Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das neue Pantheon

Fast alle Völker, die mit vielen Göttern leben, weil sie mancherlei religiöse Bedürfnisse zu befriedigen haben, sehen sich eines Tages vor die Notwendigkeit gestellt, in den fluktuierenden und lockeren Schwarm der göttlichen Repräsentanten eine gewisse Ordnung und Systematik zu bringen. Zuweilen tun sie es instinktiv, aber doch aus einer religiösen Notwendigkeit, um sich unter den milden und den strengen, den überragenden und den weniger wichtigen Göttern besser auszukennen; zuweilen tun es ihre Priester mit theologischer Motivierung, unter der sich viel Opportunismus schlecht verhüllt. So oder so errichten sie ihren Göttern ein Pantheon, und wenn es auch nicht immer aus Granit und Marmor gebaut ist, dient es doch als der dekorative Raum, in dem sie – sich selbst zur Befriedigung und den anderen Völkern zum Neide – die illustren Gestalten ihrer religiösen Selbstversklavung zur Schau stellen.

Die Exklusivität eines solchen von Menschen inspirierten Götter-Institutes ist mancherlei Gefahren ausgesetzt. Entsprechend dem Wankelmute der menschlichen Natur geraten manche Götter durch mangelnden Gebrauch in Vergessenheit, oder – was noch bedenklicher ist – durch mangelnde Leistungen in Misskredit. Das Vakuum, das so entsteht, lässt sich aber ausgleichen. Man kann immer fremde Götter importieren, ein Verfahren, von dem Ägypter, Griechen und Römer ausgedehnten Gebrauch gemacht haben; oder man kann, wenn man den Weg der nationalen Selbstversorgung vorzieht, Helden der eigenen Volksgeschichte – wenn auch nicht zu Vollgöttern, so doch – zu Halbgöttern promovieren und ihnen als Heroen sozusagen einen Stehplatz im Pantheon anweisen. Das haben insbesondere die Griechen praktiziert, und sie haben dazu prinzipiell Menschen ausgewählt, die nicht etwa geistige oder ethische Leistungen aufzuweisen hatten, sondern Taten der Körperkraft und der unerschrockenen Abenteuer. Der griechische Heroenkult ist die religiöse Attitüde eines klassischen Volkes gegenüber Raufbolden und Athleten.

Das System der Vergöttlichung des Menschen, von den Griechen erfolgreich eingeleitet, ist von den Römern unter Missdeutung der semitischen Konzeption von Theokratie fortgesetzt und dann durch das Medium des Christentums auf die europäische Welt vererbt worden, wo es in der gemilderten Variante der Heiligenverehrung fortlebte. Auch das Pantheon ist nach Europa ausgewandert. Aber dort musste es seinen Charakter notwendig ändern. Die Götter der europäischen Völker, selbst wenn sie nicht von der einwandernden neuen Religion besiegt worden wären, waren viel zu simpel und primitiv, um die Zusammenfassung in einem glorreichen Pantheon zu rechtfertigen. Für den monotheistischen Gott war darin logisch kein Platz. Aber die Vorstellung, Objekte der posthumen Verehrung in einem dekorativen Rahmen zur Schau zu stellen, sich selbst zur Befriedigung und den anderen Völkern zum Neide, war doch überaus verlockend. Völker wollen mit einander konkurrieren. Das ist der einzige Weg, den sie haben, um ihre Kultur in lebendiger Spannung zu erhalten. Aber da die fortschreitende Uniformierung im Glauben Europas einen Wettbewerb der Religionen nicht mehr ermöglichte, trat an seine Stelle – in dem Masse, in dem das nationale Selbstbewusstsein wuchs – der Wettbewerb der nationalen Leistung, das heisst: jener Leistungen, in denen man eine bedeutsame Repräsentation, eine vorbildliche Manifestation des jeweiligen nationalen Genius sah. Das nationale Pantheon bevölkerte sich mit Toten, denen man unter dem Generalnenner ›Grosse Männer‹ die irdische Ewigkeit verleihen wollte.

Das war immer – und ist es noch heute – ein recht riskantes Unternehmen. Es ist nicht selten vorgekommen, dass einer bald nach seinem Tode aus der spontanen Entschliessung des Augenblicks feierlich in das Pantheon eingereiht wurde, und man hatte später, als man seine Leistungen aus einiger zeitlichen Entfernung besser übersah, ganz erhebliche Korrekturen an seiner Erscheinung vornehmen müssen, um die Rangerhebung vor dem kritischen Urteil zu rechtfertigen. Ein Mirabeau hat es sich sogar gefallen lassen müssen, nach kurzer Ruhe im Pariser Pantheon wieder zu den gewöhnlichen Gestorbenen evakuiert zu werden, und es gehört immerhin ein gewisser kultureller Mut dazu, einen Mann wie Lord Clive zu den Dauergästen der englischen Ruhmeshalle zu zählen.

Solche Erwägungen sollen aber die prinzipielle Bedeutung – und sogar die prinzipielle Berechtigung – eines Pantheon der grossen Männer keineswegs verneinen. Auch wenn es auf offizielle Prunkbauten verzichtet und sich nur in Museen, Bibliotheken und den Lehrbüchern der Schulen zur Schau stellt, bedeutet es immer noch, dass hier eine Nachwelt ihren Tribut an Dank und Respekt jenen abstattet, die ihr einmal das Geschenk der geistigen, der seelischen oder auch nur machtmässigen Bereicherung gemacht haben. Und insofern ist das moderne Pantheon zugleich das irrationale Kapital, das sublimierte Aktivsaldo, das ein Volk sich ansammelt, um damit vor sich selbst und vor der Welt seine geistige Solvenz zu beweisen und vom guten Ruf der kulturellen Zuverlässigkeit zu profitieren.

Vor sich selbst und vor der Welt – diese Doppelschichtigkeit der Zweckbestimmung darf nicht aus den Augen gelassen werden, eben weil die Idee des kulturellen Wettbewerbs für den Begriff eines nationalen Pantheon unerlässliche Voraussetzung ist. Dementsprechend muss ein solches Pantheon zwei Bedingungen erfüllen. Es muss kulturelle Leistungen aufweisen, die ein besonderer Ausdruck der geistigen Kapazität und der seelischen Möglichkeiten gerade dieses bestimmten Volkes sind; und sodann: die Ergebnisse müssen so beschaffen sein, dass sie nicht nur eine rein interne Angelegenheit sind, deren Bedeutung über den häuslichen Rahmen nicht hinausgeht, sondern dass sie mit den kulturellen Leistungen anderer Gemeinschaften zumindest in einen produktiven Vergleich treten können, möglichst sogar in eine wertbetonte und konkurrierende Beziehung.

