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Wir leben in einer Zeit, in der die Massenhaftigkeit der Schicksale uns daran hindert, dem Schicksal des Einzelnen genügend nahe zu kommen und ihm Gerechtigkeit werden zu lassen. Es scheint, als sei das Schicksal der Masse, der Gruppe, der Vielen so übermächtig und vordringlich, dass es darüber nicht der Mühe verlohne, dem Geschick eines Einzelnen nachzugehen. Eine Zeit, die in der Psychologie das liebevolle Eingehen auf jede geringe Schwankung im seelischen Ablauf des individuellen Lebens verlangt, behandelt in der Stunde der Massenkatastrophe das Einzelschicksal als Fussnote oder als Randglosse zu einem feststehenden Text, im besten Falle als eine eingestreute Illustration.
So beraubt man sich selber der Möglichkeit einer grossen Erfahrung: an einer Gestalt, der typisches Schicksal geschah, die Linien aufzuzeigen, auf denen dieses Schicksal sich mit fast elementarer Notwendigkeit vollziehen musste, jene Linien, die gar nicht mehr individueller Zufall sind, und die – richtig erkannt – die Summe unserer Erfahrungen spontan erweitern könnten ... wenn wir nur wirklich bereit wären, unsere innere Welt so aus seelischem und geistigem Erfahren aufzubauen, wie wir die äussere Welt, die Welt unserer materiellen Zivilisation, aus den Erfahrungen von Technik und exaktem Wissen aufzubauen bereit sind.
Aber es ist die grosse, tragische Zweifelsfrage, ob die Menschheit eine solche Addition der seelischen Erfahrung wirklich kennt; oder ob sie sich aus dem immer erneuten Ausweichen vor der Verpflichtung, die jede Erfahrung mit sich bringt, immer wieder – halb blind und halb geblendet – in die Trägheit des Vergessens hineinfallen lässt. Und es ist weiter die Frage, ob man Völkern als Gesamtheiten solches Sammeln von Erfahrung überhaupt zumuten kann, oder ob es nicht vielmehr Sache des einzelnen geistigen Menschen, des produktiven Isolierten, des Schauenden und des Visionärs ist, in sich alle jene Erfahrung zu sammeln, die die Masse zu sammeln zu träge oder vielleicht zu belastet ist. Und dann endlich ist die Frage, ob es etwa Völker gibt, zu denen die Erfahrung immer nur in kurzen Impulsen kommt, während es andere gibt, denen Jahrtausende eines Sonderschicksals den Sinn für historische Erfahrung so geschärft haben, dass man die Vorausschau und die Erfahrung, die sich daran knüpfen, billig von ihnen verlangen kann.
Diese Fragen mögen hier zum Teil als Ausdruck des Zweifels unbeantwortet stehen bleiben. Aber zwei Antworten drängen sich dennoch auf. Es gibt ein Volk, dessen historische Kontinuität so alt, so ununterbrochen, so überaus engmaschig geknüpft, so sehr mit zwangsweisen Erinnerungen belastet ist, dass ihm daraus als die geringste Ernte ein unfehlbar waches Bewusstsein für seine Stellung in der Historie jeder Epoche hätte zuwachsen müssen, und damit ein dauernd präsentes Wissen von dem äusseren Schicksal, das diese Stellung in der Welt ihm je und je bereitet hat und bereiten wird.
Es ist klar, dass hier vom jüdischen Volke gesprochen wird. Es hat diesen präsenten Schatz von Erfahrungen wirklich einmal besessen. Es hatte ihn, solange es noch in messianischen Begriffen dachte und die Vorstellung vom provisorischen Verweilen in der Welt ihm noch aktuell war. Als diese Vorstellung aus Mangel an Realisierung alt und schwach wurde, hat für lange Zeit das Verhalten der Umwelten in ihm jene Unsicherheit am Leben erhalten, aus der die Vorsicht, das Abwarten, das Misstrauen, der geistige Vorbehalt kommen. Dann fielen nach und nach die äusseren Schranken, die dieses historisch paradoxe Volk von der Teilnahme am Leben der Umwelt ausschlossen. Es fielen die äusseren Schranken, nicht die inneren; die werden bis heute an hundert Punkten der Welt immer wieder neu aufgerichtet.
Damit wurde ein entscheidender Prozess eingeleitet.
Das jüdische Volk zerbrach in regionale Körper, die alle ein neues Gefühl der Loyalität für den Lebensbezirk entwickelten, in dem ihnen diese Existenz der verminderten Schranken gewährt wurde. Aus diesem Gefühl der Loyalität wuchs mit steigender kultureller Teilnahme am Leben der Welt ein anderes Gefühl: das der Legitimität ihres Tuns. Soweit die einzelnen jüdischen Gruppen als regionale Einheiten in Frage kamen, wandte sich dieses Gefühl der Legalität im wesentlichen den allgemeinen Lebensbezirken zu: dem Anspruch auf Gleichheit mit den anderen Menschen im Wirtschaftlichen, Rechtlichen und Gesellschaftlichen. Aber wo einer als produktiver Mensch durch seine Leistung aus der Masse hervorragte, übersteigerte sich immer wieder dieses Gefühl der Legalität zu einem Bewusstsein der Identität: er sprach nicht nur in einem Kulturraum, der ihm gehörte; er sprach auch für diesen Kulturraum. Er war sein Repräsentant. Er konnte es vor sich selber werden, weil er für sich selbst etwas vollzogen hatte, was sich auf die Dauer immer wieder als eine historische Voreiligkeit herausstellt: er hatte, nachdem die äusseren Schranken gefallen waren, auch die inneren Schranken eingerissen, die für Jahrhunderte das geistige Leben des Juden von dem seiner Umwelt geschieden hatten.
Diese Selbst-Identifizierung kann nicht mit dem vereinfachenden Schlagwort von der »Assimilation« genügend erklärt werden, Dafür sind die Formen, die sie annahm, zu sehr variiert; und nirgends gab es mehr Varianten als im Bezirk der deutschen Sprache. In diesem Bezirk stossen wir sogar auf einen Schulfall ganz besonderer Art: dass nämlich einer die inneren Schranken einreisst, noch ehe die äusseren gefallen sind. Das tat Moses Mendelssohn, diese Dekorationsgestalt der jüdisch-deutschen Kulturgeschichte, dessen erste literarische Leistung darin bestand, dass er den Deutschen eine unzureichende Hochachtung vor ihren eigenen Philosophen vorwarf, und der dann berufsmässiger Kritiker der deutschen Literatur wurde.
