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II.

Da saß nun Michael ganz alleine im Hause und dachte an die schöne Reise nach dem Toten Meer. Er sah deutlich den Autobus dahin rollen, und auf dem Platz, der für ihn bestimmt war, saß Baruch, der blasse Bücherwurm. Das kränkte ihn besonders, und da es niemand sah, weinte er vor Zorn und Enttäuschung. Aber dann schämte er sich vor den Büchern, denn er war sicher, daß sie ihn alle fünf ansahen und sich über sein Mißgeschick freuten.

Trotzig wischte er sich die Tränen ab. Er wollte garnicht an das Tote Meer fahren. Was kann man schon an einem Meere sehen, das tot ist? Es war viel interessanter, sich in das Fenster zu legen und auf die Straße zu schauen. Da geschah immer etwas, und sicher würde irgend ein Bekannter vorübergehen, mit dem er sich unterhalten konnte.

Es kam alsbald auch ein Bekannter: Saadja, der Jeminite, der morgens die Milch brachte und genau wußte, was in allen Häusern vor sich ging. Er strich sich seinen schwarzen, dünnen Ziegenbart und fragte erstaunt: »Du bist zu Hause?«

»Nein!« schrie Michael ärgerlich. »Ich bin auf dem Mond!«

Saadja kicherte. »Ach darum bist du so blaß. Ich dachte schon, der kleine Baruch von nebenan hätte deinen Platz im Autobus bekommen, weil du ...«

Michael schlug schnell das Fenster zu. Ihn interessierte die Straße garnicht. Die Menschen, die da vorüber gingen, waren alle dumm und langweilig. Er ging auf die andere Seite der Wohnung und schaute in den Garten hinein. Der Garten war nicht groß, denn in den Städten fressen die Häuser allen Boden auf, bis die Menschen beinahe keine Luft mehr zum Atmen haben. Dafür hatte aber Michaels Vater so viel Bäume gepflanzt, als nur darin Platz hatten. Im Sommer war hier der Schatten tief und kühl, und viele Vögel hatten herausgefunden, daß sie sich dort bequeme und versteckte Nester bauen könnten.

Ganz in der Ecke, zum Nachbargrundstück hin, stand ein alter Schuppen, in dem der Vater Gartengeräte und alten Hausrat aufbewahrte. Früher hatte Michael zuweilen darin gespielt, aber seit er einmal einen großen antiquen Spiegel, der da stand, ganz mit Kalk bestrichen hatte, hatte der Vater den Schuppen abgeschlossen und er durfte nicht mehr hinein.

Jetzt wäre er gerne hinein gegangen, um sich die Zeit zu vertreiben, denn er langweilte sich zu Tode. Baruch, dieses Käsegesicht, würde gewiß ein Buch gelesen haben ... Der Gedanke an Baruch machte ihn ganz krank. Er ballte die Fäuste und schrie: »Wenn ich dich morgen erwische ...«

»Na, was dann?« fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm.

Michael wurde blaß vor Schrecken. Er drehte sich mit einem Ruck um. Niemand war da. Die Türe war geschlossen. Die Bücher standen stumm und zusammengefaltet da. Aber er hatte doch die Stimme gehört. Er mochte nicht mehr im Zimmer bleiben. Er fürchtete sich. Mit einem Satz war er aus dem Fenster hinaus und versteckte sich unter den Bäumen.

Aber es geschah nichts. Alles blieb ruhig. Nur oben in der großen Zypresse rief Frau Bülbül nach ihrem Mann, der wahrscheinlich schon wieder in einen fremden Baum in der Nachbarschaft geflogen war, und im Johannisbrotbaum zankte sich die Spatzenfamilie Staubgrau ganz laut darüber, ob die Roggenkörner, die sie soeben auf der Straße gefunden hatten, von einem Pferd oder von einem Maulesel stammten.

Als weiter nichts geschah, kroch Michael wieder aus seinem Versteck hervor. Was sollte er jetzt beginnen? Wenn nur der Schuppen offen wäre! Er wollte den großen Spiegel gewiß nicht anrühren. Er wollte nur ein wenig in den alten Sachen kramen. Er preßte das Gesicht gegen das kleine Fenster, um wenigstens einen Blick hinein zu werfen. Aber das Fenster war verstaubt und blind. Plötzlich hörte er ein leises Krächzen und Kreischen. Er fuhr mit einem Sprung zurück. Was gab es nun schon wieder? Hörten die Schrecken heute garnicht auf?

