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VII.

Michael lief, so schnell er konnte, zu der Stelle hin, wo die Füße des Asmodäus in der Luft baumelten, denn dort, gerade unter dem Spalt, mußte nach seinen eigenen Worten der Zugang zur Höhle des Königs Salomo sein. Er duckte sich ganz tief auf den Boden, um nicht von einem der zappelnden Füße getroffen zu werden, und es war gut, daß er sich so tief bückte, denn sonst würde er den Eingang wohl nie gefunden haben. Er war wunderbar versteckt. Ringsherum wuchsen dürre, harte Büsche, die seltsam geformte, knöcherne Fäuste hochielten. Und zwischen den Wurzeln dieser Gebüsche hatten sich ganze Städte von großen, schwarzen Ameisen angesiedelt, und wenn irgend etwas Lebendiges sich den Büschen näherte, fielen sie zu Tausenden darüber her und stachen und bissen und zwackten und zwickten, bis er froh war, mit dem Leben davon gekommen zu sein.

Der Strauch und die Ameisen waren die beiden Wächter zum Tor der Höhle. Aber meint ihr, sie wären zufällig dahin gekommen? Keineswegs. Die Sache war so: als König Salomo das Ende seiner Regierung in der Welt herankomen fühlte, wählte er sich diese Höhle als seinen Aufenthalt aus, und er fragte alle Pflanzen und Tiere auf der Erde, ob sie seine Wohnung bewachen wollten. Er fragte den Löwen. Aber der Löwe sagte: »Ich muß für meine Jungen auf Raub ausgehen, und wenn ich nicht brülle, wovor sollten sich die Menschen dann fürchten? Und wenn sie sich nicht fürchten, werden sie übermütig.«

Er fragte den Adler. Der Adler antwortete: »Wie kann ich auf der Erde vor einer Höhle wohnen? Mir hat Gott die Höhe und die Felsen als Wohnung gegeben, und ich muß hoch in den Lüften fliegen, damit die Menschen mich sehen und beneiden. Und wenn sie keinen Neid haben, haben sie nichts, was sie anspornt.«

Er fragte den Hirsch. Aber der Hirsch antwortete: »Ich kann nicht an einem und demselben Orte bleiben. Ich muß über die Hügel und Täler springen, damit die Menschen sich an meinen leichten Bewegungen erfreuen. Und wenn sie sich nicht freuen, werden sie traurig und mutlos.«

So fragte König Salomo alle Tiere und alle lehnten ab, bis er zu den Ameisen kam. Da sagten die Ameisen: »Wir bleiben gerne an einem Orte, und wir sind gewohnt, in der Erde zu wohnen, und wir sind stolz darauf, daß du von uns die Ordnung gelernt hast, die in einem Staate herrschen muß. Wir wollen deine Höhle bewachen. Aber du mußt uns eine Pflanze beigeben, die ein wenig Schatten spendet und den Eingang zu unseren Erdlöchern verdeckt, damit man uns nicht stört.«

Damit war der König Salomo einverstanden. Er fragte die Pflanzen, ob sie seine Wächter sein wollten. Aber jede hatte eine andere Ausrede. Die eine war zu schön, die andere brauchte einen Sumpf als Wohnort, die dritte wollte nur wachsen, wo Menschen sind und so fort. Da kam er zu der Rose von Jericho. Die sagte: »Ich bin neben den Mauern von Jericho gewachsen. Das war die erste Stadt, die deinem Reiche zugefallen ist. Und ich will bei dir bleiben, während dein Reich wieder zerfällt.«

Und seitdem wächst die Rose von Jericho an der Pforte der Höhle Salomos. Aber vor Trauer über den Zerfall des Reiches sind ihre Blüten dürr geworden wie eine knöcherne Faust. Jedes Jahr einmal entfaltet sie sich und schaut auf, ob das Tor sich nicht öffnen will, und da es sich nicht öffnet, schließt die Blüte sich wieder wie eine Hand, die sich vergebens ausgestreckt hat.

Nun stand Michael vor diesen beiden Wächtern und wollte hindurch. Wie er gerade die Büsche teilen wollte, kamen ihm die großen Ameisen in einer breiten Schlachtfront entgegen. Sie hielten alle ihre starken Zangen hoch und verwehrten ihm den Eingang. »Hier ist kein Weg!« riefen sie, »Geh weiter, oder wir kneifen dich mit unseren Zangen!«

Da war Michael ganz verzagt. Er wußte, daß er gegen Ameisen nicht ankämpfen konnte. Er setzte sich auf den Boden und begann zu weinen. Es war ja auch zu traurig, so dicht vor der Türe zu stehen und nicht hinein zu dürfen. Als die Ameisen das sahen, wurden sie sehr verlegen, denn wenn sie auch gegen andere Lebewesen sehr ablehnend und zuweilen sogar feindselig sind, so halten sie doch unter einander sehr eng zusammen und kennen die Gefühle der Freundschaft und der Kameradschaft.