Diese beiden Voraussetzungen sind durchaus nicht immer gleichzeitig gegeben. Um es an einem Beispiel zu belegen: die unerhörte Idee des Nirvana, wie sie vom frühen Buddhismus des nördlichen Indien entwickelt worden ist, stellt zweifellos eine einmalige religiös-kulturelle Leistung dar, die nur in dieser indischen Welt der hemmungslosen und chaotischen Gläubigkeit konzipiert werden konnte. Aber sie ist absolut auf diese Welt beschränkt. Jede andere Kulturwelt, die diese Idee des leidvollen Todes und der leidvollen Wiedergeburt nicht kennt und somit nichts von dem fanatischen Willen weiss, aus der Unerträglichkeit eines solchen Kreislaufes befreit zu werden – kann hier im besten Falle kulturgeschichtliche Studien treiben, aber sich nicht mit ihr produktiv auseinandersetzen. Dieselbe Einschränkung gilt zuweilen für bestimmte Teilausschnitte einer kulturellen Leistung. Während die Gestalt eines jüdischen Propheten und das, wofür er geistig steht, ohne Zweifel den Rahmen seiner nationalen Zugehörigkeit erheblich überschreiten, vermag die kulturelle Bedeutung eines Josef Karo samt seinem Schulchan Aruch die engsten Grenzen des internen Judentums nicht zu überschreiten.

Es ist nun das Besondere und Bedeutsame, dass ein Pantheon nicht nur eine Postmortem-Ehrung der individuellen kulturellen Kräfte darstellt, sondern dass es zugleich auch in seiner Gesamtheit die posthume Glorifizierung eines ganzen Volkes bedeuten kann. Der Begriff ›griechische Philosophie‹, auch wenn er nicht im einzelnen spezifiziert wird, umgibt alles mit einer nachträglichen Glorie, was einmal mit der Welt des Griechentums überhaupt verbunden war, selbst da noch, wo es eindeutig barbarisch, primitiv und dekadent war; genau so, wie die Vorstellung ›Kunst der Ägypter‹ nachträglich ein Volk verherrlicht, das mindestens in seinen religiösen und gesellschaftlichen Konzeptionen über das Niveau von Buschnegern nie hinausgelangt ist. Eine ähnliche Aussage lässt sich von allen Völkern machen, die wir als ›klassische‹ Völker zu bezeichnen pflegen und die ohne Hinterlassung legitimer Erben gestorben sind, auch wenn sie nicht – wie die Inkas von Peru oder die Azteken von Mexiko – im biologischen Sinne praktisch ausgerottet [worden] sind.

Sie profitieren alle von dem vorteilhaften Umstande, dass sie gestorben sind und dass keine Gegenwart und kein kontrollierbarer Alltag ihren kulturellen Status nachträglich infrage stellen kann. Das Wort ›gestorben‹ bezieht sich hier natürlich nicht auf den biologischen Tod, denn sie sind – wenn auch mit erheblichen rassischen Beimischungen – durch eine nicht unterbrochene Kette von Zeugungen am Leben geblieben. Das Wort ›gestorben‹ bezieht sich vielmehr auf den einzigen Tod, den Gemeinschaften sterben können, sofern man sie nicht rein körperlich ausrottet: den geistigen Tod, jenen Tod, der dadurch eintritt, dass ein Volk die Kraft einbüsst, seinen kulturellen Besitz am Leben zu erhalten und ihn gegen das Andringen und den Einfluss anderer Welten zu behaupten; jenen Idealen nachzuleben, die durch die Grossen seiner Gemeinschaft aufgerichtet worden sind; dem Missionsauftrag gerecht zu werden, den jedes echte Kulturvolk gegenüber anderen Völkern empfindet. Mit anderen Worten: ein Volk stirbt dann, wenn es die geistigen und kulturellen Motive nicht mehr aufrecht erhalten kann, mit denen es seine Existenz und seine Stellung in der Welt und zur Welt zu begründen pflegte. Völker sterben durch geistige Altersschwäche.

Es wird nicht einmal einem wohlwollenden Betrachter in den Sinn kommen, die Ägypter oder die Griechen oder die Italiener von heute als die legitimen geistigen Nachkommen und Fortsetzer ihrer klassischen Blütezeit zu akzeptieren. Ihre Leistungen von damals, – soweit solche Leistungen überhaupt von anderen Gemeinschaften übernommen werden können – sind längst in das kulturelle Gefüge anderer Völker eingereiht und dort je nach ihrer Begabung assimiliert worden. Ägypten schafft keine Kunstwerke mehr, und es mag zweifelhaft sein, ob es heute mehr vertritt als ein Levantinertum, das im günstigsten Falle in einem Vorraum der Kultur verweilt. Griechenland schafft keine Philosophie und keine Weisheit mehr, wobei anzumerken ist, dass kein Volk je weniger von seiner eigenen Weisheit selber profitiert hat als das griechische. Und das Italien von heute kann sicher in nichts von dem Einzigen für sich in Anspruch nehmen, was Rom je originär geschaffen hat: Systematik des Rechts und Technik des Weltstaates.

