sei er noch so dumpf – ist so sehr seinem Alltag untertan und von ihm so wunschlos ausgefüllt, dass in ihm der Traum von einer erhöhten Existenz, von der vermehrten Bedeutsamkeit seines Tuns und Wandels nicht Raum hätte. Und selbst wenn die Kraft oder die natürliche Begabung nicht ausreichen, es den grossen Menschen gleich zu tun, wird doch die Illusion der Möglichkeit ausreichend befriedigt durch die Versenkung in das, was Anderen, Grösseren zu tun möglich war. Die Gestalt der Biographie wird zum Ideal, auch wenn es als unerreichbar erkannt wird.

Wie die Jahrhunderte dahin gehen und aus neuen Erfahrungen neue Denkwelten entstehen, tritt der alte Hintergrund des Religiösen oder Mystischen allmählich zurück, und statt seiner erhebt sich, noch ungewiss im Schatten liegend, der individuelle Hintergrund. Was das bedeutet, wird klar, wenn wir einen Blick auf die Renaissance Italiens werfen. Hier geschah es zum ersten Male, dass der Zerfall vieler alten Bindungen – sowohl im Staatlichen wie im Kirchlichen – die Auflösung einer bis dahin einheitlichen Welt ermöglichte. Sie hörte auf, eine Welt der göttlichen Gegebenheiten zu sein, die man gläubig und ohne Möglichkeit von Kritik und Änderung hinnehmen musste. Der Mensch begann, sich der Welt gegenüberzustellen, sie zu betrachten, zu werten, zu begehren, und sich in diesem Begehren zu einem selbständigen Mittelpunkt des Geschehens zu machen. Dieses Individuum, das die Fesseln der Tradition abwirft und sich ganz auf sich selbst stellt, wird nicht nur der Schöpfer einer neuen Moral, der Moral des Tyrannen und des Condottiere, sondern er findet auch einen neuen Ausdruck für ein uraltes menschliches Bedürfnis: das der Anerkennung durch andere. Da er ein Emporkömmling ist, und keine Tradition und Erbschaft ihm Autorität verleihen, verbündet er sich mit jenen, deren Autorität in ihren Leistungen begründet liegt: mit den Dichtern, Malern, Bildhauern, Architekten, Philosophen. Und so wird er der Mäzen, der sich einen grossen Dichter nicht weniger kosten lässt als einen Feldzug. Und er wird damit zugleich auch der Schrittmacher eines neuen Lebensgenusses. Alle die Montefeltre, Sforza, Gonzaga, Este, Medici, so viel Hass sie auch notwendig um sich anhäufen, appellieren doch höchst wirksam an den Instinkt der Menge, den Gewaltigen, selbst wo er gewalttätig ist, als Autorität anzuerkennen; den Menschen des Erfolges, der sich mit Leistungen der Kunst und der Wissenschaft als den Insignien seines Erfolges schmücken kann, staunend zu bewundern; das Individuum, das für sich selbst die hemmungslose Aufhebung aller Bindungen vollzogen hat, glühend zu beneiden. In diesem Bezirk entsteht somit ganz folgerichtig eine ausgedehnte biographische Literatur, die mit fast hemmungsloser Mitteilungssucht das Leben ihrer ›Helden‹ in allen Einzelheiten durchforscht und darstellt. Der Begriff ›Ruhm‹, der im Altertum selbst auf den Kraftmenschen Herkules und den Brandstifter Herostrat angewandt wurde, bekommt einen ganz neuen, man kann sagen: einen europäischen Inhalt. Er wird für diejenigen verwandt, die durch die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Materiellen wie im Geistigen aufgezeigt haben, welche grossen Möglichkeiten im unabhängigen Menschen schlummern, und wie weit er in die Sterne greifen darf, um sich selber zum Mittelpunkt eines Mikrokosmos zu machen.

Aber diese Epoche des ruhmreichen Individuums und seiner Biographie hat nicht länger vorgehalten, als das Individuum selbst sich in dieser relativen Unabhängigkeit behaupten konnte. Solche individuelle Selbstbehauptung ist zu allen Zeiten der Ausnahmezustand gewesen, das zeitweilige Ausbrechen Einzelner aus der Herde und aus einem kollektiven Zusammenhang, für den sich immer wieder neue Motive und neue Notwendigkeiten einstellen. Es ist sehr charakteristisch, dass gerade in jener Renaissancezeit, die das Individuum vor den Hintergrund der Welt und der weltlichen Erfolge stellt, auch jene gewaltige Sammelbiographie geschrieben wird, die den Menschen mit letzter Rücksichtslosigkeit wieder vor den grossen religiösen, vor den schicksalhaft gemeinsamen Hintergrund des Glaubens rückt: Dantes Göttliche Komödie.

Es hatte für eine gewisse Zeit den Anschein, als ob diese Freiheit der Persönlichkeit, die in der Degeneration der Renaissance nicht aufrecht erhalten werden konnte, doch aufgefangen werden würde in der allgemeinen Atmosphäre der Reformation. Hier wurde von dem Begriff ›Freiheit‹ so weitgehend Gebrauch gemacht, dass sich der Anbruch einer neuen Epoche für das Individuum erwarten liess. Aber de facto wurde ein gegenläufiger Prozess eingeleitet. War es nicht Luther selber, der anlässlich des Aufstandes der bedrückten Bauern kategorisch erklärte, dass der Begriff ›Freiheit‹ nicht aus dem religiösen Bezirk in den weltlichen hinüber getragen werden dürfe? Die religiöse Freiheit aber, die an vielen Punkten der europäischen Welt erstrebt wurde, konnte sich – eben weil sie religiös war – nur in einer neuen Gruppierung, in dem oft sektenmässigen Abschluss, in einer neuen Kollektivisierung und damit in verschärfter Disziplinierung des Einzelnen einen Ausdruck schaffen. Dasselbe gilt natürlich verstärkt für die Gegenreformation. Die Persönlichkeiten, die unter solchen Umständen auftreten und deren Lebensgeschichte das Interesse der Menschen in Anspruch nimmt, sind die Führer dieser zu einem Kollektiv zurückgezwungenen Masse: Huss, Calvin, Zwingli, von Hutten, Ignaz von Loyola. Es ist wenig Glanz in ihnen, dagegen viel Strenge und zuweilen verbissene Entschlossenheit. Aber das war eben auch der Charakter der Bewegung selber, der sie die Richtung gaben. Was über sie geschrieben wird, ist keine sehr aufheiternde Lektüre. Aber sie befriedigt ein Bedürfnis: sie stärkt den Leser in der Ausnahmestellung, in die sein religiöses Bekenntnis ihn notwendig verweist.