Der Kommandant der Ameisen-Armee trat vor, klappte seine Zangen zusammen und fragte mit etwas barscher, kriegerischer Stimme: »Na Junge, was heulst du denn? Es hat dir doch noch niemand etwas getan.«

Unter Schlucken und Schluchzen und Schneuzen erzählte Michael seine Geschichte. Die ganze Ameisenarmee hörte andächtig zu. Das war ja wirklich eine sonderbare Geschichte. Sie klappten alle ihre Zangen zusammen und die ganze Armee kratzte sich mit dem letzten linken Hinterbein den Kopf. Das tun die Ameisen nämlich immer, wenn sie sehr verlegen sind. Der Anführer kratzte sich am stärksten, sodaß man es förmlich hören konnte. Aber er sagte: »Leider können wir nichts für dich tun. Wir sind nur Soldaten, und Befehl ist Befehl. Aber vielleicht wartest du noch einen Augenblick. Unsere Minister sind nämlich gerade auf Nahrungssuche gegangen und wir erwarten sie jeden Augenblick zurück.«

Er hatte kaum zuende gesprochen, als er sich plötzlich in maßlosem Erstaunen umwandte. Auch Michael wandte sich um, und da sah er etwas Sonderbares: aus dem Felsenspalt heraus kam ein langer Zug von große, blanken, schwarzen Ameisen gekrochen. Aber sie gingen nicht in einer geraden Linie, wie es sich gehört, sondern schwankten hierhin und dorthin, stießen gegen einander, purzelten über ihre eigenen Beine, standen wieder auf und gingen weiter, sangen dabei aus voller Kehle und lachten alle wirr durcheinander.

Der schwarze Ameisenkommandant wurde ganz bleich vor Entsetzen. »Unerhört!« sagte er vor sich hin. »Welch ein grober Verstoß gegen die guten Sitten. Unsere vornehmen Herren Minister sind alle ... betrunken!«

Aus den Reihen der Ameisen hörte man ein leises Kichern. Er wandte sich blitzschnell um und kommandierte: »Die ganze Armee rechtsum kehrt!« und mit einem Ruck drehte sich die ganze Armee um. Aber in der gleichen Sekunde drehten sie alle die Köpfe rückwärts, und so sahen sie doch dieses Schauspiel, das zu einer Revolution im Reich der Ameisen hätte führen können, denn eine vornehme Ameise darf sich nur zuhause betrinken, nicht aber in der Öffentlichkeit.

Als die Minister näher kamen, gewahrte Michael, daß sie alle kleine Honigtropfen an den Füßen hatten. Vergnügt rief er aus: »Habt ihr von meinem Honig gegessen?«

Der Premier-Minister der Ameisen blieb auf schwankenden Beinen stehen und sah grinsend zu Michael hinauf. »Bist du der Junge mit dem Honigtopf?« fragte er.

»Ja, gewiß« sagte Michael. »Mein Topf mit Honig steht oben neben dem Felsenspalt.«

Die Ameisen-Minister brachen in ein großes Gelächter aus. »Er steht? Er steht?« riefen sie. »Nein, er stand! Er stand! Hast du denn nichts klirren hören?«

»Nein. Ich habe nichts gehört. Was ist denn geschehen?«

Sie kreischten vor Vergnügen. »Der Koloß, der da oben in der Spalte hockt, wollte sich den Topf holen, und da ist er mit dem kleinen Finger dagegen gestoßen, und der Topf ist zerbrochen. Und all der gute Honig läuft jetzt den Spalt hinunter, gerade auf uns zu. Das gibt ein Fest!«

»Ja, das merke ich!« sagte der Kommandant böse. »Möchten sich die Herren Minister nicht schlafen legen?«

»Im Gegenteil!« lachte der Ernährungs-Minister. »Wir haben soeben einstimmig beschlossen, daß die ganze Armee als Lohn für ihre treuen Dienste sich drei Tage lang an Honig betrinken darf, und der Kommandant darf sich sogar vier Tage betrinken.«