Diese Tendenz, sich durch das Medium der Kritik zu der Umweltkultur in Beziehung zu setzen und damit ihren Gang und ihre Gestaltung beeinflussen zu wollen, hat sich übrigens mit einer merkwürdigen Hartnäckigkeit bis in unsere Gegenwart erhalten. In Politik, Literatur, Musik und bildender Kunst haben immer wieder Juden ihre Identität mit dem Wirtsvolke nicht nur bestätigt, sondern in seltsamer Weise übersteigert, indem sie letzten Endes vom anonymen Kreis ihrer Leser verlangten, dass sie sich den Grundideen ihrer kritischen Betrachtung unterordneten. Was sie für gültig erklärten, sollte gültig sein. Sie erteilten die Zensuren für die Leistungen der Kultur, die sie adoptiert hatte.
Die äusseren Gründe für den Erfolg, den sie eine zeitlang damit hatten, liegen darin, dass ihnen ihre Tätigkeit durch eine erstaunliche Aufnahmebereitschaft ihres Milieus leicht gemacht wurde. Ihre Diktion, ihre Sprache, ihre intellektuelle Konzeption hatten den Reiz der Neuheit und die Anziehungskraft einer noch unverbrauchten geistigen Agressivität. Zwar wurde in diesem und jenem Winkel immer wieder eine Ablehnung aus antijüdischem Ressentiment vernehmbar; aber das durften sie ignorieren, da sie von der – mindestens schweigenden – Zustimmung der an solchen Dingen Interessierten getragen wurden. Allerdings ist von dieser Majorität eines auszusagen: sie bestand in den deutsch-sprachigen Gebieten zu einem bedeutenden Teil aus jenem kulturhungrigen jüdischen Bürgertum, das durch seine aktive und passive Teilnahme zugleich ein Schrittmacher und ein Gradmesser für das literarische und künstlerische Leben des letzten halben Jahrhunderts war.
Unter den literarisch produktiven Juden jener Zeit und jenes Bezirkes gab es im übrigen so viele Varianten, wie es Individualitäten gab. Ihre Thematik ging jeweils so weit wie ihr Weltbild. Zuweilen spielte darin das jüdische Thema eine Rolle. Bei einem Dichter – und nebenbei gesagt: einem echten Dichter – wie Beer-Hofmann war aus einer tiefen gefühlsmässigen Bindung her das jüdische Thema immer aktuell. Ein Hugo von Hoffmannsthal wusste von dieser Vergangenheitsbindung schon nichts mehr. Andere gaben sich gelegentlich, fast wie bei Wege lang, einem jüdischen Thema hin: Stefan Zweig in seinem »Jeremias«, Wassermann in seinen »Juden von Zirndorf«, Werfel in seinem »Höret die Stimme«, die ihn im übrigen nicht daran hindert, die Stimme des Katholizismus mit noch vermehrter Intensität zu hören; und selbst eine tragische Zwischengestalt wie Walter Rathenau schrieb in seiner Jugend ein Buch, das er »Höre Jisrael« nannte. Andere versuchten zu einer Zeit, als die theoretische Beschäftigung mit der Stellung des Judentums in der Welt aktuell wurde, ihren individuellen Beitrag zu geben, wie Max Brod in seinem »Judentum, Christentum, Heidentum« es tat und Arnold Zweig in seinem »Caliban«.
Aber diese Beschäftigung mit dem jüdischen Thema soll hier in keiner Weise als ein Kriterium für oder gegen den einzelnen Produktiven benutzt werden. Das jüdische Thema als solches ist ein ungenauer Masstab, insbesondere dann, wenn wir uns ausserhalb der Literatur begeben. Wenn ein Liebermann sich ein jüdisches Objekt wählt, so wird damit keineswegs eine besondere Note in seinem Kunstschaffen angeschlagen. Und wenn Struck, statt das »Jüdische Antlitz« zu zeichnen, eine Radierung nach einem Gemälde von Domenicho Veneziano anfertigt, so verlässt er in nichts die allgemeine Linie seiner graphischen Kunst. Eine etwas kompliziertere Rolle spielt das jüdische Thema erst, wenn wir von der Literatur reden, von jenem Bezirk der Gestaltung, in dem die Wahl des Stoffes nicht weniger über den Wert entscheidet als seine Formung und Gestaltung.
Es kommt dann wesentlich darauf an, welchen Platz das jüdische Thema im Gesamtschaffen des Einzelnen einnimmt; ob es der lebendige Mittelpunkt ist, die zentrale Kraftquelle, von der der élan vital ausgeht; oder ob es nur eine Möglichkeit ist, die von Fall zu Fall benutzt wird, um Prämissen einer ganz anderen Welt zu belegen. Es ist theoretisch sehr wohl denkbar, dass ein produktiver Jude sich allen Themen der Welt zuwendet und sie alle nur durch das Spektrum seiner jüdischen Substanz zu sehen vermag, ohne das Wort Jude oder Judentum jemals zu erwähnen. Theoretisch ist es möglich, und vielleicht wird es in fünfzig oder hundert Jahren einmal praktisch möglich sein. Aber es wird immer nur möglich sein an einem einzigen Orte der Welt: da, wo sich aus einer Konzentration jüdischer Menschen jene Atmosphäre des Lebens und Denkens entwickelt, in der Gewächse eigentümlicher kultureller Prägung überhaupt erst entstehen können. Dieser Ort wird vermutlich, trotz der Unsicherheit der politischen und historischen Abläufe, Palästina sein. Aber solange dieser atmosphärische Ort nicht geschaffen ist – und er ist von seiner wirklichen Schaffung noch sehr weit entfernt – geht es um jene Problematik, um jene ungelöste und wahrscheinlich unlösbare Problematik, die in einer einzigen Formulierung zu benennen ist: der Jude in der Welt.
Die Vorstellung, dass der Jude sich in der Welt befindet, das heisst: in grösseren oder kleineren Gruppen oder sogar als unverbundener Einzelner überall in andere völkische Strukturen eingesprengt ist, ist uns so selbstverständlich geworden, dass wir höchstens bereit sind, die jeweiligen Störungen und Verwickelungen zu diskutieren, die sich immer wieder aus dieser sonderbaren Stellung in der Welt ergeben. Aber wir sind beinahe unwillig geworden, jener grundlegenden seelischen Verschiebung nachzugehen, die sich dadurch sowohl in der Struktur der Gruppe wie der Individuen ergibt, und bei dem Individuum besonders dann, wenn es eine deutliche Eigenformung hat; wenn es produktiv ist; wenn es nicht mehr Objekt, sondern Subjekt des kulturellen Verhaltens ist. In ihm muss die Problematik notwendig schärfere Umrisse annehmen, da der schöpferische Mensch dazu neigt, dem Bilde der Welt mit einem eigenen Weltbilde zu begegnen.