In dieser Zeit der religiösen Spannungen und Spaltungen taucht eine Biographie auf, die es verdient, gesondert erwähnt zu werden. Sie hat einen so unerhörten Bucherfolg, wie ihn nur ein Buch haben kann, das dem brennenden Interesse eines fast unbegrenzten Leserkreises entgegen kommt. Es ist die Lebensgeschichte des Ahasver, des Ewigen Juden, dieser Gestalt, die niemals gelebt hat, und die doch endlich einmal geschaffen werden musste, um den europäischen Massen eine Erklärung dafür zu geben, warum in allen Wandlungen ihrer religiösen Welt dieser eine, der Jude, unbeeinflusst und unbeeindruckt in der Isolierung verblieb. Hier wird eine befriedigende Antwort gegeben: sein Leben ist ein Nicht-Sterben-Können, ein Fluch, der ihm als Rache für die Kreuzigung Jesu anhängt. Hier interessiert weder der literarische Ursprung des Berichtes noch die besondere Art der Mythenbildung, die darin zum Ausdruck kommt. Sondern hier wird eine weitere Funktion aufgedeckt, die von solchen Berichten, von solchen Biographien immer wieder erfüllt wird. Denn nicht nur der Drang zur Nachahmung und die Bereitschaft zur Anerkennung einer Autorität begründen den Reiz des biographischen Berichtes; sondern auch die lustbetonte Wertsteigerung, die der Mensch aus der Masse sich verschafft, wenn er sich gegen Geheimnisvolles, Unheimliches, Unverstandenes, das jenseits seiner Erkenntnis liegt, selbstzufrieden und mit einem moralischen Hochgefühl abgrenzen kann. Und man sage nicht, dass solche Genusssucht des Hasses und der unkontrollierten Selbstüberhebung auf Zeiten einer geringen Allgemeinbildung beschränkt sei. Im Gegenteil: der Höhepunkt solcher Instinktreaktion war der Gegenwart vorbehalten, in der das Elaborat eines grössenwahnsinnigen Illiteraten, mit ideologischen Fetzen genügend ausgestopft, für hundert Millionen Menschen – auch jenseits der deutschen Grenzen – eine Heilige Schrift der Erkenntnis wurde. Aber das darf nicht verwundern. Gäbe es eine Biographie des Teufels, die damit abschliesst, dass alle seine ideologischen Widersacher lebendig in der Hölle geröstet werden, so würde sie der grösste Bucherfolg aller Zeiten sein.

Es muss nun auffällig erscheinen, dass im weiteren zeitlichen Verlauf, im 16. und 17. Jahrhundert, eine ganze Serie von Gestalten auftaucht, die nicht nur alle Züge ausgeprägter Individualität tragen, sondern auch in ihrem geistigen Habitus alle Eigenschaften der Grösse und Bedeutung aufweisen: Descartes, Pascal, Erasmus, Spinoza, Newton und viele andere. Es müsste zu erwarten sein, dass diese Eigenschaften ihnen auch das persönliche Interesse der Massen sichern und sie darauf gespannt machen, den Rahmen und Ablauf ihres Lebens kennen zu lernen. Aber das ist nicht der Fall. Das biographische Interesse für diese Gestalten ist einer viel späteren Zeit vorbehalten. Es waren die Jahrhundert-Feiern ihrer Geburt oder ihres Todes, die mit beinahe geheimnisvoller Dringlichkeit nach Biographien dieser grossen Rationalisten förmlich schrien. Aber in ihrer eigenen und der folgenden Generation bekunden sie lediglich die Tatsache, dass sich zwischen der Masse und den produktiven Individuen eine Kluft aufgetan hat, die bis auf weiteres eine gegenseitige Berührung weder ermöglicht noch begehrt. Denn die Massen – soweit ihnen unter dem steigenden Druck der wirtschaftlichen Belastungen überhaupt ein Überschuss an Kraft bleibt, der ihnen die Teilnahme an den Ereignissen der grossen Welt ermöglicht – folgen nicht diesem Prozess der geistigen Intensivierung, sondern schlagen einen Weg der geistigen Extensivierung ein. Das heisst: ihre geistige Neugier wird von dem eingefangen und absorbiert, was der Fortschritt der Technik, was die Erfindungen und Entdeckungen ihnen in einem kontinuierlichen Strom darbieten. Aus der allgemeinen Masse isoliert sich fortschreitend ein besonderer kultureller Aufnahmeraum: der des bürgerlichen Standes. Gegen die Zufälligkeiten wirtschaftlicher Ungunst verhältnismässig gesichert, machen sie von der Möglichkeit Gebrauch, sich einen zusätzlichen Lebensinhalt zu verschaffen in dem, was man von da an mit dem besonderen Ausdruck der ›Allgemeinbildung‹ bezeichnet. In diesem Streben liegt etwas verborgen, was vielleicht auf den ersten Blick nicht erkennbar wird: eine Nachahmung jener an den Respekt und die Hochachtung appellierenden Gestalten, die man Polyhistor zu nennen pflegte; jene Universalgehirne, die sich die geistige Herrschaft über die Erscheinungen der Welt dadurch sichern, dass sie die Kenntnis ihrer Art und ihres Wesens in sich aufspeichern und zusammenfassen. Und gerade das war es, was den Reiz zur Nachahmung bildete: der Wunsch nach vermehrter Herrschaft über die Erscheinungen der Welt, die in immer grösserer Fülle aus jedem Bezirk der Natur und des Geistes auf die Menschen eindrangen und die Fundamente von gestern ohne Aufhören erschütterten. Freilich kam ihnen dabei nicht zu Bewusstsein, dass solcher Wunsch – als Nachahmung der universalen Gehirne – eigentlich im leeren Raume stand, denn der Polyhistor starb sehr bald, und er starb gerade an dem, was ihren Wunsch erregte: an der Massenhaftigkeit der Erscheinungen, die auf ihn eindrangen. Er musste den Platz räumen für den Spezialisten, der den Ausschnitt von einem Ausschnitt beherrschte.