Es gab scheinbar nichts, aber als Michael wieder zum Schuppen hinsah, entdeckte er, daß die Türe sich um einen schmalen Spalt geöffnet hatte. Er schlich zögernd, auf Zehenspitzen näher. Seine Angst war groß, aber seine Neugierde war noch größer. Er blieb stehen und lauschte. Nichts. Er sah durch den Spalt. Nichts besonderes. »Na also« sagte er zu sich selbst, »Vater hat vergessen, abzusperren. Das ist doch sehr einfach.«

Aber es war garnicht so einfach, wie Michael dachte, denn er wußte noch nicht, daß alle Dinge in der Welt ihr eigenes Leben führen, und daß alles, was geschieht, seinen Sinn hat.

Michael sah sich im Raume um. Der Spiegel stand noch an der gleichen Stelle. Er war jetzt wieder blank und sauber, denn er hatte ihn damals selber mit einem großen feuchten Tuch abwischen müssen. Allerdings eine Stelle war nicht ganz sauber geworden. Es lag wie ein Schleier darüber, und wie Michael sich im Spiegel betrachtete, war der Schleier gerade da, wo er eigentlich seinen Kopf hätte sehen sollen. Er sah also einen Michael ohne Kopf.

Das gefiel ihm nicht, denn er war sehr stolz auf sich. Er suchte sein Taschentuch, um den Spiegel zu säubern. Aber in den Taschen waren alle möglichen Dinge, nur kein Taschentuch. So fuhr er kurz entschlossen mit dem Ärmel über die duffe Stelle, einmal, zweimal, dreimal, ganz nachdrücklich. Aber der Fleck wich nicht. Im Gegenteil: er wurde dunkler und bekam eine deutliche Form, und wie Michael ihn prüfend betrachtete, sah er ganz deutlich die Umrisse eines großen, alten Buches.

Soviel hatte Michael schon gelernt, daß in einem Spiegel nichts ist, was nicht auch vor dem Spiegel ist. Also mußte sich im Schuppen ein großes Buch befinden, das sich hier spiegelte. Er drehte sich um. Aber hinter ihm standen nur Kisten und Körbe und Gartengeräte. Von einem Buche war weit und breit nichts zu sehen. Er wandte sich wieder zum Spiegel. Da war das Buch, viel klarer und deutlicher als eben noch. Es war ein dickes, schweres Buch. Der Einband war aus altem, braunem Leder, und zwei große kupferne Schließen hielten die Deckel über dem Haufen der schweren, vergilbten Blätter zusammen. Es war kein Zweifel, daß das Buch nur im Spiegel war, aber nirgends sonst.

Nachdem, was Michael in der Nacht und am Morgen erlebt hatte, war er auf Bücher sehr schlecht zu sprechen. Er murmelte vor sich hin: »Du hast Glück, daß du nur im Spiegel bist. Sonst hätte ich dich in Fetzen gerissen und dich irgendwo im Garten vergraben.«

»Aber warum denn?« fragte eine feine, dünne Stimme. »Was hat das Buch dir getan?«

Michael stampfte ärgerlich mit den Füßen. Nahmen diese Stimmen denn heute kein Ende? Hatte sich nicht doch jemand irgendwo versteckt und hielt ihn zum Narren? Vielleicht hockte einer hinter den Kisten und Körben? Er nahm einen Besen und stieß damit wild in alle Winkel. Aber die feine Stimme war immer noch da. Sie sagte: »Aber was tust du da? Da ist niemand. Schau in den Spiegel, dann siehst du mich.«

Michael schaute in den Spiegel, und wirklich: auf dem Deckel des Buches hockte ein Mann, ein ganz kleiner alter Mann mit einem langen grauen Bart. Er war nicht größer als eine von Michaels Händen, und doch waren jedes Stück seines Gewandes und jeder Zug seines Gesichtes deutlich und klar. Besonders deutlich waren die Augen: dunkle, freundliche Augen, und wie der Alte ihn mit diesen guten Augen ansah, verlor Michael sofort alle Furcht. Er beugte sich näher zu dem Spiegel hin und fragte erstaunt: »Wie kommst du da hinein?«