Wenn wir uns eine beliebige Liste solcher Individualitäten aufstellen, und wenn wir eine Analyse ihrer Persönlichkeiten versuchen, lässt sich für die überwiegende Majorität und bei allen Variationen im Können und Gestalten eine Eigenschaft feststellen, die ihnen gemeinsam ist: die Bereitschaft oder sogar der Drang, sich zu der Welt und zu den Vorgängen in der Welt als zu einer grossen Einheit in Beziehung zu setzen; die Grenzen zu überschreiten und zuweilen sogar zu negieren, die zwischen den Einzelregionen dieser Welt verlaufen; sich im Raume der Welt ein geistiges Podium zu bauen, von dem aus sie glauben, sie in ihrer Gesamtheit und Einheit zu überschauen und zu ihr als einer Gesamtheit und Einheit sprechen zu können. Und da wir immer noch das Nationale als die bequemste Benennung für die Verschiedenheit der Menschengruppen benutzen, pflegt man von ihnen zu sagen, dass sie sich übernational oder international gebärden.
Nun wissen wir sehr wohl, dass da, wo ein Mensch irgend eines Volkes aus der Seltenheit des schöpferischen Zufalls wirklich einmalig Grosses denkt, vor diesem grossen Gedanken die kleine Grenze des Nationalen nicht bestehen kann; und zwar nicht, weil der grosse Gedanke die kleine Grenze auflöst, sondern weil er auf einer Ebene gedacht wird, die oberhalb der Grenzen verläuft. Aber Jahrtausende der menschlichen und geschichtlichen Erfahrung haben uns gelehrt – so wir uns nur belehren lassen wollen – dass der grosse Gedanke von seinem abstrakten Schweben über den Grenzen nur erlöst werden kann, indem er sich jeweils innerhalb der Grenzen seine Wirklichkeit, seine Variante der Wirklichkeit zu bauen versucht. Darum ist die echte schöpferische Idee übernational. Sie mit dem Begriff international zu verwechseln, ist das Privileg einer minderen Epoche, die nicht mehr aus den Höhen der Vision auf das Leben zudenkt, sondern aus den Verwickelungen der Lebensbedingungen heraus verbindendes Denken mühsam oder leichtfertig zu destillieren versucht.
Diese Dinge werden hier nicht gesagt, um geistige Werte gegen einander abzuwägen, – obgleich wir es bei unserem Thema eindeutig mit den Epigonen des Denkens und nicht mit seinen Demiurgen zu tun haben, – sondern um einer letzten, schon schicksalhaft abgeblassten Verwandtschaft wegen, die sich gerade bei dem intellektuellen Menschen jüdischer Herkunft besonders häufig und deutlich abzeichnet. Obgleich seine Adaptierung an den nationalen Umkreis seiner Geburt ausserordentlich vehement ist, von jener Vehemenz, die wir so erstaunlich oft bei Menschen finden, die sich in einen fremden Bezirk hinein begeben, will er sich dennoch von vornherein in seinem Denken und Sagen nicht mit diesem Bezirk begnügen. Während er darauf hofft, als geistiger Exponent seines nationalen Bezirkes, akzeptiert zu werden, als ein mustergültiger und beispielhafter Bürger seiner kulturellen Heimat gewertet zu werden, macht er dennoch den ständigen Versuch, ein Weltbürger zu werden; das heisst: einer, der überall da zuhause und beheimatet ist, wo diejenigen Dinge gedacht werden, die auch er denkt. Das können natürlich nicht die nur-nationalen Dinge sein; nicht diejenigen Dinge, die für das Begreifen und die Denkformen nur eines bestimmten Volkes typisch sind. Das können nur Dinge sein, die ihrer grossen Allgemeingültigkeit wegen an sich überall gedacht werden können: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ethik, Friede, kurz: alle jene Abstraktionen, die als Wunsch und Ziel und Ideal von der Unvollkommenheit jedes Lebens an das Licht gedrängt werden.
Wenn wir diesen Abstraktionen einmal auf den Grund gehen, so enthüllt sich uns in vielfacher Abwandlung und zuweilen in erheblicher Verdünnung altes Erbgut des Judentums. Diese Bereitschaft, die ganze Menschheit in einen Zustand gehobener Freiheit, tieferer Befriedigung, reicheren Daseins, grösseren Glücks einzubeziehen, ist ein letzter Nachklang prophetischer Visionen, messianischer Endvorstellungen und ethischer Imperative aus der Erlebniswelt des klassischen Judentums. Ob sich diese Intellektuellen mit ungenauer Grossartigkeit citoyen du monde nennen, oder ob sie das Proletariat aller Länder vereinigen wollen, oder ob sie – indem sie die vielen hundert Millionen nicht-europäischer Völker gelassen ignorieren – von der Übernationalität der Kunst reden: sie befinden sich unbewusst auf der Linie dieses kleinen sonderbaren Volkes, das zum ersten Male den Begriff Gott als eine die ganze Welt in sich bergende Einheit verstanden hat, und das noch aus der äusseren Kleinheit seiner Existenz die grosse Vision vom endgültigen Heilzustand der Welt und aller Kreatur in ihr entlassen hat.
Diese Erkenntnis soll nicht dazu dienen, diese Weltbürger irgendwie für das Judentum zu reklamieren oder es als Masstab für sie zu verwenden, sondern um aufzuzeigen, dass ihnen aus dieser nationalen Gebundenheit und zugleich aus dieser mit der jüdischen Erbschaft belasteten nationalen Grenzüberschreitung ein besonderes Schicksal erwächst. Denn hier steht nicht das eine zeitlich und örtlich hinter dem anderen. Es steht in jedem Sinne neben einander. Es ist – fast gibt es da keine Ausnahme – die Heimat gewollt und zugleich auch die Welt. Sie wollen, wenn sie die Grenzen überschreiten und sich sozusagen an die Welt hingeben, doch um nichts auf die Heimat verzichten, die sie sich erworben haben oder die sie für sich in Anspruch nehmen, wenn es auch nur selten vorkommt, dass diese Heimat sie für sich in Anspruch nimmt. Das kann an sich schon die Quelle eines Konfliktes bedeuten, wenn in ihrer Heimat etwas anderes gedacht wird, als was sie selbst in die Welt hineindenken wollen. Sehr oft haben sie für die Welt revolutionäre Ideen, die in ihrer Heimat verfehmt sind. Sollen sie dann die Heimat verlassen? Einige werden gezwungen, es zu tun. Wenige bringen den Entschluss auf, es freiwillig zu tun. Aber erwerben sie sich dann in der Welt ein neues Heim? Nein. Sie erwerben sich niemals ein ganzes Volk oder eine ganze Nation, in der sie Heimat und Welt zugleich finden. Sie erwerben sich immer nur die Nähe von einzelnen Gleichgestimmten oder die Zustimmung gesonderter Gruppen; kleine Heimstätten, aber keine Heimat; einen Unterschlupf, aber keine Geborgenheit. Nur in Zeiten grosser politischer Umwälzungen können jene, die sich im Sinne einer Weltrevolution am weitesten an die Welt ausgeliefert haben, den äusseren Anschluss an die politische oder soziale Ideologie eines ganzen Volkes finden, um letzten Endes doch nur vom politischen Apparat dieses Volkes gebraucht oder gar missbraucht zu werden.