In dem Masse aber, wie der Polyhistor durch den Spezialisten ersetzt wird, öffnet sich naturgemäss eine neue Kluft, und wieder vollziehen sich diesseits und jenseits der Kluft die Prozesse mit dem entgegengesetzten Richtungssinn: der Intensivierung und der Extensivierung. Der Spezialist besetzt Teilgebiete der exakten Wissenschaft, in die der Laie, der Mensch des expansiven Wissens, des Wissens der Neugierde, ihm nicht folgen kann, da ihm natürlicherweise die Voraussetzungen des exakten Wissens fehlen. Aber hier stehen wir vor der Erscheinung, dass er nicht bereit ist, diese Kluft zu respektieren. Er kann es auch nicht. Die Leistungen der Technik und der Wissenschaft setzen sich in immer schnellerem Tempo in reale Tatbestände des Lebens um, die ihn unmittelbar berühren, die auf seine Existenz bis in jeden Winkel seines Alltags Einfluss nehmen. Sein Bedürfnis, sie kennen zu lernen und nach Möglichkeit zu verstehen, ist unabweisbar und legitim. Zu seinem Glück wird dieses Bedürfnis befriedigt. Es ruft – wie wir es für andere Gebiete gesehen haben – den literarischen Produzenten auf den Plan, der seine Dienste als Vermittler anbietet. Seine Aufgabe besteht darin, die Kluft zwischen dem exakten Wissen des Spezialisten und dem Nicht-Wissen des Neugierigen dadurch zu befriedigen, dass er die Brücke der Popularisierung darüber wirft.

Niemand wird behaupten wollen, dass ein solcher Prozess der Popularisierung vermeidbar sei. Die Gefahren, die ihm anhaften, liegen nicht in dem Vorgang selber, sondern in zwei anderen Faktoren. Sie liegen zunächst im Vermittler, in dem Ausmass seiner Gewissenhaftigkeit oder Gewissenlosigkeit, in seiner Ernsthaftigkeit, Kenntnisse zu vermitteln, oder in seiner Unernsthaftigkeit, Sensationen zu erregen und seine geistigen Dienste für die Zwecke des persönlichen Erfolges einzuspannen. Sodann liegen die Gefahren in jener Industrie, die die gewerbsmässige Verbreitung seiner Produkte besorgt, und die man wohl am einfachsten mit dem Begriff ›Digest‹ bezeichnet. Hier findet eine ebenso interessante wie bedenkliche Grenzüberschreitung statt. Die Gegenwart erfreut sich vieler technischer Errungenschaften, die unter dem Sammelnamen ›Komfort‹ das Leben des Menschen müheloser, einfacher, zeitsparender, hygienischer zu machen bestimmt sind, und die damit eine erhebliche kulturelle Möglichkeit in sich schliessen: nämlich den Einzelnen zeitlich zu entlasten und ihn für die Aufnahme kultureller Werte frei zu machen. Aber dieser gewünschte und wünschenswerte Erfolg wird dadurch wieder aufgehoben, dass man die gleiche Technik auf die Vermittlung dessen überträgt, was man den kulturellen Komfort nennen könnte. Die Digest-Industrie versorgt ihre Abnehmer mit vorgekauter, dehydrierter, zum sofortigen Genuss bereiter geistiger Kost. Sie erlöst den Konsumenten sorgfältig von jeder kulturellen Anstrengung und von jeder Notwendigkeit, sich den Zugang zu seinen neuen Kenntnissen auch nur mit einem Minimum von geistigem Kraftaufwand zu erkämpfen. Sie begünstigt die Entwicklung jener geistigen Atmosphäre, in der eine Pseudo-Kultur ihren reinsten Ausdruck finden kann: die Atmosphäre der Halb-Bildung.