Wenn wir von den Indern und den Chinesen absehen, die ihre kulturelle Existenz in einer dauernden Kette von Evolutionen fortgesetzt haben, gibt es heute auf der Welt nur noch ein einziges Volk, das sich sozusagen selber überlebt hat und das noch in dieser Gegenwart einen aktuellen und ungeschwächten Zusammenhang zwischen seiner klassischen Periode und seiner Gegenwart behauptet: das jüdische Volk. Wir wollen stillschweigend die vielen spekulativen und romantischen Gründe übergehen, die für diese Kontinuität ins Treffen geführt werden. Wir wollen uns zweckmässiger der verzwickten kulturellen Situation zuwenden, die dadurch geschaffen worden ist. In unserer klassischen Epoche haben wir – weit betonter als jedes andere Volk – den Gedanken der Mission, die wir an der Welt und ihren Völkern zu erfüllen hatten, in den Vordergrund gerückt. Es war unsere Hoffnung, dass das von uns errichtete Pantheon der grossen Gestalten und der grossen Ideen einmal von der Welt anerkannt und akzeptiert werden würde. Und das ist tatsächlich eines Tages geschehen. Es ist zwar nicht ganz so ausgefallen, wie wir es uns vorgestellt haben. Aber die Welt behauptet, dieses Pantheon heute in ausreichendem Masse und aus legitimer Erbschaft zu besitzen. Sie behauptet sogar – eben wegen des vermittelnden Mediums des Christentums – es noch in einer verbesserten Auflage zu besitzen. Es nützt uns wenig, dass diese Behauptung angesichts der geschichtlichen Ereignisse, insbesondere der Gegenwart, immer wieder in erheblichem Umfange korrekturbedürftig erscheint. Für die Welt bleibt es dabei, dass wir das unsrige gegeben haben, dass wir für sie in unserem momentanen Zustand als Gebende nicht mehr existieren, und dass sie uns folglich nichts mehr schuldet. Es wäre somit – um die historische Kette der Erfahrung nicht in Unordnung zu bringen – für uns angemessen gewesen, zu sterben und unter der Aufschrift ›Klassisches Volk‹ im Archiv der kulturellen Leistungen aufbewahrt zu bleiben. Dann hätten wir es gut gehabt. Dann hatte man von uns ohne lästige Gegenwart so von den ›alten Juden‹ sprechen können, wie man heute mit Respekt und leichter Überlegenheit von den ›alten Römern‹ und den ›alten Griechen‹ spricht.

Statt dessen hat sich ein Tatbestand von besonderer Zwiespältigkeit herausgestellt. In unserer Eigenschaft als klassisches Volk, das zur Welt in dem Verhältnis einer produktiven Spannung steht, sind wir nicht mehr existent. Aber in jedem anderen Sinne haben wir die historische Ungeschicklichkeit besessen, nicht zu sterben. Wir haben uns im Gegenteil an die Neubildung eines Zentrums herangemacht, in dem wir den Anspruch auf Fortsetzung unserer nationalen Existenz erheben, und zwar einer nationalen Existenz im vollkommensten Sinne des Wortes: staatsrechtlich, politisch, gesellschaftlich und kulturell. Das ist ein Phänomen, wie es in der Geschichte der Menschheit noch nicht aufgetreten ist. Es ist mit der nationalen Restitution, wie andere Völker sie versucht haben, durchaus nicht zu vergleichen. Es läge nahe, etwa das moderne Griechenland zum Vergleich heranzuziehen. Aber gerade an solchem Vergleich wird der Unterschied klar. Der Grieche von heute bekennt sich zwar zu seiner historischen Vergangenheit und den künstlerischen und philosophischen Leistungen seiner entfernten Vorfahren mit Stolz. Aber an den Olymp mit seinem Pantheon von Göttern, die jeden Tatbestand eines modernen Strafkodex repräsentieren, glaubt er nicht mehr. Das Fest des Dionysos, in dem seine Lebensangst einmal die Identifizierung mit dem sterbenden und wieder auferstehenden Gott suchte, um selber der Wiederauferstehung teilhaftig zu werden, feiert er nicht mehr. Und die eleusyschen Mysterien sind für ihn Literaturgeschichte seiner heidnischen Epoche geworden. Er hat – mit anderen Worten – die entscheidenden religiösen und damit gesellschaftlichen Grundvorstellungen seiner einstmaligen Existenz samt ihren Kulten und Formen und samt ihren transzendenten Bindungen endgültig aufgegeben. Dasselbe gilt für diejenigen, die sich heute zu Zwecken der nationalen Wertsteigerung die Nachkommen der alten Römer nennen, und schon gar für die heutigen Ägypter, deren Vergangenheitsbeziehung über einen ehrenwerten archäologischen Stolz wohl kaum hinausgeht.

Aber für das jüdische Volk liegen die Dinge anders. Es ist gewiss durch hundert Stadien der Assimilation, der Deformation und der Degeneration gegangen. Aber wo immer es sich befand, hat es – von der Vertreibung aus seinem Lande bis in die Gegenwart hinein – die Beschäftigung mit den Grundlagen seines einstigen Lebens und seiner einstigen Formwelt aufrecht erhalten. Es hat – so geht jedenfalls seine Behauptung – die Grundlagen seiner klassischen Existenz beibehalten, und verfügt damit – so geht jedenfalls seine Überzeugung – unvermindert über den gesamten Bestand seines Pantheon von einst. Aber diese Behauptung und diese Überzeugung stossen auf gewisse technische und logische Schwierigkeiten, besonders dann, wenn man dabei die Bedeutung eines Kulturkreises für die Wirkung in die Welt hinein nicht ausser Auge lässt. Die produktive Bedeutung eines Pantheon hängt ja stets davon ab, ob die in ihm akkumulierte Kraft dynamisch wirksam bleibt, oder ob sie sich statisch zur Ruhe setzt. Denn ein Pantheon ist kein Museum, an dessen Ausstellungsobjekten man die Kulturgeschichte der Vergangenheit abliest. Die Ideen eines Pascal und eines Voltaire sind um der geistigen Orientierung willen heute noch der Diskussion wert. Das fälschlich als Schaffung des Monotheismus ausgegebene Experiment eines Ichnaton hingegen kann höchstens zu dem skurrilen Versuch verwendet werden, einer schöpferischen Einmaligkeit wie Moshe nachträglich das Urherberrecht an seiner monotheistischen Konzeption streitig zu machen. Ein Pantheon bleibt dynamisch wirksam, wenn entweder sein geistiger Inhalt ein für die Welt nicht zu erschöpfendes Thema der Auseinandersetzung und des Wettbewerbes bildet, oder wenn es durch fortgesetzte geistige und kulturelle Anspannung immer wieder aufgefüllt und aufgefrischt wird.