Wer aus der Heimat in die Welt geht, geht letzten Endes doch immer in ein Exil. Nur der Wissenschaftler kann unbeschadet in die Welt gehen. Den Kampf mit der Natur und um ihre Geheimnisse kann man überall führen, wo nur die Arbeitsbedingungen dafür gegeben sind. Aber der Dichter, der Gestalter des Sagbaren, der Produzent des Irrationalen, das den geistigen Bestand der Welt garantiert – der erträgt die Welt nur, wenn ihm die Heimat erhalten bleibt, und sei es auch nur in jenem sublimen Sinne, in dem ein Thomas Mann in seinem bedeutsamen Briefe an den Dekan der Universität Bonn von sich aussagt, er sei in das Exil gegangen. Denn für ihn ist seine Heimat – mag er ihr zeitliches Tun und Verhalten auch noch so sehr verdammen – immer der legitime Raum seines geistigen Aufenthaltes geblieben. Er kann, irgendwo in der Welt geborgen, mit Fug und Recht zu der Heimat hin sagen, dass sie auf einem Irrweg sei. Er kann ihren Widerspruch ignorieren. Er kann verkünden, dass er, der Verbannte, der in der Welt vorübergehend Verweilende, das eigentliche Recht habe, im Namen dessen zu sprechen, was sie einmal war, als das Pendel ihrer Kultur, das immer vom höchst Sublimen bis zum unsagbar Gemeinen ausschlägt, sich noch zur Höhe hin bewegte.
Aber was ihm und seinesgleichen geschehen ist, ist bei scheinbarer äusserer Gleichheit dennoch grundlegend verschieden von dem, was denjenigen Menschen jüdischer Abkunft geschehen ist, die auf irgend einer Ebene des deutschen Kulturraumes sich intellektuell betätigten, mag ihre Leistung nun beachtlich oder nebensächlich gewesen sein. Jenen wurde die Heimat abgesprochen, weil sie sich selber absonderten und es wagten, den zeitbedingten Pendelausschlag eines kulturellen Absturzes zu desavouieren. Diesen hingegen wurde aus Prinzip und mit nachträglicher Wirkung der Anspruch gestrichen, zu dem, was sie vor sich selber Heimat nannten, je in einer echten und legitimen Beziehung gestanden zu haben. Jene wurden als unfolgsame oder untreue Söhne verfolgt, diese als Fremde und Feinde. Es gehört mehr als Blindheit, es gehört ein besonderes Mass an Selbstblendung dazu, diesen fundamentalen Unterschied nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen.
Aber da hier nicht geurteilt, geschweige denn verurteilt werden soll, ist es vielleicht der Gerechtigkeit näher, zu vermuten, dass sie den Unterschied nicht sehen konnten. Nur hier und da, wie eine scheinbar blitzartige Erkenntnis, die doch meistens nicht mehr ist als ein verspäteter Aufschrei des Ressentiment, hat einer sich von der Auslieferung an Heimat und Welt plötzlich zurück besonnen auf eine potentielle Heimat, die er nie ernsthaft in Anspruch genommen hat: auf sein Judentum. Man muss hier sagen: auf sein Judentum; nicht: auf das Judentum. Denn es hatte für sie keine reale Existenz und keine objektiven Attribute. Es war ihnen nicht mehr als eine Pigmentierung, die man nicht leugnen kann, aber die im besten Falle für ihn eine biologische Bedeutung hatte. Wenn einer von ihnen also plötzlich von seinem Volke zu singen und zu sagen begann – wie ein Wolfskehl es zum Beispiel tat – so ist das nicht eine Heimkehr aus tiefer Erkenntnis, kein Bussgang aus einer lebenslänglichen Selbsttäuschung heraus, sondern eine Übersteigerung aus Trotz, die nachträgliche Überkompensierung einer vernichtenden Niederlage. Es ist unter ihnen kein Herzl gewesen, der in der Sekunde, da er angerührt wurde, schon weit über sein eigenes Schicksal hinauswuchs und sich zum produktiven Mittelpunkt eines ganzen Volkes machte. Und selbst die wenigen, die sich nicht einbildeten, dass man sie um ihrer persönlichen Wichtigkeit willen entheimatet habe; selbst die wenigen, die nicht die grundlose Fiktion aufrecht erhielten, dass sie Europäer und Weltbürger seien und deswegen zu Opfern der Verfolgung gemacht worden waren, sondern die einsahen, dass man sie schlicht und einfach ihres Judentums wegen aussonderte – selbst die sind nicht darüber produktiv geworden. Haben sie deswegen irgend einen Fehler eingesehen, und sei es ein unverschuldeter? Hat es sie auf einen Irrtum gebracht, den sie einmal begangen hatten, und sei er ein historisch bedingter? Oder zu einer wenn auch noch so vorsichtigen Korrektur der Beziehung, die sie zwischen sich und ihrer Heimat konstruiert hatten? Nichts dergleichen. Sie haben, zuweilen verbissen, zuweilen vergrämt, ein Exil gefunden und dort ihre Existenz und ihr Tun fortgesetzt; oder sie haben, mit Gebärden und Deklarationen von unterschiedlicher Bedeutung, ihrer Existenz ein Ende bereitet.