Ein solcher Prozess der Popularisierung, wenn man ihn hemmungslos sich selber überlässt, hat selbst unter den günstigsten äusseren Voraussetzungen seine bedenklichen Folgen. Der erzieherische Erfolg, der hier möglicherweise eintreten könnte, kann ja nicht erreicht werden durch Vermittlung von Wissen an sich. Die Sprachmünze ›Wissen ist Macht‹ ist so abgegriffen und abgewetzt, dass sie jedem Charlatan und jedem sogenannten Volkserzieher als Zahlung dienen kann. Man sollte sie aus dem geistigen Verkehr herausziehen. Wissen kann ja nur dann eine Macht bedeuten, wenn der, dem das Wissen zur Verfügung gestellt wird, aus eigener Begabung oder aus sorgfältiger Anleitung zu der Fähigkeit gelangt, die Wissensteile sinnvoll und nachdenklich mit einander zu verknüpfen und in dem Maschenwerk dieses Wissens – sei es nun eng oder weit – seinen Standort als Mensch und als Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu finden. Nur so besteht die Möglichkeit, ihn zu einem aktiven Teilnehmer an der Kultur der Zeit zu machen und ihn in den ungewissen Strom dessen zu lenken, was der unsterbliche Optimismus der menschlichen Natur als ›Fortschritt‹ bezeichnet. Fehlt aber solche Anleitung, mangelt solcher im höheren Sinne erzieherischer und schenkender Wille, waltet statt dessen die Tendenz, die selbständige Denktätigkeit des Wissbegierigen nach Möglichkeit auszuschalten und durch Verminderung des geistigen Niveaus der natürlichen Trägheit der Masse entgegen zu kommen – dann entsteht nicht eine Beziehung der aktiven kulturellen Teilnahme, sondern nur eine flüchtige Begegnung, gleich dem Auffall von Licht auf eine glatte Oberfläche, die nur deswegen farbenreich erscheint, weil sie alles sofort und ungebrochen reflektiert, das heisst: wieder von sich stösst.

Ist das schon unter günstigen äusseren Voraussetzungen der Fall, wieviel mehr unter den Bedingungen der Gegenwart, die man für ein echtes Kulturleben nur als in jedem Sinne feindlich und abträglich bezeichnen kann. Die Gründe dafür sind so offenbar, dass es kaum einer Analyse bedarf. Es genügt eine flüchtige Skizzierung der Entwicklungslinie. Sie läuft weitgehend parallel mit der unaufhaltsamen Technisierung des gesellschaftlichen Lebens. In diesen Prozess werden Millionen Menschen unter ständiger Verminderung ihres intellektuellen Tuns und ihrer besonderen Neigungen hineingezogen. Wenn sie sich in dem Malstrom der Technisierung behaupten wollen, müssen sie sich eine Beschränkung ihrer individuellen Fähigkeiten gefallen lassen. Sie müssen es hinnehmen, auf eng umrissene Sonderleistungen in einer hoch organisierten Gesamtleistung beschränkt zu werden. Was einmal in das produktive Belieben eines Einzelnen gestellt war, wird jetzt in kleinste Bestandteile zerlegt und unter viele aufgeteilt. Der Meister eines in sich einheitlichen Werkes wird degradiert zum Meister des speziellen, des radikal mechanisierten Handgriffes. Die Aktionsfreiheit verwandelt sich in organisierten Zwang, in hochgezüchtete Aktions-Armut.

Diese Verminderung geht aber noch weiter. Die Krisen der Zeit – ob sie sich nun in Kriegen oder in politischen Umwälzungen ausdrücken – tendieren dazu, unter der Parole der Nützlichkeit für die Gesamtheit den Einzelnen der Freiheit der Entscheidung selbst in Bezug auf sein Arbeitsgebiet zu berauben. Ihm wird nicht nur der Handgriff zugewiesen, sondern auch der ökonomische Ort, an dem er ihn zu vollziehen hat. Die Handlungsfreiheit verwandelt sich in Unterordnung mit disziplinärem Zwang.

Eine solche radikale Verminderung der individuellen Aktionen kann natürlich nicht ohne Einfluss bleiben auf die Denkweise und somit auf den geistigen Habitus derer, die diesem Prozess unterworfen sind. Die meisten von ihnen leben unter viel zu identischen Bedingungen, als dass sie nicht gleichmässig darauf reagieren sollten. Und die erste, die weitgehendste Reaktion drückt sich aus in einer Verschiebung der Lebensmotive. Das ökonomische Motiv kommt zwangsläufig in den Vordergrund. So wie die Arbeit des Einzelnen nicht mehr eingesetzt wird aus der Freiheit des Tuns und der Wahl, sondern ein Gegenstand wird, der auf dem grossen Markt der Wirtschaft angeboten und verkauft wird, so trägt auch die Beziehung zu den unwägbaren und doch so entscheidenden Genüssen des Lebens nicht mehr den Charakter der freien Wahl aus Neigung und Hingabe und Willen zur Bereicherung, sondern den Charakter einer Ware, die auf dem grossen Markte der Güter als Überschuss über die primitivsten Lebensbedürfnisse erstanden werden kann.

Die Wertminderung, die in dieser Art der ›kulturellen‹ Beziehung liegt, könnte allerdings in gewissem Umfange aufgehoben werden durch einen Vorteil, der darin eingeschlossen liegt: durch die leichtere Zugänglichkeit zu den Gegenständen der Kultur. Aber diese leichtere Zugänglichkeit betont doch nur wieder einen anderen Prozess, der mit der Mechanisierung des Daseins parallel verläuft: den Prozess der Kollektivisierung. Es mag immer noch diesem und jenem Einzelnen gelingen, sich im Gefüge der Wirtschaft und der immer dichter werdenden Verknüpfung aller Lebensbeziehungen seinen selbständigen Weg zu erkämpfen und sogar gegen den Strom zu schwimmen; aber die Masse ist hemmungslos dem Prozess der Kollektivisierung verfallen und wird immer widerstandsloser auf das Niveau der Herde von einst zurückgeworfen. Die Reaktionen der Menschen auf die Ereignisse der Wirtschaft, der Politik, der gesellschaftlichen Probleme, der zivilisatorischen Errungenschaften werden immer sichtbarer Reaktionen von Massen, und im besten Falle von Gruppen. Dieser Prozess erscheint in dem Masse unvermeidbar, in dem der Einzelne die Bedürfnisse seiner Existenz, die leiblichen wie die geistigen, nur noch befriedigen kann als unwesentlicher, auswechselbarer Bestandteil einer hoch organisierten Masse. Die geruhsame Zeit der gelassenen Auswahl von Lebensgenüssen ist für die Masse vorüber. Sie ist fast bis zur Ausschliesslichkeit auf das Standard-Produkt angewiesen, etwa derart, wie es von den grossen Filmkonzernen oder den populären Buchklubs unter sorgfältiger Ausbalanzierung eines Durchschnitts-Niveaus dargeboten wird.