Nun ist es ausserordentlich leicht – und ausserordentlich unfruchtbar – sich darauf zu versteifen, dass das jüdische Volk – um es mit einer kurzen Phrase zu bezeichnen – der europäischen Welt den Monotheismus nebst vielen Zutaten gegeben habe. Das ist an sich richtig. Aber es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Empfänger dieser Gabe schon seit langem den Besitz aus eigenem Recht behauptet, und dass folglich unser Anspruch auf ehrenvolle Anerkennung durchaus nicht zu realisieren ist. Es kommt aber noch ein anderes hinzu: ein Volk kann sich nicht für unbeschränkte Dauer mit seinem Pantheon zur Ruhe setzen. Es kann sich nicht durch lange Jahrhunderte darauf beschränken, sich auf das Pantheon von einst für seinen aktuellen Kulturstatus zu berufen. Ein Pantheon von noch so grosser Leuchtkraft enthält keine stillschweigende Garantie gegen eine Verminderung oder gar einen Verfall der kulturellen Kraft. Ein Land wie Spanien darf gewiss den aus Italien entliehenen Columbus in sein Pantheon aufnehmen, denn seine Entdeckung – auch wenn sie auf einer falschen geographischen Vorstellung beruhte – hat eine ungeheure Umwälzung im Bilde und in der Geschichte der Welt zuwege gebracht. Und die Portugiesen dürfen Magelhans, den ersten Weltumsegler, gleicherweise verewigen – wenn sie auch allen Grund hätten, die beiden Entdecker und Raubmörder Cortez und Pizarro in einem Nebenkabinett zu verstecken. Aber selbst wenn man die mittelalterliche Literatur Spaniens und Portugals samt den Schätzen des Prado und dem Prunk des Escorial hinzunimmt – gibt es irgend etwas in der geistigen Monotonie dieser beiden Länder, was sie nicht eher beschämt machen müsste, ein solches Pantheon je einmal besessen zu haben?

Wie sieht es nun, unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, mit dem Pantheon des jüdischen Volkes aus? Hat nach seiner ersten abschliessenden Gestaltung, die wir mit einiger Willkür sehr spät, nämlich in die Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes verlegen wollen, eine Bereicherung durch neue Gestalten und neue Leistungen stattgefunden? Das ist unbestreitbar der Fall. Die Epoche, die man etwas ungenau die spanisch-jüdische Renaissance nennt, weist eine beachtliche Besetzung mit Philosophen, Wissenschaftlern und Dichtern auf, die – an den Leistungen der Welt von damals gemessen – durchaus Weltformat besassen. Das Werk eines Shlomo ibn Gabirol, M'kor Chajjim, hat unter dem Titel Fons Vitae und unter Falschmeldung des Verfassers als Avicebron sogar seinen Einfluss auf die Scholastik des Mittelalters genommen. Und es ist sicher, dass die Dichtungen eines Jehuda ha'Levy, wenn sie der Welt in angemessenen Übertragungen zugänglich gemacht würden, auch heute noch Anspruch auf ihr Interesse erheben könnten. Und das Volk hat weiter eine sehr belebte Geschichte gehabt, in der sich ihm eine Fülle von erregenden oder wichtigen Gestalten darbot, die es nicht vergessen hat, die auf sein Erlebnis und seine Denkweise Einfluss genommen haben, und die es in jedem Sinne berechtigt ist, in sein Pantheon aufzunehmen. Es darf auch mit Recht darauf hinweisen, dass fast alle diese Gestalten subjektiv und objektiv, in ihrer persönlichen Einstellung und in ihren Leistungen, den Zusammenhang mit der Welt von einst, mit dem kulturellen Bezirk des Pantheon von ehemals aufrecht erhalten haben.

Aber in diesem Positiven liegt zugleich ein erhebliches Mass von Negativem verborgen. Die Leistungen dieser langen Zeiträume liegen zum überwiegenden Teil – beinahe bis zur Ausschliesslichkeit – auf religiösem Gebiete, und zwar dort, wo ihr formaler Bestand, ihr Gesetzeskodex, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten seiner Anwendung und die geistige Durchdringung des in Jahrhunderten auf ewig gleicher Linie angehäuften talmudischen Stoffes das Thema darstellen. Die Frage, wieweit diese Art der geistigen Tätigkeit die Fortexistenz des jüdischen Volkes ermöglicht oder bedingt hat, ist für das vorliegende Thema durchaus uninteressant. Wesentlich ist etwas anderes: die Grössen, die hier auftreten, haben lediglich Bedeutung und Interesse im internen Rahmen des Judentums, und selbst dort nur so weit, als die weitgehende Säkularisierung dieser Religion nicht grosse Bestände des Volkes vollkommen ausserhalb Kontakt mit diesem speziellen geistigen Bezirk stellt. Was da getrieben wurde, war bei aller subtilen Geistigkeit religiöse Inzucht. Die Welt ist daran nicht mehr interessiert, als sie – sagen wir – an dem internen Gemeindeleben der holländischen Calvinisten interessiert ist. Eine religiöse Neuschöpfung, die die Welt zum Aufhorchen bringen könnte, ist hier nicht erfolgt. Sie ist auch als Neuschöpfung nicht möglich, denn diese Religion hat alles das, was sie möglicherweise sagen konnte, früher bereits gesagt. Dem ist nichts hinzuzufügen, es sei denn etwas, was allerdings von fundamentaler Bedeutung sein kann: der Versuch, sie in ihrer lebensgestaltenden Kraft, in ihrer ethischen Unbedingtheit und Ausschliesslichkeit, in ihrer gesellschaftsformenden Vorbildlichkeit wieder zu realisieren. Aber das würde eine religiöse Erschütterung erfordern, die das ganze Volk erfasst und umfasst – denn Religion kann nur leben aus der Masse und der Einheit seiner Bekenner – oder es würde das Auftreten eines Propheten verlangen – denn Religion wird nicht schöpferisch ohne den grossen Verkünder.