Von den Ersteren soll hier nur so weit gesprochen werden, als es nötig ist, um sie aus dem Bilde auszuschalten. Sie gehören noch nicht zum Thema, denn ihre Tragik steht ihnen noch bevor. Sie haben es noch nicht zur Kenntnis genommen, was der Verlust ihrer Heimat für sie bedeutet. Sie werden noch von der Welle der Teilnahme getragen, die eine unbehaglich aufgeschreckte Welt ihnen als Unterstützungs-Beitrag vorläufig noch auszahlt. Sie haben einstweilen noch ein Auditorium unter den jüdischen Flüchtlingen des deutschen Sprachgebietes. Und sie sind hartnäckige Gläubige, die – genau wie sie es früher taten – aus eigener Entschliessung die Schafe von den Böcken sondern, das heisst: selbstherrlich verfügen, wer die echten und wer die falschen Repräsentanten ihrer wahren Heimat sind. Denn auf die Heimat verzichten sie nicht. Sie identifizieren sich noch mit ihr. Sie schreiben noch über ihre Probleme, als seien sie dazu berufen und aufgerufen. Sie tun es wahrscheinlich als Vorbereitung auf die Rückkehr. Denn der Irrtum, der ihr Schicksal formte, liegt nicht bei ihnen, sondern bei den Anderen. So bleibt ihnen die Hoffnung, dass die, die sie einmal vertrieben haben, so rechtzeitig umlernen werden, dass man sie noch zu ihren Lebzeiten als verstossene Söhne reumütig heimholen wird. Denn sie sind grosse Männer. Sie können es anhand ihrer Buchauflagen beweisen. Aber wären Buchauflagen ein Masstab für die Leistung eines Produktiven, dann gäbe es unter den jüdischen Emigranten selbst da noch grosse Männer, wo es doch um der Gesundung unseres geistigen Lebens willen keine dringlichere Aufgabe gibt als die, uns von der Behendigkeit ihrer Pseudo-Geistigkeit mit letzter Entschiedenheit abzugrenzen. Nun, es wäre ein übermenschliches Unterfangen, die Mauer solcher Ich-Bezogenheit einreissen zu wollen. Sie muss von selber über ihnen zusammenstürzen.
Aber wir haben andere, abgeschlossene und in ihrer Art abgerundete Schicksale vor uns, die uns vielleicht darüber belehren können, welcher Art die Erschütterungen sind, die solche Mauern zum Einsturz bringen. Die Erwartung, daran etwas zu lernen, ist der Grund, warum eine Persönlichkeit wie Stefan Zweig hier im Thema jetzt dem Namen nach auftaucht, während er als Typus ja schon von Anfang an im Hintergrunde stand. Aber hier soll nicht der Wert seines literarischen Tuns zur Diskussion gestellt werden. Der Wert einer geistigen Leistung besteht ja nicht darin, was sie den Lesern an Kenntnissen vermittelt, sondern in dem, was sie in ihm an Erkenntnissen aufruft. Auch wenn man annehmen sollte, dass er mehr zur Unterhaltung seines Publikums beigetragen hat als zur Herausprägung einer bestimmten Haltung, bliebe doch sein persönliches Schicksal von jener Allgemeingültigkeit, die aufhorchen lässt und unsere Teilnahme erregt.
Es bedarf keiner biographischen Ausführlichkeit, um das individuelle und das geistige Milieu seiner Entwicklung zu umschreiben. Wir kennen aus vielen Beispielen jene gesicherte und behagliche Atmosphäre einer wohlhabenden jüdischen Bürgerlichkeit, in der man es sich mit Stolz und Rührung leisten kann, einen Sohn dem Dienst im Tempel der Kunstgöttin zu weihen, während die anderen vorsichtig und erfolgreich dem Götzen Mammon weiter dienen. Wir wissen auch, dass in seiner Jugend drei Generationen sich berühren, die in schneller Abfolge drei Stufen einer Entwicklung demonstrieren, einer Entwicklung, die man je nach der Einstellung als Aufstieg oder als Abstieg bezeichnen kann. Der Grossvater hat noch eine sehr intime persönliche Beziehung zum eifernden Gott der Väter und der Heerscharen. Der Vater kultiviert eine von allem Aberglauben säuberlich abgestäubte Pietät, die er nach innen mit einem Jahrzeitlicht und nach aussen mit Spenden für die Armen erleuchtet. Der Herr Sohn kennt die griechische Mythologie weit besser als die biblischen Legenden, und sein Unbehagen, dass sein Stammbaum bei Abraham beginnt und nicht bei Karl dem Grossen, wird beschwichtigt durch das Gefühl, dass es keine Fesseln mehr gibt, die ihn an das Gewesene binden und ihm den Zugang zu einer neuen, unbelasteten Welt versperren.
Diese Söhne glauben alle, an der Schwelle einer neuen Zeit zu stehen, und in einem gewissen Sinne tun sie es wirklich. Der geistig genügsame Typus, den ein Nietzsche als den Bildungsphilister gebrandmarkt hat, ist im Aussterben begriffen. Von den gesellschaftlichen Zuständen fallen gerade um die Jahrhundertwende – als Stefan Zweig also ein 20jähriger war – viele Bindungen ab, die sie mit Engstirnigkeit, Dumpfheit und verlogenen moralischen Konventionen belastet haben. Man darf jetzt Dinge aussprechen, deren künstliches Verschweigen den Menschen bis dahin krumm und unfrei machte. Man gewinnt so einen neuen Zugang zum Natürlichen, Lebendigen, Schönen. Und indem man über die bisherigen gesellschaftlichen Begriffe hinausdenkt, weitet sich der Horizont und schliesst jenes Allgemeine ein, das sich immer einem engen Rahmen mit sterilen gesellschaftlichen Konventionen widersetzt: das Menschliche, das Humane, das dem Kosmos zugehörige, oder – wenn man vor einem so grossen Worte zurückschreckt – das der Welt zugehörige.
Freilich, eines erkennen diese Herren Söhne nicht: dass der Gewinn dieser Freiheit erkauft ist mit dem Verlust einer Bindung. Damit ist nicht jene kleine Bindung von gestern gemeint, die ja in sich nur eine Lähmungserscheinung war, ein Prozess der seelischen Verkalkung; sondern jene grosse Bindung von urehemals, ohne die kein Mensch sicher in der Welt stehen kann und ohne die noch keine Welt wahrhaft geformt worden ist: die Bindung der Religion.