Der Alte lachte. »Ganz einfach: ich bin in den Spiegel hineingegangen.«

»Das ist unmöglich« sagte Michael. »Ein Spiegel ist nichts als ein Stück Glas.«

»O nein« erwiderte der Alte. »Ein Spiegel ist eine Welt, und nur dumme Menschen sehen im Spiegel nichts als sich selbst. Wärest du dumm, so würdest du nur dich selber sehen, aber da du nicht dumm bist, siehst du das Buch und mich.«

Michael fühlte sich sehr geschmeichelt. So etwas hatte der Lehrer nie zu ihm gesagt. Der Alte gefiel ihm. »Ja, ich sehe dich und das Buch. Aber damit weiß ich noch immer nicht, wie man in einen Spiegel hinein gehen kann.«

»O, das ist ganz einfach« sagte der Alte. »Man muß nur die Augen schließen, damit man nichts mehr von der Welt sieht, und man muß die Hände fest über die Ohren pressen, damit man nichts mehr von der Welt hört, und dann darf man an nichts mehr denken, was einem gestern und vorgestern geschehen ist, und dann hebt man vorsichtig einen Fuß, ganz vorsichtig, und geht einen kleinen Schritt vorwärts ... ja, so ist es recht, nur weiter so ... und man geht noch einen kleinen Schritt ... ja, nur Mut, Michael, und dann macht man langsam die Augen wieder auf, ja, so ist es recht ...«

Michael riß verwundert die Augen auf, und siehe da: er befand sich in einer anderen Welt. Vom Schuppen und seinen Kisten und Körben war nichts mehr zu sehen. Auch der Spiegel war nicht mehr da. Ringsum war ein Meer von hellen Farben, blau, rot, violett, grün, wie von Schleiern, die in einander fließen. Das einzig Wirkliche war vor ihm das große Buch und darauf der Alte. Aber jetzt war er garnicht mehr klein. Er war größer als Michael, und er mußte zu ihm aufschauen. Auch das Buch war gewachsen, und jetzt war es beinahe wie ein kleines, gedrungenes Haus mit einem flachen Dach.

Der Alte reichte ihm die Hand. »Willkommen, Michael. Ich freue mich, daß du mich besuchst. Ich bekomme sehr selten Besuch, und wenn schon Menschen kommen, sind sie alle so beschäftigt, daß sie garnicht erst in das Haus hinein kommen.«

»Wo ist denn dein Haus?« fragte Michael neugierig.

Der Alte wies auf das Buch. »Nun, hier wohne ich. Willst du dir mein Haus nicht einmal von drinnen ansehen?«

Michael lachte. »Aber wie kann man in ein Buch hinein gehen? In einem Buche ist doch garkein Platz.«

Der Alte strich sich lächelnd den Bart. »Wer hat dir das erzählt? Ich sage dir: es ist nirgends so viel Platz wie in einen Buche. In Büchern ist Platz für Menschen, für Häuser, für Kriege, für die ganze Welt mit allen Meeren darum. Aber ich glaube, Michael, du hast ein wenig Angst ...«

Das ließ Michael sich nicht zweimal sagen. »Oho« rief er, »ich weiß nicht einmal, wie Angst geschrieben wird. Ich habe sogar nicht einmal des Nachts Angst ...« Da fiel ihm ein, was ihm in der letzten Nacht mit den fünf Büchern geschehen war, und er schwieg. Aber nun gab es schon kein zurück mehr. Der Alte stand auf und sagte: »Gut, wenn du keine Angst hat, so komm nur herein.«

Er berührte die eine große kupferne Schließe. Klick! machte sie und sprang auf. Er berührte die zweite. Klack! machte sie und sprang auf. Langsam begannen sich die schweren braunen Lederdeckel zu heben. Michael standen die Haare zu Berge. Aber jetzt war es zu spät. Der Alte faßte ihn bei der Hand, und schon gingen sie in den Wald der Blätter hinein. Hinter ihnen klappten die beiden großen Schließen klick klack wieder zu.