Wenn es in unserer Geschichte je eine Zeit gegeben hat, die jegliche Voraussetzung einer religiösen Erschütterung in sich barg, dann ist es unsere Gegenwart. Es gibt keinen Grundbegriff echter Religion – und nicht nur der jüdischen Religion – der nicht in dieser Zeit auf das entscheidendste herausgefordert, in der brutalsten Weise provoziert, mit äusserster Eindeutigkeit auf die Probe gestellt worden wäre: Nächstenliebe, Menschlichkeit, Würde des Menschen, Gerechtigkeit, die Geborgenheit der Kreatur in dem Glauben an einen Gott und eine gütige Vorsehung. Aber die Welt hat es vorgezogen, nicht auf dieser irrationalen Ebene zu antworten. Sie wollte offenbar den Namen Gottes, der von allen Beteiligten im Munde geführt wurde, nicht vergebens aussprechen. Sie antwortete mit einem Atlantik-Charter, mit den literarisch frisierten »Vier Freiheiten« von Roosevelt, und dem sogenannten Ruck nach links zum Zwecke der Reparatur eines überalterten politischen und ökonomischen Systems. Über ein individuelles religiöses Bedürfnis, das hier und dort unter dem Druck der Zeit auftauchte, und das hier und dort von den Geistlichen der verschiedenen Bekenntnisse sauber und aufopfernd befriedigt wurde, ist die Welt nicht hinaus gelangt. Ihre an Dreistigkeit streifende Unernsthaftigkeit enthüllte sich in dem Behagen, in dem sie das populäre Lied »Praise the Lord and pass the ammunition« mitstampfte. Und es ist wie ein grotesker Mummenschanz, dass es in dieser Zeit gerade die russische Diktatur war, die mit grosser Schaustellung und unter dem Beifall einer ihr wesensfremden Welt der Kirche ihrer feudalistischen Vergangenheit wieder das Recht zum Leben verliehen hat.

Aber auch das jüdische Volk – das Religions-Volk kat exochen – kann nicht den Ruhm für sich beanspruchen, auf diesen gewaltigen Anruf mit einer religiösen Erschütterung geantwortet zu haben. Es hat – in seinen schöpferischen Gestalten – von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, obgleich es sie der Potenz nach besitzt. Denn ein Volk, dessen Menschen in der Stunde, da man sie zur Schlachtbank führt, noch singen können: »Der Messias wird kommen!«, hat sehr grosse Möglichkeiten der konstruktiven Gläubigkeit, Sie hätte sich – wenn irgendwo – dort einen geistigen oder künstlerischen Ausdruck schaffen müssen, wo das Volk sich seinen eigenen Alltag wieder aufbaut, und zwar unter geistigen Bedingungen, die es sich selber wählen kann: in Palästina. Aber dieses Problem ist offenbar von denen, die der geistige Seismograph des Volkes zu sein hätten, als Problem gar nicht empfunden worden. Dieses Feld, angefüllt mit Fruchtbarkeit bis an seine Grenzen, blieb leer und ungepflügt. Kein Psalm, keine Liturgie, kein prophetischer Spruch, keine messianische Vision! Sie räumten das Feld kampflos den geistlichen Autoritäten, und die einzige Antwort, die da erfolgte, war ein offizieller Aufruf zur Trauer, zum Fasten und zu vermehrter Gesetzestreue.

Die Feststellung dieses Versagens enthält keine Verurteilung. Es hat seine tiefen Gründe. Intelligente und wohlwollende Betrachter, die dem Beginnen des jüdischen Volkes von aussen zusehen, treffen zuweilen die Feststellung, dass dieses hartnäckige Volk genau dort wieder begonnen habe, wo es zur Zeit des Pontius Pilatus aufgehört habe. Aber das ist ein Irrtum. Die Idee einer direkten Fortsetzung, so verlockend sie ist, steht unter der Belastung einer fast zweitausendjährigen Trennung vom Boden und von jenem gesellschaftlichen Leben, das allein mit seinen Strebungen und Spannungen die Atmosphäre echter Religion erzeugen kann. Religion, die mehr sein will als Dogmentreue, braucht ein gesellschaftliches Volumen der gleichen Überzeugung, der gleichen Zielsetzung, des gleichen sittlichen Tuns, des gleichen geistigen Unterbaus. Alles das ist von einem Volke, das in seinem gesellschaftlichen, zivilisatorischen und geistigen Bestande eine weitgehende Atomisierung hat hinnehmen müssen, nicht zu erwarten. Hier wird nicht – um es an einem Bilde anschaulich zu machen – ein uraltes Gewebe, treulich verwahrt, in die Heimat zurückgebracht, wo es mit seinem Muster und seinen Farben ein Sinnbild und ein Vorbild für das Ineinandergreifen der gestaltenden Kräfte wird. Sondern hier werden alte, wenn auch unzerstörbare Fäden auf einen neuen Webstuhl gespannt, und Hunderte drängen sich heran, ihr eigenes Muster hineinzuwirken, halb in unbewusster Nachahmung dessen, was sie in der Verbannung als schön oder erstrebenswert kennen gelernt haben, und halb aus verdunkelter Erinnerung an die Ideale, aus denen dieses geschichtskundige Volk einmal den Teppich seines Lebens gewirkt hat. Und jeder möchte heimlich das Gewebe des anderen auflösen und mit seinen Farben und seinem Muster zum Ausdruck bringen, wie man diese neue Gemeinschaft aufbaut. Und so werden sie, einig im Bemühen und doch uneinig in den Wegen des Bemühens, ein unruhiges und fluktuierendes und unoriginäres Muster erzeugen, bis einmal das geschieht, was letzten Endes jedes Volk für seinen geistigen Fortschritt erhoffen muss, und was nie und nirgends nur durch eine Ansammlung von Talenten geschehen kann: bis einmal der grosse Webemeister erscheint, der die Fäden nach seinem Willen knüpft und mit den Figuren seiner Vision das Vorbild gibt und das Ziel setzt.

Bis dahin aber muss man sich dazu bekennen, dass das Judentum als klassisches Volk gestorben und als Volk der Gegenwart noch nicht wieder zu einer charakteristischen Eigenform erwacht ist. Es befindet sich in der einzigartigen Situation einer Gemeinschaft im status nascendi. Das ist eine Situation voller Spannung und voller Verpflichtung. Man steht in der Erwartung, ob hier die alten Fragestellungen wieder auftauchen werden, die dem ersten status nascendi seinen dramatischen Inhalt gegeben haben. In der frühgeschichtlichen Zeit, als der Kampf um die endgültige Formung der Gemeinschaft ausgefochten wurde, stellte das Volk einmal eine Forderung, die den grossen Richter und Erzieher Sch'muel mit einer bitteren und beissenden Verachtung erfüllte: es wollte sich dem theokratischen Regime entziehen und sein »wie alle Völker«. Es hat späterhin lernen müssen, auf diesen Ehrgeiz zu verzichten und sich mit der entgegengesetzten Idee vertraut zu machen: dass alle Völker so sein sollten wie es selbst. Von diesem messianischen Wunschtraum hat sich nur die eine, die belastende, die schicksalhafte Hälfte erfüllt: dass es nicht so wurde wie alle anderen Völker. Es hätte das Gewicht solcher Sonderexistenz, solcher Sonderart nie ertragen können, wenn ihm nicht die Idee der verpflichtenden Auserwähltheit dabei zur Hilfe gekommen wäre.

