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Im heiligen Benares.

Benares (Indien): Leben und treiben am heiligen Ganges

Von meinen Sorgen zu sprechen, ist wie das Abbeten eines Rosenkranzes, immer langwierig, schwer und bitter und immer gleich. Ich brauche nur zu sagen, daß ich fünf Wochen in Kalkutta war, sehr eifrig das Textilwesen und die verschiedenen Rohprodukte studierte und nicht weniger als den Stoff zu sechzehn Aufsätzen sammelte, die ich aus dem Norden an das Blatt, dessen Sonderkorrespondent ich war, abgehen ließ. Daraufhin glaubte ich ein gewisses Anrecht auf einen Vorschuß zu haben …

Von überall blieben die erwarteten Gelder aus, doch erhielt ich so viel, daß ich, bei äußerster Sparsamkeit und die Nächte möglichst im Zug oder im Warteraum der Bahnhöfe (man kann das!) verbringend, durch Indien bis Karachi fahren konnte. Da war ich der Heimat dann fast um den Umfang von ganz Europa näher, und das sollte auch, wie ich mir fälschlich vorstellte, die Heimfahrt verbilligen. Das war eine irrige Anschauung, denn in Wahrheit fährt man mit dem Norddeutschen Lloyd in einer sehr anständigen Dritten weit billiger von Colombo auf Ceylon (also entfernter als Kalkutta) bis Bremen, als von Karachi in einer schlechten Zweiten bis Brindisi. Man lernt nie aus.

Damals ließ ich neuerdings eine Riesenkiste vom Stapel, packte meine wenigen Habseligkeiten in einen grünen und in den berühmten Lederkoffer mit meinem Namen darauf aus Adelaide (allerdings mit schon gebrochenem Rücken) und verließ Kalkutta, auf den Armen nur meine Erika, die zweimal in ärztlicher Behandlung gewesen und die an Rheumatismus und der Hinfallenden litt. Sie übersprang nämlich die letzten zwanzig Zwischenräume, so daß ich sie immer mit der einen Hand zurückhalten mußte, während ich mit der anderen schrieb. Wir waren zwei arme, wegmüde Invaliden.

Auf der Fahrt nach Benares kommt man an dem berühmten Buddha Gaya, dem heiligsten Ort der buddhistischen Lehre, vorüber, wo der Weise seine Erleuchtung fand und predigte und wohin unzählige Pilger jährlich wandern. Das ganze Gebiet ist eben mit mäßigen Erhebungen, ziemlich eintönig, aus Reis-, Baumwoll-, Indigo- und Mohnfeldern bestehend, weil der Boden fruchtbar und teils natürlich durch sumpfige Ablagerungen, teils künstlich bewässert wird.

Patna ist der Mittelpunkt der Opiumfabrikation und steht natürlich unter Bewachung der Regierung. Man fertigt auch schöne Brokate und Seidengewebe an. Ueberall steht man kleine unansehnliche Häuschen, aus Holz mit hohem runden Dach auf dem Lande, und flachdachig, aus Stein, in den Städten, wo die Leute gern oben auf dem Dache schlafen. Allerdings wird diese Bauart erst gegen Agra zu allgemein.

Interessanter als diese Städte, die uns ziemlich schmucklos und langweilig scheinen und in denen es von Menschen in weißen losen Beinkleidern und weißen Saris wimmelt, ist der Zug, der so verschieden von dem unsrigen ist. Meist besteht ein Abteil aus drei Bänken, die der Länge nach (je eine an den Fenstern entlang und eine in der Mitte) aufgestellt sind, und über diesen Bänken sind drei weitere aufgestülpte Lederbänke, die abends gesenkt werden und auf denen man wie auf einem Schiffsbett liegt. Die beiden Türen sind stark und haben innen einen Riegel, den man ganz gut verschieben kann und den man nur dem Schaffner in seiner Uniform zu öffnen braucht, wenn man sich im Damenabteil befindet. Ueberdies haben die Fenster das Mückennetz, die äußeren Jalousien, Fensterscheiben, die man senken kann, und zuzeiten sogar noch einen inneren Vorhang. Da die Waggons aus Eisen sind und in den Tropen hin- und herrollen, kann man sich denken, was für eine unerträgliche Hitze darin herrscht, deshalb geht der große elektrische Fächer zu Häupten auch Tag und Nacht.

Wer in Benares aussteigen will, muß in Moghol Sarai den Zug wechseln, da fast alle indischen Hauptstädte abseits von der Hauptlinie liegen – warum, weiß ich nicht. Benares ist der heiligste Ort ganz Indiens, von allen Pilgern, von allen Touristen, von allen Wissenschaftlern besucht, die Indien überhaupt berühren. Man füllt Bände mit seiner hehren Schönheit, man träumt von diesem Märchenort und – – – man kommt eines Morgens bei glühender Hitze an und findet einen Steinhaufen.