Eine Weile konnte Michael nichts erkennen. Ein Gemisch von Helligkeit und Dunkel war um ihn, und die Blätter rauschten wie ein Wald im Sturm. Aber dann wurde es heller und er sah, daß sie sich einer unendlichen Reihe von hohen, dunklen Alleen näherten. In diesen Alleen standen seltsam geformte Bäume. Einige bestanden nur aus langen dünnen Stämmen; andere wuchsen wie ein Strauch vom Boden auf, andere schienen Äste wie Hände auszustrecken, und wieder andere hatten ihre Wurzeln ganz tief in die Erde gestoßen, und einige standen da wie in sich zusammengedrehte Olivenbäume. Und rund um sie herum schwebten merkwürdige Insekten, wie Punkte und Striche und Häkchen und Kronen. Aber sie rührten sich alle nicht. Sie schwebten still und reglos in der Luft, so wie auch die Bäume ohne Laut und Bewegung dastanden.

Michael sah zu dem Alten auf. »Sind denn alle diese Bäume tot?«

»O nein« erwiderte der Alte. »Diese Bäume können nie sterben. Aber sie stehen immer ganz ruhig da und warten, bis ein Mensch zu ihnen kommt. Dann werden sie bewegt. Du wirst es sofort sehen, was für Bäume das sind.«

Wie sie näher kamen, sah Michael zu seinem Staunen, daß das, was er für Bäume gehalten hatte, Buchstaben waren, und ganz dicht vor ihm, mit schweren Ästen und schwanken Zweigen, stand das Wort: IM ANFANG. Genesis 1:1. Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Und plötzlich begann das Wort zu leben. Es reckte sich mächtig auf, als wollte es bis in den Himmel wachsen. Die ganze Reihe geriet in Bewegung, und es ging wie Wellen von einer Allee zur anderen. Es pfiff und rauschte in den Zweigen. Der Sturm trieb dunkle Wolken daher, und irgendwo rauschte es unheimlich von Wassern, die man nicht sah. Es war alles wüst und ungeordnet und unheimlich. Aber dann schwebte eine Stimme hoch oben über den Wolken, und die Wolken teilten sich und trieben in den Abgrund hinein, und von oben her dämmerte ein Licht, erst schwach, dann heller, glänzender, stärker, bis es eine einzige große Kuppel von Licht war.

»Ist das nicht schön?« fragte der Alte.

Michael nickte stumm. Er konnte vor Aufregung kaum sprechen. Jetzt hatte er wirklich alle Furcht verloren. »Wie weit geht der Weg?« fragte er.

»Durch viele, viele Zeiten« sagte der Alte. »Aber wir können sie heute nicht alle gehen, sonst wirst du zu müde. Aber eines will ich dir noch zeigen: ein Bild.«

»Was ist auf dem Bilde?«

»Das sollst du selber sehen, denn darum habe ich dich gerufen. Du glaubst, du wärest zufällig in den Schuppen gekommen? Und die Türe wäre zufällig offen gewesen? Nein. Ich habe dich gerufen, weil ich dich brauche, denn du sollst mir helfen.«

Michael fühlte sich sehr geschmeichelt. Er stemmte die Hände in die Seiten und sah sehr stolz aus. Sogar seine Stimme klang tief, als sei er schon erwachsen. »Bitte sehr, ich will dir gerne helfen. Sag mir nur, was ich tun soll.«

Der Alte winkte ihm. Sie traten aus den Alleen heraus. Sie sanken durch viele rauschenden Blätter in die Tiefe, bis es plötzlich ganz bunt und farbig vor ihnen aufleuchtete. Sie standen vor einer Wiese, die voll von Blumen war, wie nach dem ersten Regen. Die Nachtigall sang und die Turteltaube rief, aber man sah sie nicht. Zur Rechten standen Mandelbäume in der ersten Blüte, und unter einem stand ein Mädchen, schwarz und schön. Sie hatte beide Hände ausgestreckt und sah in das Tal hinunter. Da stand ein junger Hirte auf seinen Stab gelehnt und sah sehnsüchtig zum Hügel hinauf, während die Schafe zu seinen Füßen grasten. Es war ein so liebliches Bild, daß Michael flüsterte: »Komm, laß uns näher gehen.«

Aber der Alte lächelte. »Versuch es nur.«

Michael tat einen Schritt vorwärts, aber da stieß sein Fuß gegen Papier, und es raschelte und die Gestalten und die Landschaft begannen zu zittern. Ängstlich zog er den Fuß zurück. »Aber das ist ja ein Bild!« rief er überrascht.