Damit soll keineswegs behauptet werden, dass diese kulturelle Standardware durchweg minderwertig sei. Die Mannigfaltigkeit der dargebotenen kulturellen Produkte lässt sogar zuweilen den Anschein eines kulturellen Reichtums aufkommen. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Behendigkeit des Urteils und der Kritik, die als scheinbare Folge eines erweiterten intellektuellen Horizontes dem Einzelnen zu Gebote stehen, und die de facto nichts sind als die ziemlich uniformen Reflexe jener gefährlichen Halbbildung, der oben gedacht wurde. Aber die eigentliche Gefahr für das kulturelle Leben, als dessen Protektor die technische Zivilisation der Welt sich aufspielt, liegt nicht im Thema und nicht im Material der Kulturgegenstände, sondern in dem Zugang, den der Mensch aus der Masse sich zu diesen Dingen wählt; in der Beziehung, die er sich aus seinem mechanisierten und kollektivierten Dasein heraus zu diesen Dingen schafft, und nicht zuletzt in der Bereitwilligkeit der literarischen Produzenten, ihn in diesem seinem Zugang und dieser seiner Beziehung zu bestärken.

Diese Situation mag jetzt an dem demonstriert werden, was schon eingangs dem Thema zugrunde lag: an der Rolle, die die Biographie in der kulturellen Wirtschaft der Zeitgenossen spielt. Die Biographie wird hier um deswillen gewählt, weil dort – nächst dem Film – die Beziehung des mechanisierten und kollektivierten Menschen aus der Masse zu seinen Ideal-Vorstellungen am unmittelbarsten in die Erscheinung tritt. Denn der Mensch aus der Masse hat nicht weniger seine Ideal-Vorstellungen als der Abseitsstehende, der sich in relativer Freiheit als Individuum zu behaupten vermag. Es ist auch müssig, auf einem Wertunterschied zwischen den Ideal-Vorstellungen von jenen und von diesem bestehen zu wollen. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der natürliche Drang nach irgend einer Sublimierung des menschlichen Lebens über die grundlegenden Banalitäten des Alltags hinaus in einem Falle Erfolg gehabt und zu einer selbständigen, gesonderten, produktiven Existenz geführt hat, während er im anderen Falle – in dem der Masse – verfangen geblieben ist in einer ständigen Folge von zumeist unverbundenen Kompensationsversuchen. Der Uniformität seines Alltags stellt der Mensch der Masse jenes Leben gegenüber, das sich in einer reichen Individualität entfaltet. Für die Glanzlosigkeit seines Geschehens sucht er den Ausgleich in Illusion und Romantik. Für die erzwungene und ungeliebte Ordnung seines Daseins findet er das Gegengewicht in Abenteuer und Ferne. Alle diese Bedürfnisse können an sich durch einen einfachen Abenteurer-Roman befriedigt werden. Aber die Versachlichung des Lebens, die untergründige Desillusionierung, die der Mensch der Masse in seinen Träumen von einer besseren Welt hat hinnehmen müssen, der erleichterte Zugang zu dokumentarischen oder quasi-dokumentarischen Berichten, den die populäre Literatur ihm verschafft – alles das macht ihn dazu geneigt, den Tatsachen-Bericht, den urkundlichen Nachweis, die Darstellung einer gewesenen Wirklichkeit als denjenigen Raum zu bevorzugen, aus dem er sich seine Kompensation holt.

Kein Gebiet ist dafür geeigneter als die Biographie. Sie ist nicht nur ein Dokument des äusseren Geschehens, an dem einer seine Neugier nach Tatsachen befriedigen kann. Sie ist auch – und noch weit mehr – ein Dokument des inneren Geschehens; sie ist die Antwort, die ein Mensch auf das Andringen der Lebenserscheinungen im Geiste und im Erlebnis gegeben hat. Solche Antwort geben gewiss alle Menschen. Keiner lebt ohne seine ganz bestimmten individuellen Reaktionen. Aber darum rechtfertigt sich noch lange nicht eine Biographie über Hinz und Kunz, eben weil in der Biographie nicht der banale Alltag den Inhalt bildet; weil in der Biographie bewusst die Ausnahme vom Alltag den Gegenstand des Interesses bildet; weil es das Wesen der echten Biographie ist, dasjenige darzustellen, was ungewöhnlich, was nicht normal, nicht erwartet, nicht nach den Maassen des Gewöhnlichen vorhersehbar war; weil – mit anderen Worten – die echte Biographie den Ausnahmezustand des Ungewöhnlichen und mit herkömmlichem Mass nicht messbaren darstellt. Und das ist es, was die zur Masse reduzierten Einzelnen sich als Gegengewicht ersehnen.

Wenn es eines Beweises dafür bedarf, dass hier ein seelisches Bedürfnis besteht, so ist er zwanglos in dem plötzlichen Massenangebot von Biographien auf dem Büchermarkte zu finden. Es ist ein spontaner und eifriger Wettlauf nach Namen und Gestalten ausgebrochen. Es wird Jagd gemacht auf alles, was – tot oder lebendig – Gegenstand einer Biographie sein kann: von Beethoven bis zu den Rothschilds, von Schliemann bis [Talleyrand], von Heinrich Heine bis zu Maria Stuart, von dem kaiserlichen Holzhacker in Doorn bis zur Heiligen von Lourdes, von Rembrandt bis Mussolini. Und die Jäger von heute sind nicht mehr mit der primitiven Donnerbüchse eines Bielschowsky ausgerüstet, der seine Jagdtrophäen über Goethe in zwei zum Sterben langweiligen Bänden zusammengeschleppt hat. Sie sind heute mit allen Mitteln der modernen Psychologie bis an die Zähne bewaffnet. Das ist unbedingt gegenüber der romantischen Schlichtheit von einst ein grosser Vorteil, denn eben dort, wo das Nicht-Alltägliche, das Nicht-Gewöhnliche zur Erörterung steht, muss mehr aufgehellt werden als das, was nur an der Oberfläche verweilt. Das, was produziert, das was sich anmasst, den Schöpfungsakt zu wiederholen, das was sich die grosse Transformation der seelischen Unterwelt zu Form und Gestalt als Aufgabe setzt: das kann nur verstanden werden durch das aufmerksame und geduldige Eindringen in die Tiefenschichten der menschlichen Seele.