Eine solche seelische Problematik, die am Anfang der Eigenformung stand, und die den ganzen geschichtlichen Ablauf entscheidend beeinflusst hat, lässt sich natürlich bei einer Fortsetzung nicht willkürlich ignorieren, wenn man nicht den Begriff der Fortsetzung selbst zu einem rein dekorativen Schlagwort machen will. Aber sie lässt sich auch nicht willkürlich erzeugen. Beides zusammen ergibt eine unbehagliche Spannung, und so geht das Bemühen dahin, diesen ganzen Fragenkomplex einstweilen im Hintergrund zu halten und ihn dort bis zu jenem zukünftigen Augenblick zu belassen, wo dasjenige wieder hergestellt ist, was man als »normales Volksleben« zu bezeichnen pflegt. Darin liegt zweifellos eine bewusste Verminderung der gedanklichen Weite dieser Renaissance. Man könnte sie einstweilen in Kauf nehmen, wenn man die Sicherheit hätte, dass der Begriff der »Normalität« nur als Gegensatz zu den anormalen Lebensbedingungen der Galuth verstanden wird, nicht aber – und die Tendenz dazu ist stark – als die Negierung dessen und der Gegensatz zu dem, was einmal den geistigen und kulturellen Sonderstatus dieses Volkes ausgemacht hat. Eines ist zwar ohne Bedingung zuzugeben: die Parole von der »Rückkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland«, die einmal in der Frühzeit des Zionismus ausgegeben wurde; unterschätzt die formende Kraft des gelebten Alltags und reisst eine künstliche Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit auf.

Aber in dem Masse, wie diese Wirklichkeit sich entfaltet und ihr materielles Quantum sich steigert, wächst doch auch jener Raum, der für die Produktiven einer Gemeinschaft als ihr Bezirk der Gestaltung und geistigen Beeinflussung zur Verfügung steht. Haben sie nicht die Absicht, das Ende zu bedrängen? Sind alle die Talente, die sich an vielen Stellen dieser nationalen Rekonstruktion bemühen, damit zufrieden, bescheidene Arbeiter im Weinberg zu sein und das seelische Klima und das geistige Volumen vorzubereiten, aus dem die grossen, für dieses Volk typischen Leistungen und damit die legitimen Anwärter für ein neues Pantheon einmal entstehen können? Sehen sie keinen anderen Anreiz und keine grössere Möglichkeit vor sich? Der aufmerksame Betrachter der Kulturgeschichte wird allerdings immer wieder feststellen, dass grosse Einzelleistungen vorwiegend im Gefolge von auffälligen kollektiven Leistungen in die Erscheinung treten, wobei es nicht einmal entscheidend auf den geistigen oder ethischen Wert dieser Leistungen ankommt, sondern auf den Wertzuwachs, den sie dem Selbstbewusstsein der Nation zur Verfügung stellen. Griechenland erlebte den kurzen Höhepunkt seiner bildenden Kunst, nachdem es zum ersten und einzigen Male in seiner Geschichte in der Abwehr der Perser einig gewesen war und sich in einem unbekannten Kraftgefühl sonnen konnte. Ein Shakespeare hat seinen logischen Platz in dem Aufblühen des englischen Imperium zur Zeit der Königin Elisabeth, und selbst ein halb-barbarisches Land wie Portugal, durch Seefahrt, Goldraub und Gewürzhandel unversehens zur Grossmacht aufgestiegen, erzeugt spontan bedeutende Dichter.

Wenn man die äusseren Bedingungen dieses Neubaus und die geringe Zahl der Beteiligten erwägt, wird es nicht Wunder nehmen, dass diesem Volke im status nascendi bis auf weiteres solche auffälligen Kollektivleistungen verwehrt erscheinen, selbst wenn es in der Besiedlung des Landes sehr respektable Gruppenleistungen aufzuweisen hat. Aber nichts müsste dieses Volk daran hindern, auch ohne in die Augen springende Kollektivleistungen sein Bewusstsein von der geistigen Bedeutsamkeit einer Rekonstruktion bis zum Ausmass des Produktiven zu steigern, denn es lebt doch mit der alten, so überaus [verpflichtenden] Idee, eine grosse Vergangenheit fortzusetzen. Mag die Masse noch so widerstrebend sein und am Ideal des »normalen Lebens« festhalten: die Vorstellung von den Möglichkeiten von morgen müsste dennoch für die Geistigen dieses Volkes ein ungeheurer Ansporn sein.

Aber auf dem Gebiete der kulturellen Formung ist mit der Aufstellung theoretischer Forderungen wenig getan. Das Wachstum einer Kultur – falls sie nicht durch den schöpferischen Zufall einer visionären Gestalt explosiv gefördert wird – ist ein organischer Prozess, der bedingt ist durch sehr viel mehr als nur materielle Voraussetzungen. Das Beispiel des amerikanischen Kontinents mag hier zum Vergleich mit grösstem Nutzen herangezogen werden. Auch dort strömten Menschen verschiedenen Herkommens zusammen, die gleichwohl alle einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund hatten: den Bezirk der christlichen Religion. Es war das ein Untergrund, der immer wieder seine entschiedene Betonung fand. Dass sie neu entdeckte Punkte mit Namen aus ihrer Religionsgeschichte benannten, war selbstverständlich. Den ersten Kolonisten folgte nicht nur die Mission der Mönche auf dem Fusse, sondern auch die Inquisition der Kirche. Die Landung der Pilger-Väter auf der May Flower rangiert heute noch sehr hoch in der Frühgeschichte dieser Besiedlung, und selbst ein Raubmörder wie Cortez baute anstelle des in Trümmer geschossenen Palastes von Vera Cruz eine Kathedrale in maiorem Dei gloriam. Aber eine Kultur, für die dieser Untergrund des Glaubens in irgend einem Sinne bestimmend oder formend geworden wäre, ist dennoch nicht entstanden. Ganz im Gegenteil: es wurde der entschlossene Versuch gemacht, Begriffe wie Freiheit des Individuums, Souveränität des Volkes, freier Wettbewerb, Hebung des Lebensstandards und damit des individuellen Glücks, Demokratie und so fort zur Grundlage einer Kultur zu machen. Das Ergebnis ist derartig, dass es sich dringend empfiehlt, die sehr wertvolle Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation wieder einmal mit aller Schärfe zu betonen.