Es wird hier nicht auf eine bestimmte Religion angespielt, sondern auf Religion an sich, auf jene seelische Haltung, in der das Denken und das Tun nicht nur motiviert, sondern auch dirigiert werden aus der tiefen metaphysischen Verbundenheit mit dem Geheimnis der Schöpfung und dem tiefen Glauben an die letzte Zweckbestimmung ihrer Geschöpfe. Darum muss eine Zeit, die dieser Bindung ledig geworden ist, sich ihre scheinbare Freiheit immer von neuem beweisen, und während sie nach immer neuen Begründungen sucht, geht sie – wie unsere Gegenwart es demonstriert – in ihren Abgrund, in ihre Negation hinein. Da nützt es nichts, dass man sich zum citoyen du monde erhebt, dass man gutgläubig und grossspurig Grenzen überschreitet und die ganze Welt anspricht und jeden, der gleiches Gedankengut mit sich herumträgt, als Bruder begrüsst. Der Begriff Bruder, auf die Welt bezogen, ist mehr als ein verwandtschaftlicher Begriff. Er ist auch unendlich viel mehr als ein sozialer oder politischer oder literarischer Begriff. Das Verständnis für diesen Begriff, und die Befugnis, ihn zu benutzen, gehen über Urbegriffe des Glaubens, der Religion; wenn man so will: über den Begriff von Gott.
Aber so viel an Bindung und so viel an Bewusstsein ist nicht von jedem zu verlangen, nicht einmal von den geistig Produktiven der letzten Generation. Aber vielleicht würde schon ein geringeres Mass an Bindung und Bewusstsein ihnen gedient haben: eine Bindung an das Volk ihres Herkommens und ein Bewusstsein von dem labilen Gleichgewicht, mit dem seine sonderbare Geschichte es nun einmal in die Welt gestellt hat. Vielleicht hätte es ihnen dazu gedient, sich jene Unstörbarkeit zu erwerben, die einem Siegmund Freud aus seiner Wissenschaft kam, als er – mit 83 Jahren vertrieben – am nächsten Ruhepunkte mit Gelassenheit feststellte, dass er immer schon die Suprematie der Kultur über die Instinkte verneint habe. Oder es hätte ihnen doch dazu dienen können, sich etwas von jener Reserve, von jener reservatio mentalis zu bewahren, von der eingangs gesprochen wurde. Dann wären sie vielleicht nicht so fassungslos und erschüttert vor ihrem Schicksal gestanden, als es über sie hereinbrach. Sie hätten es in einem verborgenen Winkel ihrer Seele aus dem Erfahrungsschatz ihrer Historie her für denkbar und möglich gehalten, und das hätte dem Schlag viel von seiner Wucht genommen.
Aber nein: solche Bindung und solches Bewusstsein hätten ja einen nationalen Anstrich gehabt, und den musste man vermeiden, da alles Nationale das Odium der geistigen Enge an sich trug, eine Enge, die nur dann zur Weite wurde, wenn man sie auf die eigene Heimat anwandte. Aber auch das tat man, wie man gerechterweise zugeben muss, nicht mit grosser Überzeugung und Teilnahme, weil man – einmal von der eigenen Nation abgelöst – im Nationalen überhaupt keinen zwingenden Inhalt mehr sehen konnte. Dabei schwebte gerade Stefan Zweig einmal in der Gefahr, sich der zionistischen Bewegung anzuschliessen. Er wäre dazu bereit gewesen, allerdings nicht des Zionismus wegen, der ihm wahrscheinlich innerlich ganz fremd war, sondern aus persönlicher Verehrung für Theodor Herzl. Und warum hat er dieser Verehrung nicht nachgegeben? Er gibt darauf selbst die Antwort: »Mich störte die grosse Disziplinlosigkeit und Respektlosigkeit in den Reihen seiner Anhänger.«
Weiter und tiefer ist das Judentum oder auch nur eine Bewegung im modernen Judentum nicht an ihn herangekommen. Die Möglichkeit, sich darin irgend einen Halt zu verschaffen, ist mit dieser Episode abgetan. Im seinem Drama ›Jeremias‹ irgend ein Bekenntnis zum Judentum oder die künstlerische Aktivierung seiner jüdischen Substanz sehen zu wollen, wäre ein Irrtum. Er benutzte nur – wenn auch mit gutem dramatischen Erfolg – einen biblischen Stoff und eine biblische Gestalt als Beleg für eine Idee, von der man sehr zweifeln kann, ob sie mit dem Thema Jeremias irgend etwas zu tun hat. Aber das soll ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Man kann einem Produktiven nur vorwerfen, dass er einen geistigen Besitz falsch oder unzureichend verwendet habe. Aber einen Nicht-Besitz kann man nicht gegen ihn ausspielen. Den kann man nur, wenn man sich Klarheit über ihn verschaffen will, auf der Passiv-Seite seiner Schicksals-Bilanz eintragen.
Man kann in diesem Falle den Nicht-Besitz kaum deutlicher bekennen, als Stefan Zweig selber es im seinem Lebensbericht getan hat. Er sieht sich unter den Menschen seines Umkreises um und fragt sich verwundert, warum sie Juden geblieben sind. Er schliesst: »Aus Loyalität oder Trägheit, aus Feigheit oder Stolz.« Ein höheres Motiv ist ihm nicht erkennbar. Welches der genannten Motive für ihn selber zutrifft, erwägt er nicht. Aber gegen das Ende seines Lebens kommt ihm eine Erkenntnis, die um so erschütternder ist, als er ihre Wahrheit mit kühler Distanz auf alle anderen anwendet, nur nicht auf sich selbst, für den sie hundertfach gilt, und dem sie doch nichts nützt. Er stellt fest, dass die Juden seiner Zeit nicht mehr wissen, warum sie leiden. »Die früheren Juden«, sagt er, »glaubten noch an Gott und glaubten noch an eine Auserwähltheit. Von dem Heim ›Gott‹ konnte man sie nicht vertreiben. Der moderne Jude hatte nichts mehr als seinen Willen zur Assimilation.«