Aber auch zu dieser Erforschung der Abgründe sind die modernen Verfasser von Biographien gut ausgerüstet. Die Technik der Psycho-Analyse versieht sie mit den fertigen und numerierten Schlüsseln, die jedes Schloss der Tiefenschicht mühelos öffnen und dem Verständnis der staunenden Nachfahren mit triumphierender Gebärde aufdecken, was dem armen Schöpfer selbst Zeit seines Lebens so kläglich verborgen war. Wie einfach und wie selbst dem Bildungsphilister mühelos zugänglich wird so die Welt, von der wir bislang im kindlichen Wahn geglaubt hatten, dass dort die Seele des Schaffenden, des auf sich selbst gestellten Menschen – formzeugend und im Ringen um die Formgebung sich selbst verzehrend – sich ihr Schicksal bereite. Dass ein van Gogh sich selbst verstümmelte, dass ein Hölderlin dem Wahnsinn verfiel, dass ein Kleist selber sein Leben auslöschte, dass ein Dostojewsky das Unheimliche und Schuldbeladene in sich immer wieder überwand, um es in lebendiger Formung aus sich herauszustellen, dass ein Beethoven den grausigen Narrenstreich des Schicksals überwand und in seiner Taubheit hellhöriger war als tausend Hörende, dass ein Goethe aus jedem fernsten Anruf, aus jeder hauchfeinen Ahnung selbst da noch die Tiefen und Höhen aufspürte und das Allgemeingültige sagen konnte, wo andere vom Anruf und von der Ahnung nicht einmal angerührt wurden – alles das hört auf, der heroische Kampf der Kreatur um die Schöpfung zu sein. Es hört auf, jener Bezirk zu sein, vor dem wir die Augen schliessen möchten, um ganz unabgelenkt für das Maximum der Aufmerksamkeit, der Hingabe und der Erschütterung frei zu sein. Die Kenntnis der Psyche und die Technik ihrer Analyse eröffnen ganz andere Wege. Wer nicht gerade den Mut aufbringt, hier einfach klinische Tatbestände zu konstatieren – und die meisten schrecken doch davor zurück, sich so weit mit einer halb verstandenen ›Wissenschaft‹ zu identifizieren – der wird hier doch mit den Formeln ausgestattet, um aus der Seele des Produktiven einen durchsichtigen Mechanismus und aus seinen Leistungen eine fast errechenbare, jedenfalls aber einleuchtende und logische Folge von Aktionen zu machen. Eines freilich verfehlen sie, einleuchtend zu machen: warum der Mensch eines so oder so gearteten Mechanismus nun gerade derjenige Gestalter werden musste, der er nun einmal geworden ist. Nicht jeder, der unter dem Andringen einer übermächtigen Umwelt wahnsinnig wird, ist darum ein Hölderlin gewesen; und nicht jeder, der das Chaos seiner Untiefen sublimiert, wird darum ein Dostojewsky.

Aber dieser Missbrauch einer – im übrigen erheblich korrekturbedürftigen – ›Wissenschaft‹ wäre an sich belanglos und uninteressant, wenn er nicht das geistige Übel der Zeit, die Halbbildung, um die Möglichkeit betrügen würde, sich selber zu erkennen und sich neue Wege zu suchen. Ob man den Goethe'schen Prometheus als literarischen Niederschlag eines unerledigten Vaterkomplexes ansprechen soll oder nicht, wäre unbeachtlich, solange dem Leser nicht die Unbefangenheit geraubt wird, zu spüren, dass hier die Freiheit des schöpferischen Menschen von blinden und missgünstigen Schicksalsgewalten mit einer nicht zu übertreffenden Grösse dargestellt wird. Und wenn Beethoven nicht – wie Goethe es tat – vor Majestäten devot den Hut zieht, sondern mit aufgerecktem Haupt an ihnen vorüber geht, so mögen diese Psychologen im stillen Kämmerlein darüber beraten, ob hier die Überkompensation eines Minderwertigkeits-Komplexes zugrunde liegt. Dem Leser, der sich zu Beethoven in Beziehung setzen will, mag die Erkenntnis genügen, wie hier ein grosser Produktiver mit äusserster Rücksichtslosigkeit die Einmaligkeit seiner künstlerischen Berufung gegen jeden ererbten Beruf – und sei es der des Regenten – zum Ausdruck bringt. Und es ist eine Zweifelsfrage für sich, ob der Kampf des Produktiven mit den Schattengestalten des Unbewussten ihn zu einem Künstler gemacht haben würde, wenn man diese Schatten mit dem Rüstzeug psycho-analytischer Wissenschaft beschworen und heraufgezwungen und unschädlich ... und damit höchstwahrscheinlich unproduktiv gemacht hätte.