Für den Augenblick hat es den Anschein, als ob auch für den Aufbau der jüdischen Gemeinschaft diese prinzipielle Unterscheidung nicht entbehrt werden könnte. Doch muss eine Einschränkung gemacht werden: in dieser Gemeinschaft wird die Frage des kulturellen Untergrundes zumindest diskutiert. Die alten Bestände der Vergangenheit werden herangezogen, um der Belehrung und der Erziehung zu dienen. Die Sprache wird in einem erheblichen Umfange reaktiviert. Man experimentiert mit den alten Festen. Es wird der – wenn auch bislang noch richtungslose – Versuch gemacht, die Elemente des Judentums allmählich in das Zentrum des Lebens zu rücken. Wenn man es auf eine sehr hohe Formel bringen will, die dem heutigen Zustand gewiss um ein Erhebliches vorauseilt, so könnte man sagen, dass eine Art Bereitschaft vorhanden ist, wieder judäo-zentrisch zu leben.

Dass wir es uns zur Aufgabe setzen, wieder judäo-zentrisch zu denken und zu empfinden, ist nicht nur verständlich, sondern auch notwendig. Irgend eine andere Art der geistigen Selbstmotivierung haben wir nicht, und jede Tendenz, uns sozusagen allweltlich und international in unserer geistigen Produktion zu gebärden, wäre ein gedankenloser Versuch, einem noch nicht gebauten Hause ein Dach aufzusetzen. Aber der Begriff judäo-zentrisch selbst besagt ja schon, dass es sich hier um nicht mehr handelt als um die Fixierung eines Zentrums, eines Mittelpunktes im genauesten Sinne des Wortes. Wenn ein Mittelpunkt aber nicht der Bestimmungsort eines Kreises ist, wenn er nicht die Weite und den Verlauf der Peripherie angibt, dann ist er nur ein Punkt ohne Ausdehnung irgendwo in einer Fläche ohne Grenzen. Dann mangelt ihm auch jene Eigenschaft, die einem lebendigen Zentrum innewohnt: der Ort zu sein, von dem die Zentrifugalkraft ausschwingt und zu dem hin die Zentripetalkraft tendiert.

Den objektiven Möglichkeiten nach ist hier die Position unseres Volkes so günstig, wie sie vielleicht noch nie in seiner bewegten Geschichte war. Einen solchen Kampf auf Leben und Tod, im Materiellen wie im Geistigen, haben wir noch nie geführt, und kein anderes Volk hat ihn je in dieser Schärfe und barbarischen Übersteigerung führen müssen. Aber wer nach irgend einem künstlerischen Dokument sucht, nach irgend einer geistigen Antwort, nach irgend einer schöpferischen, nach irgend einer ungewöhnlichen Reaktion auf diese unerhörte Herausforderung, die die Welt uns in diesem letzten Jahrzehnt hingeworfen hat – der muss sich enttäuscht und mit einiger Verlegenheit zur Seite wenden. Zwar die Einzelnen, und besonders die Jugend, fühlen sich zu neuer Aktivität und zu manchen materiellen Opfern aufgerufen. Aber die Antwort, die von den Produktiven des Volkes gegeben wird, ist ohne Grösse, ohne zwingende Kraft, ohne die Gewalt eines Stromes, der alle mitreisst. Keine Elegie von überwältigender Trauer, kein Epilog von Stolz und Resignation, kein Roman von lebenumfassender Weite, nicht einmal eine Anklage von der Wucht eines Hammers, der Tore von Erz zertrümmert. Das J'accuse eines Zola gegenüber der Korruption derer, die den Juden Dreyfuss richteten, war tönender und leidenschaftlicher als alles, was den Produktiven unseres Volkes in der Stunde der höchsten Krise zu sagen vergönnt war.

Der Ausdruck »vergönnt war« steht hier mit der betonten Absicht, sie von aller Schuld und Verantwortung freizusprechen. Unvermögen ist keine Schuld. Auch ein Mangel an Teilnahme und Empfindung kann ihnen nicht vorgeworfen werden. Die Gründe für das Versagen liegen kaum im Subjektiven, sondern überwiegend im Objektiven. Im Subjektiven liegen sie vielleicht nur da, wo sich der Mangel an einer künstlerischen Tradition und das Fehlen einer geistigen Diszipliniertheit störend und zum entschiedenen Nachteil des Produzierten bemerkbar machen. Aber objektiv liegen sie da, wo die gesellschaftlichen Vorstellungen der gestrigen Galuth-Bezirke in der neuen Gegenwart ihre Fortsetzung oder ihre fröhliche Wiederauferstehung erfahren und mit dem geistigen auch zugleich den seelischen Horizont unklar, vernebelt und unschöpferisch machen.