Hier spricht der Europäer und Weltbürger Stefan Zweig über den Juden Stefan Zweig. Aber es ist kein zeugendes Zwiegespräch. Es ist eine jener intellektuellen Arabesken, die sich so oft in seinen Schriften finden. Aber während man sonst in Versuchung ist, sich mit einem leichten Unwillen von ihnen abzuwenden, weil sie so blutlos dastehen und als der Ort ihrer Geburt nicht das Herz, sondern das Gehirn erkennbar wird, schimmert hier aus dem Spiel mit dem Worte ›Heim‹ ein Erlebnis durch. Denn es ist das ›Heim‹, das ihm – wie allen anderen – zum Schicksal wird. Ohne Heim gewinnt kein produktiver Mensch jenen gelassenen Hintergrund der Sicherheit, von dem er ausgehen kann, wenn er sich in die Weite des Produktiven begibt, oder zu dem er heimkehren kann, wenn die Weite nicht hält, was sie versprochen hat. Dieses Heim kann mancherlei Formen annehmen: die eines Volkes, einer Religion, eines kulturellen Bezirkes, einer Landschaft. In seiner Aussage nun über die Juden von einst und heute stellt Stefan Zweig einen Gegensatz auf: jene hatten ein Heim, diese haben nur den Willen zur Assimilation. Er müsste also folgern, dass er zu jenen gehört, die nie ein Heim gehabt haben. Das wäre eine echte Aussage aus einem echten Erlebnis gewesen. Aber er gehört zu jener Generation der Söhne, die in eine Gegenwart hineingegangen sind, deren Vergangenheit weder sie noch ihre Väter geteilt haben. Da sie ohne Heim nicht leben können und das Heim ihrer Urväter nicht mehr besitzen, nehmen sie das Heim ihrer Gegenwart und ihrer Umwelt an. Es ist psychologisch überaus verständlich, dass sie es tun. Aber es ist überaus gefährlich. Es ist – von ihnen selbst aus – ein Willensakt, und keine natürliche, auf dem Wuchs von Generationen gegründete Eingliederung. Darum sind sie auch so bereit, die nationale Grenze zu überschreiten und in das hinein zu gehen, was sie die Welt nennen. Und die Wahl dieser Gegenwarts-Heimat ist – von der Umwelt aus gesehen – ein jederzeit widerrufbarer Akt der Willkür. Diese Erkenntnis und diese Gefahr fasst Stefan Zweig gegen das Ende seines Lebens in einer einzigen Aussage zusammen: »So sehr ich auch ein halbes Jahrhundert lang versucht hatte, mein Herz als das eines ›Weltbürgers‹ schlagen zu lassen: am Tage, als ich meinen Pass verlor, entdeckte ich, dass der Verlust des Heimatlandes mehr ist als das Abschiednehmen von einem begrenzten Stück Boden.«
Da steht also das doppelte Bekenntnis: er hat sein Heim verloren, und das Überschreiten der Grenze, das Hineingehen in die Welt, hat den Verlust nicht hindern und hat keinen Ersatz dafür bieten können. Und jetzt käme es, um das Schicksal ertragbar, ja vielleicht sogar produktiv zu machen, darauf an, zu erkennen, wo der objektive Grund für diesen subjektiven Verlust liegt. Es möchte scheinen, als ob es sehr leicht sei, zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Aber sie ist ihm verwehrt. Man lebt eben nicht ohne Folgen sein Leben lang mit einer Fiktion, mit der grossen Fiktion, dass man nichts sei als ein Europäer. Es soll hier nicht zur Diskussion gestellt werden, ob der Begriff Europäer eine Realität bezeichnet, die ein wirkliches Eigenleben hat. Der gegenwärtige Zustand der Welt spricht keinesfalls dafür. Hier muss es genügen, festzustellen, dass der Begriff ›Europäer‹, einmal vom Juden der Assimilation konzipiert, stark genug bleibt, um ihn an der Erkenntnis seiner eigenen Situation schicksalhaft zu hindern. Wir sehen im konkreten Falle, dass ein produktiver Mensch sich mit Europa identifiziert und daraus folgert, dass er seines Europäertums wegen verfolgt werde. Alles, was da geschehen ist, ist ihm persönlich, dem ›Europäer‹ geschehen. Das ist der grosse Irrtum. Er persönlich ist gar nicht gemeint. Aber er weigert sich, sich zu der Kategorie zu zählen, die wirklich gemeint ist. Er schiebt eine Zwischenkategorie ein: die das Weltbürgers. Die Intuition, mit der ein Moses Hess, ein David Pinsker, ein Theodor Herzl die letzten Gründe des Verfolgtseins aufspürten, geht diesem Europäer ab. Darum fehlt ihm auch die Reserve des geistigen Vorbehalts, jene Erfahrung von Jahrhunderten, die den Juden vorsichtig und misstrauisch gegen die Welt gemacht hatte. Und darum bringt sein Glaube an Europa ihn in der Sekunde zu Fall, in der man ihm das ›Heim‹ nimmt. Er wird zum Märtyrer. Aber er besteigt einen Scheiterhaufen, der gar nicht für ihn errichtet ist.
Gleich ihm haben manche andere jüdische Europäer den Scheiterhaufen betreten. Aber er hat sie nicht verbrannt. Er scheint viele von ihnen nur gewärmt zu haben. Stefan Zweig hingegen hat selbst den Brand in den Scheiterhaufen hineingestossen, überlegt und bedacht, und hat sich selber ausgelöscht. Er hat es nicht getan, ohne die Welt vorher in einer feierlichen Erklärung wissen zu lassen, dass und warum er es tun werde. Diese Erklärung ist in deutscher Sprache geschrieben. Aber getreu seinem Weltbürgertum, oder – wenn man so will – seinem Assimilantentum, hat er das Wort ›Deklaration‹, bedeutsam unterstrichen, in portugiesischer Sprache darüber gesetzt, denn er befand sich derzeit im portugiesisch sprechenden Brasilien.
Ein Dokument, in dem ein lebendiger Mensch seine Selbstvernichtung ankündigt, hat einen natürlichen Anspruch darauf, mit Schweigen und [Respekt] gelesen zu werden. Aber wenn es seinen Charakter als ›Deklaration‹ ausdrücklich betont, wendet es sich bewusst an eine anonyme Allgemeinheit und gibt ihr damit das Recht, den Inhalt zu analysieren. Mehr soll auch hier nicht geschehen. Aber dazu muss man den Inhalt der Deklaration zunächst zur Kenntnis nehmen:
»Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich, eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben hat. Mit jedem Tage habe ich dieses Land mehr lieben gelernt, und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.
Aber nach dem 60. Jahre bedürfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.
Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.
Petropolis, 22. 11. 1942.
Ohne der Gesamtauffassung dieser Deklaration Gewalt anzutun, dürfen wir aus ihr eine Reihe von Aussagen herausschälen. Sie sollen weder kritisiert noch bezweifelt werden. Es soll nur neben jede Aussage eine Frage und eine Erwägung gestellt werden.
Zunächst: seine geistige Heimat, Europa, hat sich selber vernichtet. – Wenn einer wirklich eine ›geistige Heimat‹ hat, ist sie dann nicht unzerstörbar? Ist es nicht das Wesen einer ›geistigen Heimat‹, dass man jederzeit geborgen in sie zurückkehren kann?, dass man von ihr aus – wie ein Thomas Mann es tut – unbeirrt auf seinem Schein bestehen und jede Fehlleistung und jede Degeneration in der Welt der Realität verneinen kann? Hat er vielleicht in Wahrheit gar keine stabile ›geistige Heimat‹ gehabt?