Aber es geht hier letzten Endes ja nicht um die Frage, ob der Biograph das Rüstzeug der modernen Psychologie anwendet oder nicht, und es geht auch nicht darum, Systeme der Psychologie gegen einander auszuspielen, und es geht endlich auch nicht darum, das Anlegen solcher psychologischen Masstäbe nur deswegen zu vermeiden, weil sie Untiefen im Wesen der dargestellten Persönlichkeit aufweisen könnten. Sondern es geht einzig und allein darum, die Funktion zu wahren, die die Biographie – in ihrem allerweitesten Sinne verstanden – im seelischen Haushalt des Menschen zu erfüllen hat, und ganz besonders für den der Masse ausgelieferten Menschen unserer Gegenwart.

Es ist wahr: der Drang zur Masse, die Bereitschaft, in die Herde als der Urform der gesellschaftlichen Existenz zurückzuflüchten und sich dort geborgen zu fühlen, ist in jedem Menschen sehr gross und in jeder geschichtlichen Situation von einer unausrottbaren Aktualität. Aber immer, wenn der Anreiz zur Massenbildung auch nur eine Sekunde lang aussetzt, regt sich wieder jener andere, gleichfalls unausrottbare Drang des Menschen: die Zugkraft der Masse von sich abzustreifen und sich als freies Individuum zu behaupten; sein Leben, das äussere wie das innere, nach der eigenen Veranlagung, den eigenen Wünschen, den eigenen Träumen und Sehnsüchten zu gestalten. Das zoon politikon reckt sein Haupt und sucht sich an Vorbildern jenseits der Herde zu orientieren. Das ist der entscheidende Augenblick, in dem ihm geholfen werden kann und geholfen werden muss. Denn wenn wir als ein Ergebnis unserer technisierten Existenz die Massenbildung als unvermeidlich akzeptieren müssen, und wenn wir doch die letzte Hoffnung auf eine Art »Fortschritt« in der menschlichen Gesellschaft nicht ganz aufgeben wollen, dann bleibt uns nur, uns zu der einen grossen psychologischen und historischen Wahrheit zu bekennen, dass in dem Ozean von Uniformität, Banalität und Unoriginalität die wenigen Höhepunkte von Leistung und Fortschritt immer einer geringen Anzahl von Individuen, von grossen Einzelgängern anvertraut waren.

Es ist nun keineswegs zu erwarten, dass solche Einzelgänger sich beliebig hervorrufen lassen. Wohl aber ist zu erwarten, dass die potentiellen Möglichkeiten eines Fortschrittes in der menschlichen Gesellschaft sich in dem Masse erhöhen, in dem es gelingt, in der Masse gebundene Individuen freizustellen und ihnen ihren eigenen Horizont zu geben. Der Begriff Horizont bedarf hier einer Erläuterung. Er will jenen maximalen geistigen, seelischen und emotionellen Bestand bezeichnen, den – in seinen jeweiligen natürlichen Grenzen – auch der Mensch des Durchschnitts erreichen kann, sofern er nur den Willen aufbringt, ihn sich zu erwerben, und sofern Kräfte bereit stehen, den Zugang zu vermitteln. Nur eine Bildung, die auf dem Maximum dieser drei Elemente beruht, kann dem in der Masse Gebundenen die Wahl eröffnen, mit den Möglichkeiten gerade seiner individuellen Konstitution, mit ihren Weiten und ihren Grenzen selber die Punkte abzustecken, die seinen Horizont, seine Peripherie des Lebens bilden sollen. Der grosse Irrtum, der in der Verwendung des Begriffes ›Bildung‹ seit hundert Jahren begangen wird, besteht ja darin, dass die Vermittler der kulturellen Standard-Ware nur einen Katalog von Fakten und ein Assortiment von wissenswerten Dingen feilzubieten haben, eben das, was hier bislang als ›Halbbildung‹ bezeichnet worden ist. Aber das Können und die Bereitschaft, wirkliche Bildung, das heisst: Ausbildung des Herzens und des Charakters auf der Grundlage gewusster Dinge zu vermitteln, ist immer stärker degeneriert und wird immer mehr der Bereitschaft zum Opfer gebracht, sich vor der Masse und ihrem Geschmack zu beugen und um jeden Preis populär zu sein. In der Spekulation auf Effekt und Erfolg hat so der produktive Vermittler seine Funktion an der Zeit und an dem Menschen der Zeit verraten.

Denn dass er hier eine Funktion zu erfüllen hat, bedarf nicht der Diskussion. Was wohl der Diskussion bedarf, ist die Behauptung, dass er sie grösser und verantwortlicher habe als je zuvor. Eine Steigerung des individuellen Menschen kann nur geschehen, wenn man ihm den Masstab der Grösse belässt und wenn man die Spannweite seines Horizontes ausdehnt. Es mag ja so scheinen, als sei der Horizont des modernen Menschen weiter geworden als je zuvor. Das ist ein Trugschluss, im besten Falle ein optischer Irrtum. De facto ist er nur dichter geworden, das heisst: er ist bis zur Kompaktheit besetzt mit dem eifrig und ungründlich aufgesammelten Bestand von Wissens-Brocken, Assoziations-Trümmern, Erfahrungs-Bruchstücken, halb verdauten Kenntnissen und einem abgewetzten Bestand von Mode-gebundenen Schlagworten, alles das überzogen mit dem dünnen Firnis eines trügerischen Illusions-Bestandes, den die Unterhaltungs-Industrie der Welt ihm zur Verfügung stellt. Aber in allen entscheidenden Qualitäten ist der Horizont enger geworden. Die Religionen haben samt und sonders ihre gestaltende Kraft eingebüsst. Sie sind ersetzt worden durch die Messias-Botschaften sozialer Theorien. Die Weite der humanen Gesinnung ist zusammengeschrumpft zum Opportunismus einer politischen Internationale, und nicht einmal der Weltkatastrophe unserer Tage ist es gelungen, aus der Humanität von einst mehr als ein vorsichtiges Ordnungsprinzip zu machen. Der natürliche Drang, sich als freier Mensch in der Welt zu behaupten und ihr selbst noch in der bewussten Einordnung als Freier gegenüber zu stehen, ist längst zu dem Gelüste abgeschwächt, Bestandteil einer Gruppe zu sein und es ihr zu überlassen, die Ideale des Lebens zu formulieren. Der Begriff von Grösse, der somit ihrem Verständnis am nächsten liegt, und in den sie alle die Verehrung hineintragen, die sie einmal für die Menschen grosser Leistungen aufgespart hatten, umfasst jetzt vorzugsweise diejenigen Gestalten, die ihnen – gleich dem Häuptling urzeitlicher Horden – durch alle Stadien und Varianten der Tyrannei als ›Führer‹ dienen können.