Der Bahnhof liegt weit ab vom eigentlichen Mittelpunkt, und nichts als teure Droschken oder die eigenen Füße tragen stadtwärts. Ich mußte bei allem Fragen die unrichtige Biegung eingeschlagen haben, denn ich wanderte drei Stunden (!) durch öde Straßen mit kleinen, sonderbar mit allerlei Figuren bemalten Häuschen, an öderen Gärten und kahlen Mauern vorüber, ehe ich am untersten Ende der Verbrennungsstätten am Ganges herauskam und von da weitere drei Meilen bis zum Stadtmittelpunkt ging, der in unserem Sinne auch noch kein Mittelpunkt, sondern das für Ausländer bestimmte Geschäfts- und Hotelviertel ist und nichts Einladendes oder Großzügiges an sich hat.

So müde war ich selten in meinem ganzen Leben, doch kann ich sagen, daß ich eben dadurch Benares in allen seinen Ecken und Enden kennen gelernt habe, daß ich die Seidenweber bei ihrer Arbeit, die Töpfer, die Sandalenmacher, die Messingarbeiter und andere Handwerker beobachtete, daß ich die Gassen kennen lernte, die nie eines Touristen Fuß betreten, winzig und krumm wie ein Kinderwurm, und in denen die Häuschen – niedere, ebenerdige, weißgetünchte Lehmbauten, nicht in gleicher Höhe mit der Straße, sondern oben auf einer kleinen Erhebung standen, die nicht immer gerade, sondern abschüssig, trostlos, sandig oder staubschichtig war. Alle Gärten enthielten indische Feigen, die kakteenartig sind, lange Stacheln haben und nichts und niemand durchlassen. Tamarinden, lange steife Gräser, nichts Augenerfreuendes. Die Schulen waren geschlossen, seltsame kleine Kapellchen begrenzten da oder dort eine Straße, und nur die Sonne brütete erdrückend über all dem. Selbst der heilige Strom, breit und tiefblau, war ein Meer flimmernder Wogen, auf das man kaum zu schauen vermochte. Von den Kuppeln der tausend Tempel (die man nur schön vom Wasser aus steht und die zu Land hinter dem vorlagernden Mauerwerk fast verschwinden) floß das Licht blendend in das Staubmeer zu Füßen; aus dunklen Haustoren liefen saribekleidete Gestalten mit Krügen, und alles wirkte wie in östlichen Märchen, denn die Trachten erinnerten an Bibelgestalten, und das Waschen der Füße vor dem Betreten der Häuser, das Grüßen, indem man die flache Hand gegen die Stirn drückte, das langsame Reiten auf trübsinnigen Eseln, die winzigen Geschäfte, in denen Sachen von unbezahlbarem Wert hergestellt wurden, die unschönen Straßen, die endlich in eine lange, enge, schmutzige Geschäftsstraße in einer Front mit der Hinterseite der Tempel mündeten – all das zog mich in eine neue Traumwelt. Es gab heilige Affen, heilige Rinder, heilige Bettler, heilige Orte und vermutlich auch heilige Fliegen überall. Es gab auch eine unheilige Hitze und unzweifelhaft an allen Ecken und Enden die Cholera.

Mir war so heiß, und ich war so durstig, daß ich um einen kühlen Trunk meine Seele verkauft hätte (ich war ohne Nahrung seit sechzehn Stunden und war an fünf Stunden bei dieser Hitze auf den Beinen) – und gerade da rief mir ein kleiner Junge, an dessen sehr wenig einladendem Laden von kühlen Getränken ich soeben vorbeiging, »Eissoda, Miß?« zu. Nun erwartete er keine Antwort oder höchstens eine gepfefferte, denn eine weiße Miß trinkt nicht aus solchen Gläsern, an solchem Orte, solch ein Cholerarezept erster Auflage, aber wie gesagt, ich war bereit, viel für einen kühlen Trunk zu geben, wandte mich um und nickte. Er war so erstaunt, daß er mir einen Stuhl anbot und mir eine Eissoda mischte (das Eis in ein Tuch wickelnd und dann mit einem Hammer zerschlagend, worauf es in ein Glas kam und mit Soda überschüttet wurde), deren Zubereitung ich nur einäugige Aufmerksamkeit schenkte, und dann trank ich dieses Getränk um zwei Annas, als ob mir die Götter Nektar geboten hätten, und meinte, daß die Vorsehung, die meine Not und meinen Beutel kannte, die Cholera von der abwenden würde, die nicht gut anders handeln konnte. Diese eine Eissoda entsittlichte mich. Ich trank nun bei jeder Wegbiegung, in jedem Schmutzladen und sah mich nur vorher vorsichtig um, ob kein Europäer im Anzug war, denn da hätte ich die Kaste verloren, wenn nichts Aergeres …