»Wie ich es dir sagte« lächelte der Alte. »Aber mit diesem Bilde hat es eine besondere Bewandtnis. Diese beiden Menschen, das Mädchen und der Hirte, sind so wenig tot wie die Buchstaben, die du in den Alleen gesehen hast. Auch sie warten darauf, daß ein Mensch zu ihnen kommt und sie wieder befreit. Denn du siehst: sie sind dort im Bilde eingesperrt.«

»Wer hat das getan?« fragte Michael ganz empört.

»Ich selbst« sagte der Alte ruhig. »Ich will dir erzählen, wie das geschehen ist.« Sie setzten sich an den Rand des Buches, dem Bilde gegenüber, und die ganze Zeit mußte Michael das schöne schwarze Mädchen anschauen. Der Alte erzählte: »Vor zweitausend Jahren, als unser Volk dieses Land verließ, bin ich mit ihm gegangen. Ich war damals schon sehr alt, aber ich bin in der Zwischenzeit nicht älter geworden.«

»Wie ist das möglich?« staunte Michael.

»Weil ich der Geist des Buches bin, und das Buch kennt keine Zeit. In allen Ländern, wohin unser Volk kam, habe ich darüber gewacht, daß unsere Bücher am Leben blieben, und sie blieben am Leben, weil die Worte, die darin stehen, so lebendig sind. Aber je mehr die Zeit verging, desto deutlicher sah ich, daß die Welt immer reicher wurde an Dingen. Es wurden immer neue Erfindungen gemacht – du hast ja im Buche der Erfindungen gelesen, nicht wahr?«

Michael bekam einen blutroten Kopf. »Nein. Aber ich verspreche dir, daß ich es lesen werde. Und das Buch der Abenteuer dazu.«

»Das ist sehr nützlich, mein Sohn. Wie gesagt: ich sah, daß die Menschen sich immer neue Dinge erfanden und sich immer neue Dinge kauften und immer reicher wurden, und doch sind sie immer ärmer geworden. Sie sind ärmer geworden an Liebe. Verstehst du das, Michael?«

Michael sagte nachdenklich: »Mutter liebt mich, und Vater liebt mich ...«

»Und die Menschen lieben einander« unterbrach ihn der Alte.

»Aber nein!« rief Michael. »Sie führen immer Krieg mit einander.«

Der Alte nickte. »So ist es. Sie sind arm geworden an Liebe. Aber diese beiden Menschen, die du hier im Bild siehst, lieben einander so sehr, daß sie ohne einander nicht leben können. Das Mädchen ist Shulamith, Die Geliebte im Hohelied des Salomon. und ihr Freund ist der Hirte. Sie hätte die Frau eines Königs werden können, aber sie liebte ihren einfachen Hirten mehr als alles. Als sie nun mit unserem Volke in die Fremde gingen, da sah ich bald, daß sie in dieser Welt ohne Liebe nicht leben konnten. Da war keine Luft zum Atmen für sie. Sie wären an dieser Luft ohne Liebe gestorben. Und da habe ich sie beide in das Bild gesperrt und habe das Buch samt dem Bilde wieder nach Hause gebracht. Und nun sind sie hier ... und nun weiß ich nicht, wie ich sie wieder aus dem Bilde erlösen soll. Und ich weiß nicht, wen ich fragen soll. Da dachte ich mir, ich frage einen Burschen, der offene Augen im Kopfe hat und der bereit ist, für zwei junge, schöne Menschen etwas zu tun. Was meinst du Michael: habe ich mich an den richtigen Burschen gewandt?«

Michael hatte glühende Wangen. »Ja!« rief er. »Verlaß dich nur auf mich. Ich werde die Beiden schon befreien!« – – –

 


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