Es ist unvermeidlich, dass an solcher Minderung des Horizontes auch alles das teilhaben muss, was an irgend einem Punkte der Peripherie auftaucht, sei es ein Ding, das dem flüchtigen Lebensgenuss dient, sei es eine Gestalt, an der der eingesperrte Mensch sich orientieren möchte. Es wird notwendig alles in den Bezirk der Masse, des Kollektivs, des Demos hineingezogen. Es wird alles gemessen nach den geistigen Möglichkeiten, die dem Durchschnitt der Masse für das Verständnis der Vorgänge seines Alltags zur Verfügung stehen. So wie er selber – politisch, sozial, wirtschaftlich, geistig – demokratisiert ist, müssen auch die grossen Gestalten seiner geistigen Peripherie das Schicksal der Demokratisierung teilen. Alles das, was an den Ausnahmegestalten der Menschheitsgeschichte unmessbar, einmalig, genial, dämonisch, heroisch und überproportioniert ist, wird redressiert zu jenen Normal-Eigenschaften, über die auch der Mensch des Demos verfügt. Er gleicht sich nicht mehr der Grösse an, sondern gleicht die Grösse sich selber an. Das ist das Resultat des populären Wissens und der für jeden ›Menschen aus dem Volke‹ gebrauchsfertigen Formeln. Alle Menschen sind ja gleich. Alle psychologischen Bestände sind ja gleichwertig. Nur ein wenig Milieu-Verschiedenheit, nur ein wenig so oder so geartete Bedingungen und dieses und jenes an leicht erklärbarer psychologischer Komplikation: und die Gestalt steht fertig da. Und nicht nur das: sie ist auch jedem mit den einfachsten Denkmitteln erfassbar. Und noch mehr als das: sie ist imgrunde genommen bei einigermassen günstigen Bedingungen, bei dem richtig gelagerten Milieu, durchaus im Bereich und im Zugriff dessen, der der Standard-Typus der Welt zu werden droht: des einfachen Mannes aus der Masse. Es ist so ungeheuer beruhigend, zu wissen, dass jeder kleine Soldat den Marschallstab im Tornister trägt. Man muss nur verstehen, ihn herauszuholen ...

»Du gleichst dem Geist, den du begreifst ...« Nein, schlimmer noch: er begreift nur den Geist, den er zuvor sich gleich gemacht hat!

Niemand spreche hier von Schuld. Gegen die Bereitschaft des Menschen, zu verehren und anzubeten, steht immer sein Trägheitswille, die Grösse zu sich herabzuziehen; und je tiefer er selber der Masse und dem Durchschnitt verhaftet ist, desto lieber schmeichelt er sich, dass ihm das Mass der Grösse noch nicht abhanden gekommen sei. Aber auch die Beflissenen der modernen populären Biographie, die diesen Prozess der Verminderung der Grösse und der Demokratisierung des Genies so fleissig fördern, statt sich ihm mit allen Kräften entgegen zu stemmen – auch sie haben nichts getan, was man ihnen als Schuld anrechnen könnte. Sie sind im Rahmen ihrer seelischen Möglichkeiten geblieben. Einen Glauben, an dem sie sich für ihr Bild vom Menschen orientieren könnten, haben sie nicht. So haben sie getreulich Geist von ihrem Geist gegeben. Sie haben ihre zahlreichen Abnehmer äusserst reell mit jener pseudo-geistigen Illusion bedient, nach der sie lechzten. Autor und Publikum sind einander nichts schuldig geblieben ... und dass sie einander lieben, darf nicht Wunder nehmen.

Eines freilich bleibt tief zu beklagen: dass es allzuwenig Produktive in dieser Zeit gibt, die erkennen, dass die fortschreitende Verhaftung des Einzelnen in der Masse ihn, den Produktiven, mit der geistigen Verantwortung belastet, immer von neuem ein Gegengewicht zu schaffen, ein geistiges und seelisches Gegengewicht, an dem der Einzelne jene Orientierung finden kann, die ihn vor dem Versinken im Kollektiv und vor der Atrophie seiner menschlichen Qualitäten bewahren kann. Und wenn der produktive Mensch der Zeit sich die Biographie als sein Werkzeug für die Zwiesprache mit Anderen wählt, so sollte sie nicht eine Konzession an die Verkleinerung der Grösse sein, sondern ein voller und strenger Dienst am weitesten Mass der Grösse. Sie sollte ein unerbittlicher Anruf und Aufruf an den Menschen sein, sich selbst am Anblick der wirklichen Grösse zu steigern. Denn jede individuelle Steigerung ist ein Riegel gegen den Abfall des Menschen in der Masse, und damit ein Versprechen für die Erweiterung seines Horizontes. Und wenn jene Untauglichen, die nichts Grosses mehr verehren können als den Erfolg, selber eines Vorbildes bedürftig sind; wenn sie erfahren wollen, wie ein Schaffender unbekümmert und mit souveräner Gebärde zu den Höhen der Gestaltung hinaufgreift – eine Gebärde, die allen versagt bleibt, die dem Grossen nur spielerisch beschreibend nachlaufen – dann mögen sie sich den Josefs-Legenden von Thomas Mann zuwenden.

 


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