Da brach die ganze Armee in ein großes Hurra-Rufen aus, und selbst der gestrenge Kommandant lächelte ein ganz klein wenig. Aber Michael hatte Sorge daß über der allgemeinen Trinkerei sein eigenes Anliegen ganz vergessen werden würde, und so sagte er mit strenger und lauter Stimme: »Meine Herren, Sie leben doch in einem Staate, in dem Recht und Ordnung herrscht, nicht wahr?«

Der Justiz-Minister wurde vor lauter Aufregung beinahe nüchtern. »Willst du das etwa in Abrede stellen?«

»Jawohl« sagte Michael energisch. »Ihr wollt drei Tage lang von meinem guten Honig trinken, ohne mich zu fragen und ohne mir dafür etwas zu geben. Das ist ungerecht! Das ist Unordnung! Das ist Raub!«

Die Minister standen alle verdattert da. Die Soldaten sahen ganz enttäuscht drein. Aber der Kommandant sagte: »Der Junge hat Recht. Er hat nur einen kleinen Wunsch, den wir ihm wohl erfüllen müssen: wir sollen ihm erlauben, in die Höhle des Salomo zu gehen. Ich glaube, wir können das verantworten, denn er will ihn nur etwas fragen.«

Die Minister berieten sich heimlich mit einander. Dann verkündeten sie: »Wir müssen erst genau wissen, um was es sich handelt.« Und so mußte Michael seine Geschichte noch einmal erzählen. Da berieten die Minister noch einmal, und der Premier-Minister verkündete: »Der Junge hat Recht. Wenn zwei Menschen, die sich lieben, von einander getrennt sind, so ist das nicht in Ordnung. Und Ordnung muß in der Welt herrschen. Also beschließen wir, daß wir ihn nicht hindern, zur Höhle des Salomo zu gehen. Alles andere geht uns nichts an. Und nun, meine Herren, wollen wir trinken.«

Alle stürzten sich in den Felsenspalt zum Honig, und in der nächsten Sekunde stand Michael ganz allein. Niemand kümmerte sich mehr um ihn. Er bog die Büsche der Jericho-Rose aus einander und trat vor die Türe der Höhle. Er stieß gegen die Türe und sie öffnete sich. Er wollte über die Schwelle gehen ... aber er konnte es nicht. Seine Beine wurden mitten in der Luft von einer unsichtbaren Kraft festgehalten. Er versuchte es noch einmal. Wieder schwebte sein Bein kraftlos in der Luft. Da mußte irgend eine Gewalt sein, die ihm den Eingang verwehrte, aber er konnte sich keine Vorstellung davon machen, was sie eigentlich sei.

Nun war Michael wieder so weit wie vorher, und er wäre beinahe verzweifelt. Er ging noch einmal zu den Ameisen zurück, aber die waren viel zu sehr mit ihrem Honig beschäftigt, um sich um ihn zu kümmern. »Was willst du denn?« rief der Premier-Minister. »Wir haben dir versprochen, daß wir dich nicht hindern wollen, zur Höhle des Salomo zu gehen. Und das haben wir gehalten. Wie du in die Höhe hinein kommst, geht uns nichts an.«

Alle Minister lachten über den wohl gelungenen Streich. Nur der Kommandant lachte nicht. Außerdem war er noch nüchtern. Er brummte böse vor sich hin: »Das nennt man Diplomatie: immer etwas versprechen, was garkein Versprechen ist. Aber das lasse ich nicht zu. Das geht gegen meine Ehre. Komm mit mir, Michael, ich werde dir helfen.«

Sie gingen zum Eingang der Höhle zurück, und plötzlich sah Michael, was er zuvor nicht gesehen hatte: quer über die Schwelle war das Siegel Salomos gedrückt, der Stern mit den fünf Zacken. »Daran liegt es« sagte der Kommandant. »Solange dieses Siegel unversehrt ist, kann niemand es überschreiten. Aber wenn auch nur die kleinste Ecke davon beschädigt ist, verliert es seine Wirkung. Das wollte ich dir nur erklären. Mehr kann ich nicht für dich tun.« Und er ging wieder zurück, um seine Soldaten zu bewachen.