Der Begriff »gesellschaftliche Vorstellungen« ist hier im allerweitesten Sinne gemeint. Er umfasst nicht nur die sozialen und politischen Vorstellungen vom Wesen und Aufbau der Gemeinschaft, sondern auch die Wertung der Leistungen in diesem Rahmen. Und hier ist das erste Ergebnis, dass der Übergang vom alten zum neuen Leben durchweg begleitet ist von einem Verlust des Sinnes für Proportion. Das ist verständlich. Ein Volk, das durch den Zwang der Umstände in seinem Tun unfrei geworden ist und dem jetzt die Freiheit des Tuns zurückgegeben wird, neigt natürlich dazu, die ersten Schritte in dieser Freiheit übermässig zu werten. Und es ist gut und nützlich, dass diejenigen, denen das geschriebene oder gesprochene Wort zur Verfügung steht, diese Anfänge des selbständigen Tuns unterstützen und ermuntern. Sie dürfen und müssen es in diesem Falle um so eher, als in diesen Neubau, insbesondere in seinem landwirtschaftlichen Sektor, viel Idealismus und Opferbereitschaft hineingetragen worden ist. Aber sie verfehlen ihre Funktion als Gestalter und Wegweiser der Gemeinschaft grundlegend, wenn sie sich damit begnügen, dasjenige zum Gegenstand eines Heroenkultes zu machen, was bei jedem Volke im Aufbaustadium als normale Leistung gelten muss. Sie machen sich zu Funktionären gesellschaftlicher Leistungen, statt sich zu ihren Führern aufzuwerfen. Sie summen begleitende Akkorde zu einem Werke, dessen führende Melodie sie mit gewaltiger Stimme singen müssten. Sie sind zumeist – es ist nicht ihr Verschulden – selber noch in den Anfangsstadien des freien Tuns. Und zudem: was überall sonst für die Produktiven einer Gemeinschaft ein Ansporn zu grösserer Leistung bedeutet: die freudige Anerkennung durch den Hörer, Leser, Betrachter – das verwandelt sich hier zu einer unwillkommenen Hemmung. Sie werden allzu bereitwillig anerkannt, und das kritische Quantum, das Ansprüche an die Qualität der Leistung stellt, ist noch allzu gering und unentwickelt. Es besteht hier eine an sich rührende Brüderschaft zwischen dem Produktiven und dem Rezeptiven, die den Anschein einer dichten kulturellen Atmosphäre erwecken könnte. Aber sie ist de facto nichts als die familiäre Beziehung zwischen zwei noch unvollkommenen Ansprüchen.

Denn auch der Produktive, wo er wirklich schöpferisch ist, stellt Ansprüche an den Rezeptiven, und je höher der Anspruch ist, den sein Werk enthält, desto grösser ist die gestaltende und erzieherische Kraft und Wirkung. In diese natürliche Beziehung greift wieder eine gesellschaftliche Vorstellung der gestrigen Vergangenheit störend und deformierend ein. Wenn man es auch vermeidet, in schlichter Nachahmung gewisser europäischer Schlagworte von einer »proletarischen Kunst« zu sprechen, – was schon deswegen abwegig wäre, weil es ein Proletariat im europäischen Sinne in Palästina nicht gibt – so wird doch die Vorstellung »Kunst für das Volk« gehegt und gepflegt und zum Schaden der Kunst auch praktiziert. Aber sowohl der Begriff »proletarische Kunst« wie der Begriff »Kunst für das Volk« sind eine kulturelle Farce und ein grotesker Unfug. Kunst ist nicht kollektiv und demokratisch. Kunst ist individuell und aristokratisch. Ihr Geburtsraum ist nicht die Masse, sondern die besonnene und aufmerksame Vereinzelung. Wer für diese Selbstverständlichkeit einen Beweis braucht, der sehe sich unter den Produktiven der italienischen Renaissance um. Wenn Kunst wirklich gross ist, wird sie auch vom »Volke« verstanden, und vielleicht nur dann. Die Moses-Statue eines Michelangelo und der David eines Donatello sind so grosse Kunst, dass sie auch auf das »Volk« den tiefsten Eindruck machen. Es besteht kein Bedürfnis, einen neuen Moses oder einen neuen David nach den Anforderungen und der Rezeptur einer proletarischen Kunst zu schaffen. Die Kunst müsse zum »Volke« gehen? Gedankenloses Geschwätz! Die Kunst muss zum Menschen gehen, und je mehr und je unerbittlicher sie von ihm fordert, desto höher lässt sie ihn aufsteigen. Und damit steigert auch er – in der lebendigen Wechselwirkung, die zwischen dem Anruf und der Antwort besteht – den Produktiven selber, bis er ihn eines Tages mit einem wahren Sinn für Proportion und mit einem echten Verständnis für eine grosse Leistung in das Pantheon seiner Gemeinschaft einreihen kann.

Aber eine solche kulturelle Entwicklung lässt sich nicht als eine Forderung aufstellen. Sie lässt sich nur als eine Hoffnung und eine Erwartung zum Ausdruck bringen. Und alles, was hier erwogen wurde, kann nur eine Ansprache an die Produktiven bedeuten, sich der Situation bewusst zu werden und den Mut zu Entscheidungen zu finden. Es wäre nichts gegen eine Entscheidung zu sagen, die beschliesst, über den Rahmen der internen kulturellen Bedürfnisse nicht hinaus zu gehen und die Welt Welt sein zu lassen. Dann würde so etwas wie ein internes Pantheon entstehen, das vielleicht einmal durch die Menge seiner Talente eine angenehme kulturelle Atmosphäre der Gemeinschaft bezeugen würde. Aber ein wirkliches Pantheon, das eine Beziehung und zugleich eine produktive Abgrenzung zur Welt darstellt, ein Pantheon, das – der eigenen Gemeinschaft zur Befriedigung und den anderen Völkern zum Neide – die Kultur des jüdischen Volkes wieder zu einem Weltfaktor machen könnte: das würde nicht entstehen.

Wenn ein Pantheon in diesem Sinne repräsentativ sein soll, dann wird man gut daran tun, es für das Genie, den Menschen der grossen Vision zu reservieren. Das Talent, der Mensch der ordentlichen und respektablen Begabung, wird besser draussen gelassen. Er würde die Reihen allzu sehr füllen und die feierliche Halle zu einer etwas unruhigen Volksversammlung machen. Gewiss ist die Abgrenzung zwischen Genie und Talent schwierig und flüssig. Aber sie ist immer wieder an konkreten Beispielen aufzuweisen. Eine Gestalt steht immerhin schon in diesem Pantheon, die die Bedingungen des Genies und des Visionärs erfüllt; Theodor Herzl. Er hatte die Grösse und die Hellsichtigkeit, die Schlichtheit und die Einfalt eines Sehers. Seine Leistung erfüllt jene Voraussetzung, die hier für das Wesen eines Pantheon aufgestellt wurde: sie beruht mit ihren Wurzeln in der eigenen Gemeinschaft, und wirkt doch mit ihrer Erscheinung und Bedeutung in die Welt hinein. Er ist der Anfang der neuen Reihe, denn er – und kein anderer – hat sein Volk nicht nur auf sich selbst, sondern zugleich wieder in das Rampenlicht der Geschichte gestellt, vor der es sich durch seine Leistungen bewähren muss, wenn es seinen Anspruch, ein Geschichts- und Kulturvolk zu sein, nicht aufgeben will.


 << zurück weiter >>