Und sodann: er hätte gerne sein Leben vom Grunde aus neu aufgebaut, er hätte gerne noch einmal völlig von neuem begonnen. – Also gab es für das, was er bislang getan hatte, gar keine Fortsetzung? War es zuende gekommen? Und wenn er vom Grunde aus, wenn er ›völlig von neuem‹ aufbauen möchte: was meint er? Das Wirtschaftliche kann es nicht sein, denn er litt keine Not. Was ist das ›völlig neue‹, das er möchte? Will er noch einmal auf dem alten Grunde aufbauen, oder einen ganz neuen schaffen, da der alte nicht vorgehalten hat? Und will er es mit einem ganz neuen Denkgut, oder mit dem von gestern? Er sagt es nicht.
Und weiter: seine Kräfte sind durch die Jahre des heimatlosen Wanderns erschöpft. – Also war die Welt, in die er in jedem Augenblick zu gehen bereit war, nur solange Heim, als er freiwillig hineinging?, und wurde sie Heimatlosigkeit, wenn er dazu gezwungen wurde, sodass seine Kraft sich darin erschöpfen konnte?
Und endlich: er wünscht seinen Freunden, dass sie noch die Morgenröte sehen, und geht ihnen ungeduldig voraus, – Was ist das? Ist das ein Vorausgehen, wenn man beiseite geht? Ist das ein Glaube an eine Morgenröte, wenn man in die Nacht eintaucht? Sollte hier als das letzte Wort einer Lebensbeichte nichts stehen als wiederum eine intellektuelle Arabeske?
Um nicht mit diesem Eindruck die Erörterungen abschliessen zu müssen, ist eine Aussage noch in der Schwebe gelassen worden, die nämlich, in der er sagt, dass die Welt seiner eigenen Sprache für ihn untergegangen sei. Das ist eine Aussage, die in den letzten Kapiteln seines Lebensberichtes vielfach variiert auftaucht. Er klagt um den Sprachraum, den er verloren hat. Er klagt darüber, dass seine letzten Bücher nicht mehr in Deutschland bekannt geworden sind. So muss gewiss ein jeder klagen, und ganz gewiss ein in der totalen Assimilation aufgewachsener Jude, der sich mit seinen Worten bewusst an den Menschen des deutschen Sprachraumes wendet. Dem scheint es nun zu widersprechen, dass er zugleich mit Genugtuung immer wieder feststellt, dass seine Bücher in zahlreichen Übersetzungen sozusagen Eigentum der Welt geworden sind. Aber es ist doch kein Widerspruch. Hier wird ein Problem berührt, das weit über das individuelle Schicksal eines Stefan Zweig hinausreicht: das Problem des Schaffens überhaupt, sofern das Medium dieses Schaffens das geschriebene oder das gesprochene Wort ist.
Der Musiker, der Maler, der Bildhauer sind ihm nicht ausgesetzt. Das Ohr und das Auge sind offene und unmittelbare Zugänge für Klang und Farbe und Form. Aber wer in irgend einer Sprache das Wort ›Ja‹ oder das Wort ›Nein‹ schreibt, kann nur von dem verstanden werden, der diese Worte in gerade dieser Sprache versteht. Und das Sagen in einer bestimmten Sprache, wenn es sich nicht gerade um die Mechanik des Esperanto handelt, ist unmittelbar gebunden an das Wesen, an die Struktur, mehr noch: an das Erlebnis dieser Sprache. Für den produktiven Schreiber ist die Sprache weit mehr als ein Werkzeug. Sie ist in einem erheblichen Umfange zugleich Material seiner Schöpfung. Je gründlicher er sie meistert, desto williger wird sie für ihn Ton in des Schöpfers Hand. Je mehr er sie formt, desto mehr verpflichtet sie ihn; und es gibt eigentlich nichts Verpflichtenderes als das Wort.
Ein produktiver Schreiber kann seine Produktivität nur darstellen und beweisen durch das Medium der Sprache, die ihn von seiner Kindheit an begleitet hat. Ganz selten sind die Fälle, dass einer sich in den reiferen Jahren den Zugang zu einer anderen Sprache bis zur Produktivität erkämpft hat. Im allgemeinen stolpert er mit einer geborgten Sprache daher. Aber das sollte ihn doch nicht hindern, in seiner eigenen Sprache produktiv zu sein? Doch; es kann ihn sehr wohl hindern. Jede geistige Schöpfung braucht, damit sie Leben wird, ihr eigenes Echo: die fruchtbare Begegnung mit dem Menschen, dem hörenden, dem schauenden, dem lesenden Menschen. Der Künstler, dessen Medium das Wort ist, kann mit voller Wirkung nur in den Raum hinein sprechen, in dem die Kenntnis seiner Sprache ein Echo hervorrufen kann. Fehlt dieser Raum, so kann er nur noch einen Monolog führen, der andauert, solange er schreibt, und der endet, sobald er das Original in das Schubfach gelegt hat. Den Dialog mit der Welt muss er in fremden Sprachen führen, in Übersetzungen, in Duplikaten von minderer Qualität, in handwerklichen Nachahmungen, die von dem Bilde, das er zeigen wollte, den Schmelz der Originalität abstreifen.
Stefan Zweig nennt dieses Problem: Untergang des eigenen Sprachraumes. Für den, der nicht daran zugrunde gegangen ist, wäre es vielleicht zutreffender, von der Isolierung seines eigenen Sprachraumes zu reden. Aber wie man es auch benennt: es bleibt immer etwas, was – weder in der Fremde noch in diesem Lande der lückenhaften Kultur – immer noch nicht verstanden worden ist: ein schicksalhafter Eingriff in die freie Produktivität eines Menschen. Damit wird Stefan Zweig ohne sein Wissen, bestimmt ohne seinen Willen, in die Nachbarschaft selbst jener Juden gerückt, die ihre Heimat schon lange im Judentum hatten, die nicht an verschuldeter Selbsttäuschung zerbrochen sind, und die doch nach dem Untergange der deutschsprachigen Galuth von ihrem eigenen Sprachraum kaum ein Echo mehr zu erwarten haben. Was ihr Schicksal von dem eines Stefan Zweig grundsätzlich unterscheidet, ist nicht, dass sie ihre Existenz fortsetzen, sondern dass sie mit der Einbusse, die jeder aus der Galuth kommende Jude als Tribut an seine Vergangenheit zahlen muss, dennoch versuchen, den Dienst an jenen Ideen fortzusetzen, denen sie dienten, als sie noch mit der Sprache ihres Könnens in einen Raum der Hörenden und Verstehenden hinein sprachen.