Michael schaute um sich. Da war niemand mehr, der ihm raten oder helfen konnte. Nur die Rose von Jericho stand noch da, aber sie schien nichts zu hören oder zu sehen. Sie stand tot und dürr da. Aber in Wirklichkeit hatte sie alles gehört und beobachtet. Sie dachte an die anderen Rosen, die in den Gärten wachsen und an denen die Menschen sich erfreuen und die sie darum pflegen und lieben, und Gedichte darüber schreiben. Aber über sie hatte noch niemand ein Gedicht geschrieben, und niemand wußte, wie treu sie diente. Sie flüsterte Michael zu: »Nimm einen Zweig von mir und pflanze ihn zuhause in deinen Garten ein. Willst du mir das versprechen?«

Michael fragte verwundert: »Warum soll ich das tun?«

»Weil ich auch einmal unter Menschen wachsen möchte. Und du wirst es nicht bereuen!« Da nickte Michael und brach vorsichtig einen Zweig ab, an dem oben eine große trockene Blüte saß. Er sagte: »Ich werde dich neben den Schuppen pflanzen, in dem das große Buch ist und der Spiegel und der Alte vom Buche. Einverstanden?«

»Das ist mir recht« sagte die Rose von Jericho erfreut. »Und dafür gebe ich dir einen. Rat. Fahr mit der trockenen Blüte über eine Ecke des Siegels, und du wirst sehen, was geschieht.«

Michael neigte den Zweig über die Schwelle und fuhr damit über das Siegel. Da splitterte von der äußersten Ecke oben rechts ein winziges Teilchen ab ... und in dem Augenblick hatte das Siegel seine Kraft verloren. »Jetzt kannst du hineingehn« sagte die Rose, und mit einem fröhlichen Lachen ging Michael über die Schwelle.

Aber er hatte sie kaum übertreten, als er von draußen ein lautes Getobe hörte. Die Erde schwankte. Er schaute ganz erschreckt noch einmal hinaus und sah: es war dem Asmodäus gelungen, sich aus dem Felsenspalt zu befreien. Er stand auf der Erde und weinte jämmerlich. »Großmutter!« rief er. »Der Junge hat mich genarrt! Gib ihn her, daß ich ihn zu Staub zerreibe.«

»Was hat er denn getan?« fragte die Zauberin.

»Er hat mir gesagt, daß sein Honig helle Augen macht. Aber statt dessen sehe ich garnichts mehr. Ich bin blind geworden!«

»Nein, Söhnchen« tröstete die Alte ihn. »Dir ist nur der Honig in die Augen gelaufen. Du hättest eben den Topf nicht zerbrechen dürfen. Komm her, daß ich dir die Augen auswische.«

»Ja, Großmutter, wisch mir die Augen aus, damit ich den Jungen packen kann.«

»Das wirst du nicht mehr können« sagte die Alte. »Er ist schon in der Höhle des Königs.«

»Das ist unmöglich« rief Asmodäus. »Es ist ja das Siegel des Königs Salomo über der Schwelle. Ich habe den Jungen doch genarrt!«

Die Alte sagte: »Nein, der Junge hat dich genarrt. Ich hätte nicht gedacht, daß ein Kind klüger ist als du. Aber du wirst alt. Geh, leg dich lieber wieder schlafen, Asmodäus.«

Und betrübt und greinend und mit verklebten Augen ging Asmodäus zu seinem Lager unter dem Berge zurück. Aber Michael ging vergnügt und leichten Herzens in die Höhle hinein.

Er strich seinen Anzug ganz glatt und klopfte die letzte Spur von Staub ab, denn er war gewiß, daß er jetzt in die große, wunderbare Halle des Königs geraten würde, und da wollte er sauber und geputzt auftreten. Aber zu seiner Enttäuschung war nichts von einer Halle und nichts von Pracht und Glanz zu sehen. Es führte nur ein langer steinerner Gang in den Berg hinein, und die Wände waren glatt und grau und streng. Am Ende des Ganges war eine graue Türe, und vor dieser Türe saß ein Skorpion mit aufgehobener Lanze. Als Michael sich näherte, fällte er die Lanze. »Wohin willst du?«

Michael sagte zögernd: »Ich möchte zum König Salomo.«

»Zu welchem?« fragte der Skorpion. »Es gibt einen alten, einen reifen und einen jungen König Salomo.«

Michael besann sich eine Weile. Es war wohl am besten, wenn er zu dem alten Salomo ging, denn alte Leute haben am meisten gelernt und erfahren und können am besten Rat geben. So sagte er: »Ich möchte zum alten König.«

»Und wer schickt dich?«

Michael dachte seine ganze Geschichte noch einmal durch und antwortete: »Mich schickt der Alte vom Buche.«

Der Skorpion senkte die Lanze. »Gut, dann darfst du eintreten.«

Er öffnete ihm die Türe, und nun glaubte Michael, endlich in der großen Halle zu sein. Aber wieder war er enttäuscht. Er kam in einen großen Raum, der genau so kahl und so grau war wie der Gang, durch den er gekommen war. Am Ende des Raumes stand ein grober, hölzerner Tisch, und dahinter saß ein uralter Mann in einem einfachen grauen Gewand. Er hatte es sich tief über den Kopf gezogen und saß über ein Pergament gebeugt, auf das er etwas schrieb. Und er tat, wie es die Art alter Leute ist: er sprach alles halblaut vor sich hin, was er niederschrieb.

Michael blieb bescheiden an der Türe stehen und wagte sich nicht zu rühren. Der alte König sah ihn nicht und hörte ihn nicht. Er blieb weiter über seine Buchrolle gebeugt und murmelte vor sich hin: »Alles ist eitel ... Was hat der Mensch von all seiner Mühe, mit der er sich müht unter der Sonne?« Prediger 2-3.

Michael räusperte sich ein ganz klein wenig. Da schaute der alte König Salomo aus seinem grauen Gewand auf und heftete seine Augen auf den Besucher. Er sah ihn an und er sah ihn doch nicht an. Sein Blick schien durch ihn hindurch zu gehen. Er schüttelte leicht den Kopf, als wollte er sagen: ich kann dir nicht helfen. Er murmelte vor sich hin: »Denn alles ist nichtig und Haschen nach Wind.« Prediger 14. Und neigte sein graues Haupt wieder über das Pergament.

Es blieb still im Raume. Nichts war zu hören als das emsige Rascheln der Feder. Da verstand Michael, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte und ging auf Zehenspitzen aus dem grauen Zimmer hinaus.

Draußen fragte er den Skorpion: »Könnte ich vielleicht den reifen König Salomo sprechen?«

»Mit dem habe ich nichts zu tun« sagte der Skorpion. »Da mußt du hier links durch den blauen Gang gehen.«

Michael ging links in den Gang hinein. Er war viel höher und heller und weiter als der erste, der graue Gang. Die Wände waren von blauer Farbe und immer wieder waren Sprüche in schönen weißen Buchstaben darüber gemalt. Michael wollte schon daran vorübergehen und sagen: Ach, dieses langweilige Lesen ... aber er besann sich noch zur rechten Zeit und wenn er auch nicht alle Sprüche der Reihe nach las, so blieb er doch hier und da stehen und las die Inschriften. Er dachte bei sich: »Wer das geschrieben hat, der ist sicher sehr klug und streng gewesen. Vielleicht sollte man garnicht zu ihm gehen.« Aber er war nun schon einmal auf dem Wege und ging weiter, bis er am Ende des blauen Ganges auf eine blaue Türe traf. Vor der Türe saß eine Eule. Sie hatte ein Auge geöffnet, während das andere schlief. So wurde sie nie müde und konnte immer die Türe bewachen. Sie reckte die großen Dolche an ihren Füßen vor und fragte: »Wohin willst du?«

Michael sagte höflich: »Ich möchte zum mittleren König Salomo gehen.«

»Wer schickt dich?« fragte die Eule.

Michael antwortete: »Mich schickt der Alte vom Buche.«

Die Eule zog die Dolche wieder ein. »Gut. Dann darfst du eintreten.«

Wieder glaubte Michael, diesesmal werde er in den großen prächtigen Saal des Königs kommen. Aber es war nur in großes Zimmer mit vielen Fenstern, durch die Licht von allen Seiten einströmte. Ringsherum standen Bänke mit blauen Kissen, und vor jedem stand ein niedriger Hocker mit einem Buch darauf. In der Mitte des Zimmers stand ein schwer geschnitzter Tisch und dahinter ein großer Sessel, der beinahe aussah wie ein Thron. Darauf saß ein Mann in einem weiten Mantel, und ein schwarzer Bart fiel in Wellen über das Gewand. Vor ihm lag ein hoher Haufe von Pergamentblättern, und von Zeit zu Zeit schrieb er ein par Zeilen auf eines der Blätter und legte es beiseite. Dann sann er wieder eine Weile nach, die linke Hand mit dem großen Siegelring in den schwarzen Bart vergraben. Und wenn ihm wieder etwas einfiel, schrieb er es schnell nieder und legte das beschriebene Blatt beiseite.

Michael räusperte sich ein ganz klein wenig, sodaß er das Rascheln der Feder und der Blätter übertönte. Salomo sah auf, und als er einen Besucher an der Türe stehen sah, sagte er mit strenger Stimme: »Geh zu den Ameisen, du Träger, ...« Sprüche 6:6.

»Aber ich komme doch gerade von den Ameisen« stotterte Michael.

Salomo ließ sich nicht unterbrechen. Er fuhr fort: »Und schau dir ihre Wege an und werde weise.«

Michael erwiderte erstaunt: »Aber sie sind doch alle dabei, sich zu betrinken ...«

Salomo schien ihn nicht zu hören. »Sie haben keinen, der ihnen befiehlt und über sie wacht und über sie herrscht ...« Sprüche 6:7.

»Verzeihung« sagte Michael, »aber ich habe mit dem Kommandanten und den Ministern persönlich gesprochen.«

Salomo sprach unbeirrt weiter: »Im Sommer bereitet sie ihre Nahrung vor und im Herbst sammelt sie ihre Speise ...« Sprüche 6:8.

»Ja, aber es ist mein Honig gewesen« erklärte Michael.

Salomo fuhr dazwischen: »Bis wann wirst du faul daliegen und wann wirst du dich von deinem Lager erheben?« Sprüche 6:9.

Michael verteidigte sich: »Ich bin heute früher als je aufgestanden und ich bin schon lange unterwegs ...«

Salomo griff zur Feder: »Ein wenig Schlaf und ein wenig Schlummer ...« Sprüche 6:10. und er schrieb und schrieb und kümmerte sich um seinen Besucher überhaupt nicht. Da verstand Michael, daß der König Salomo überhaupt nicht mit ihm gesprochen, sondern nur einen seiner Sprüche gedichtet hatte, und ihn, den kleinen Gast, hatte er überhaupt nicht gesehen und gehört. Da schlich sich Michael sehr kleinlaut zur Türe hinaus.

Draußen fragte er die Eule: »Könnte ich vielleicht den jungen König Salomo sprechen?«

»Mit dem habe ich nichts zu tun« sagte die Eule. »Da mußt du hier rechts durch den roten Gang gehen.«

Michael betrat den Gang zur rechten. Er war wie aus hellen roten Blüten gewirkt, und wo Mauern und Steine hätten sein sollen, waren Zweige und Äste, und in den Zweigen saßen Schmetterlinge und hockten Vögel und blitzten bunte Käfer wie kleine Edelsteine. Hier und da war ein Fenster in den roten Gang eingelassen, und in den Fenstern staken kleine Harfen, und wenn der Wind dagegen fuhr summten sie kleine Lieder.

Am Ende des roten Ganges war ein Vorhang aus reiner, weißer Seide, und davor saß ein großer prächtiger Pfau. Er hatte eine kleine silberne Krone auf dem Kopfe. Seinen Schwanz hatte er zu einem großen, bunten Fächer auseinander geschlagen, und da, wo jeder gewöhnliche Pfau am Ende der Prunkfedern ein großes blaues Auge hat, trug dieser Pfau kleine goldene Glöcklein.

»Wohin willst du?« fragte der Pfau.

Michael sagte höflich: »Ich möchte zum jungen König Salomo.«

»Wer schickt dich?« fragte der Pfau.

Michael dachte daran, daß er schon zwei mal geantwortet hatte: der Alte vom Buche, und jedesmal hatte König Salomo selber ein Buch geschrieben und hatte sich garnicht um ihn gekümmert. Darum sagte er diesesmal: »Der Hirte und die schöne Shulamith.«

Der Pfau läutete mit all den kleinen goldenen Glocken und sagte: »Gut, dann darfst du eintreten.«

Der Vorhang hob sich von selbst zur Seite, und nun endlich trat Michael in den großen Saal ein, von dem er immer geträumt hatte. Die Wände waren mit Zedernholz und Elfenbein und schmalen Goldblättchen ausgelegt. Der Boden war heller, bunter Marmor. In der Mitte war ein Springbrunnen, und auf dem Wasserstrahl tanzten kleine Bälle aus buntem Glas auf und ab. Aber der König Salomo selbst war nirgends zu sehen. Aber in einer Ecke des Saales, neben einem Fenster, stand ein riesenhafter Mohr, der sich an einem kleinen Schreibpult zu schaffen machte. Es war ganz aus Ebenholz gemacht. Der Mohr legte acht schmale Blätter aus Papyrus darauf und daneben einen Köcher mit langen, ganz dünnen Rohrfedern. Dann stellte er zwei irdene Näpfe mit blauer und roter Farbe daneben.

Michael trat an den Mohren heran. »Ist der König nicht da?« fragte er.

Der Mohr grinste, daß man seine weißen Zähne sah. »Gleich wird er kommen. Du siehst, ich bereite schon das kleine Schreibgerät vor.«

Michael dachte an seine Erlebnisse im grauen und im blauen Zimmer und fragte vorsichtig: »Schreibt der König immer gleich, wenn er nach Hause kommt?«

Der Mohr schüttelte ungehalten den Kopf. » Mein König schreibt überhaupt nicht. Mein König dichtet. Und er dichtet auch nicht jeden Tag, sondern nur, wenn ihm etwas Gutes einfällt. Und heute hat er mir sagen lassen, es sei ihm ein Gedicht von einem Hirten und einer Hirtin eingefallen. Das wird er gleich schreiben. Schau da durch das Fenster. Da kannst du ihn kommen sehen. Aber sobald er schreibt, mußt du den Saal verlassen, denn wenn er dichtet, will er ganz alleine sein.«

Michael nickte, aber er war jetzt entschlossen, sich nicht wieder fortschicken zu lassen, und schnell arbeitete er in seinen Gedanken einen Plan aus. Während sie an das große Fenster herantraten, fuhr er mit der Hand über das Schreibpult, nahm die acht Papyrus-Blätter an sich und verbarg sie in seiner Tasche.

Und dann sah er durch den Garten einen Zug daher kommen. Elefanten, mit bunten Decken geschmückt, gingen voran. Dann folgten Trabanten mit goldenen Stäben in den Händen. In der Mitte des Zuges schwebte auf den Schultern gewaltiger Mohren ein goldener Tragsessel. Darauf saß der König Salomo, strahlend und jung. Ihn begleiteten sechzig Jünglinge, alle kriegserfahren und allen hing ein Schwert von der Hüfte. Hohelied 3:7-8. Und alle Menschen im Zuge sangen. Sie geleiteten Salomo bis an den Eingang des Saales. Dann verneigten sie sich alle tief vor ihm und zogen sich zurück. Auch der Mohr, der das Schreibgerät aufgestellt hatte, ging hinaus, und er vergaß ganz daran, daß er noch den kleinen Besucher auffordern mußte, den Saal zu verlassen. Und selbst wenn er daran gedacht hätte, hätte er ihn nicht mehr gefunden, denn Michael hatte sich hinter einer der Fenstersäulen verborgen.

Salomo ging schweigend durch den Saal auf und ab. Er lächelte vor sich hin, als sei eine sehr schöne Erinnerung vor seinen Augen aufgestiegen. Leise begann er vor sich hin zu sprechen. Michael horchte auf, denn er vernahm das Wort Shulamith. Wie sonderbar, dachte er; wird der König etwa ein Gedicht über Shulamith schreiben? Und sollte es die gleiche Shulamith sein?

Aber das war unwahrscheinlich, denn sicher würde er nur ein Gedicht schreiben über eine lebendige Shulamith und nicht über eine, die im Bilde erstarrt war. Aber Michael beugte sich doch weiter vor, um noch mehr von dem Selbstgespräch aufzufangen. Und jetzt sprach Salomo in Versen, die deutlich zu verstehen waren: ‚Sage mir, den meine Seele liebt: wo weidest du, und wo läßt du die Herde am Mittag rasten?‘ Hohelied 1:7.

Michael dachte: das könnte die schwarze Shulamith aus dem Bilde gesagt haben, wie sie da unter dem Baum steht und nach ihrem Freunde, dem Hirten Ausschau hält. Und dann hörte er einen Vers, der wie die Antwort des Hirten war: ‚Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus, den Spuren der Schafe nach, und weide deine Lämmlein bei den Zelten der Hirten ...‘ Hohelied 1:8.

Michael hielt den Atem an. Auch der König Salomo war stehen geblieben und hatte den Kopf geneigt, als lausche er auf irgend eine ferne Stimme. Und dann begann er leise zu singen: »Steh auf, meine Freundin, meine Schönste, und komm doch! Siehe, der Winter ist vorüber gegangen. Die Regen sind vorbei. Die Blumen zeigen sich am Boden, die Zeit der Nachtigall ist gekommen ...« Hohelied 2:10-12.

Salomo unterbrach sich. Mit großen Schritten ging er in die Ecke des Saales, wo sein Schreibgerät stand, und wollte alle die schönen Verse niederschreiben, die ihm aufgestiegen waren. Aber plötzlich hob er erstaunt den Kopf. Die Papyrus-Blätter waren nicht da. Er schlug mit einem Klöppel auf eine bronzene Platte, und der Ton drang durch den ganzen Palast. Sofort kam der große Mohr herein und verneigte sich tief.

»Wo ist das Papier?« rief Salomo ihm entgegen.

Der Mohr wies auf das Ebenholz-Tischchen, aber da weiteten seine Augen sich vor Entsetzen. »Fort!« stammelte er. »Fort! Und ich selber habe sie dorthin gelegt!«

Mit einer ärgerlichen Bewegung wies Salomo ihn aus dem Saal. Aber er war nicht so sehr zornig als vielmehr traurig, denn er wußte: bis man neues Papyrus aus dem fernen Ägypten herbeigebracht hatte, würde er das schöne Gedicht wieder vergessen haben, und auf unedlerem Material als Papyrus konnte er ein so schönes Gedicht nicht schreiben. Er breitete traurig die Hände aus und sagte vor sich hin: »Dann ist alles verloren!«

Michael bekam einen gewaltigen Schreck. Wenn alles verloren war, dann waren gewiß auch die Beiden im Bilde verloren, und sein Mühen und seine Teilnahme waren vergebens gewesen. Er sprang hinter der Säule hervor und lief auf Salomo zu. »Nein, König!« rief er. »Es ist nicht alles verloren. Hier sind die Papyrus-Blätter. Nimm sie und schreib dein Gedicht nieder!«

Salomo sah erstaunt auf den Knaben, der vor Erregung ganz rote Wangen hatte. Dann begann er zu lächeln und fragte freundlich: »Wer bist du und wie kommst du hierher?«

Michael atmete auf. Das war endlich einmal ein König, der mit ihm sprach und nicht nur durch ihn hindurch sah, während er schrieb. Und so erzählte er mit aller Unbefangenheit seine Geschichte, von allem Anfang an, so wie ihr sie kennt, und ganz ehrlich und ohne die geringste kleine Unwahrheit.

Als Michael mit dem Erzählen zuende war, ging der König lange nachdenklich im Raume auf und ab. Dann, mitten aus dem Gehen heraus, wandte er sich zu seinem Schreibzeug und nahm die Rohrfeder in die Hand. »Oh weh« dachte Michael, »jetzt beginnt auch er zu schreiben, und dann wird er mich vergessen wie die beiden Anderen!«

Aber es war nicht so. Der König zeichnete nur mit roter Farbe einige Zeilen auf das Papyrus. Er nahm das Blatt, faltete es sorgfältig zusammen und wandte sich zu Michael. »Sag mir, Michael« lächelte er, »hast du mit den beiden jungen Menschen im Bilde gesprochen?«

»Wie konnte ich das?« fragte Michael erstaunt. »Sie können doch nicht hören, wenn sie nur im Bilde sind.«

Salomo schüttelte den Kopf. »Das ist nicht richtig. Sie hören alles, was in der Welt gesagt wird. Und wer weiß: vielleicht warten sie darauf, daß jemand zu ihnen spricht? Vielleicht warten sie darauf, daß sie eine Stimme hören, die aus ihrer eigenen Welt kommt.«

»Was bedeutet das?« fragte Michael zaghaft.

»Das bedeutet, daß sie nur erlöst werden können, wenn sie wieder eine Stimme hören, die sie schon einmal gehört haben, als das Mädchen unter dem Mandelbaum stand und der Hirte im Tale wartete. Was für eine Stimme kann das wohl sein, Michael?«

Michael dachte nach. Das Bild stand ihm ganz deutlich vor Augen, und ihm war, als höre er die Nachtigall singen. »Könnte es die Nachtigall sein?« fragte er. »Ich hörte sie singen. Aber gesehen habe ich sie nicht.«

Salomo nickte. »Ja, es ist die Nachtigall. Wenn du die Nachtigall zum Bilde bringst und wenn sie ihnen singt, dann werden die Beiden erlöst.«

»O weh« sagte Michael, »die werde ich nie finden. Denn es muß doch die gleiche Nachtigall sein, die damals gesungen hat, nicht wahr? Und sicher ist sie längst gestorben.«

Da lächelte der König Salomo. »Nein mein Kind. Sie lebt. Sie hat die beiden Menschen auf dem Bilde geliebt, und wer wirklich liebt, der stirbt niemals. Jetzt sitzt die Nachtigall draußen bei mir im Garten. Aber sie singt nicht mehr. Sie sagt, sie hätte kein Lied mehr, um es zu singen.«

Michael zupfte vorsichtig den König Salomo am Ärmel: »Könntest du ihr nicht ein Lied schreiben, das sie singen kann? Und könntest du mir nicht erlauben, die Nachtigall mit mir zu nehmen? Vielleicht singt sie die Beiden wieder zum Leben zurück.«

Da beugte sich der König über den Knaben und streichelte ihn. »Ja, Michael, nimm die Nachtigall mit dir. Und hier nimm dies Blatt. Bewahre es gut. Darauf steht das Lied geschrieben, das die Nachtigall singen soll. Und nun geh in Frieden.«

Michael verbeugte sich tief und ging mit leisen Schritten aus der Halle heraus in den großen Garten. –

 


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