Es war in Benares, daß ich einmal, halbverdurstet, durch eine breite, alte Straße kam, in der es viel Läden, doch nicht einen Eissodakrämer gab. Meine Zunge klebte am Gaumen, der furchtbare Staub machte den Mund bitter wie Galle, ich hatte Fieber bei einer Sonnenhitze, die kaum erträglich war, und ich fühlte, daß ich einfach nicht vom Fleck konnte. Da trat ich auf einen Mohammedaner in einem Eisenladen (glaube ich) zu und sagte » Pani«, das einzige Wort Hindustani, das ich verstand. Er fragte » Sodapani?« und schüttelte das Haupt. Ich wiederholte » Pani«, und da nahm er ein kleines Tongefäß, wie es die Leute hier immer tun, schüttete es voll mit dem lauen Alltagswasser und bot es mir an. Ich trank und trank mit hervorquellenden Augen zwei-, drei-, viermal solch ein Gefäßchen voll. Er lächelte und bedeutete mir, langsamer, doch mich satt zu trinken. Zum Schluß bot ich ihm vier Annas, ein reichliches Trinkgeld, an, doch wies er es ab und ließ mich verstehen, daß man für Wasser, einem Durstenden gereicht, keinen Bakschisch nehmen dürfe, weil Allah die Handlung selbst bezahle. Ich hob die Hand an meine Stirn und salaamte tief. Hoffentlich hat es ihm Allah reichlich zurückgezahlt. Keine Handlung in ganz Indien hat mich so tief gerührt wie eben diese. Er hatte um meinetwillen ein Geschirr zerbrochen – das mußte er, nachdem ich als Ungläubige daraus getrunken hatte – und er hatte dennoch kein Geld dafür angenommen. Das war die uralte Gastlichkeit der Morgenländer …

 

Die Ghat oder heiligen Tore.

Benares (Indien): Blick auf Spitzen und Türme des goldenen Tempels.

Sie reichen fünf Kilometer weit an der Wasserfront hinab, und ich habe sie zu Fuß durch die Eingeborenenstadt und zu Fluß (im Boot) genossen. Manche Treppen, die zu den heiligen Badeplätzen führen, sind achtzig bis hundert Stufen hoch, und da sieht man vom Morgendämmern an die Sekten und Kasten ihr Bad einnehmen, die Brahmanen in kostbaren Gewändern, bestimmte Gebärden machend, die einfachen Leute sich mit der hohlen Hand bespülend oder untertauchend. Wer im Ganges ertrinkt, der kommt direkt in den Himmel, so daß es auch nichts macht, wenn ein Krokodil jemand davonträgt, der so heilig geworden ist. Bei aller Heiligkeit ist das Wasser oft trüb, und wer wünscht sich an einem Ort zu waschen, wo viele Menschen den schweren Benaresstaub in Heiligkeit ohne Ende verwandeln? Viele kommen alt und schwach oder krank nach der heiligen Stadt, um hier zu sterben; andere stecken sich gegenseitig an, und wer das Leben in den kleinen Nebenstraßen beobachtet, wer nicht wie ein Globetrotter alles abklopft, ohne etwas wirklich gesehen zu haben, der verliert viel vom romantischen Zauber und gewinnt doch etwas, das tiefer als aller Abklatsch ist. Da hängt ein Volk, aus so verschiedenen Völkern zusammengewürfelt (es ist sehr irrig, Indien als ein abgeschlossenes Ganzes zu betrachten), an einem Wasser wie wir an der Donau oder die Deutschen am Rhein, nur mit so viel mehr Andacht und Glaube und Hingebung! Da sieht man, wie tief dem Morgenländer, der so viel mehr Zeit zum Nachdenken findet, an dem Leben vor und nach diesem Erdenleben liegt, wie sehr er trachtet, sich dem Kommenden richtig einzustellen, wie abgewandt vom rein Vergänglichen er ist. Deshalb erträgt er die körperlichen Leiden leichter, deshalb hängt er nicht mit jenem wilden Begehren und jener Zähigkeit, die uns Westländern eigen, am Leben und seinen Kundgebungen. Einmal hat er alles gehabt, was ein Dasein bieten kann, und einmal wird er es auch wieder haben. Wohl ermüdet ihn zuzeiten das Gebundensein an dieses ewige Rad der Wiedergeburten, aber es macht ihn auch ruhiger, denn er braucht nicht alle Erfahrungen fieberhaft in ein einziges Leben zu pferchen …

Es ist gar nicht meine Absicht, die unzähligen Tempel und Tempelchen, die Ghat und Götzennischen, die Kasten in ihrem Gewirr zu beschreiben, denn das würde einen ganzen dicken Band füllen, und das findet man, wohl besser, als ich es könnte, schon von anderen beschrieben.

Am besuchtesten ist vielleicht das Hanumau Ghat, wo man die heiligen Affen sieht und in besten Nähe man die Sannyasi oder Bettelmönche findet, die sich auf das künftige Leben vorbereiten, keinerlei irdische Wünsche hegen und die oft durch ganz Indien wandern. Da sie gegen jede Hauswand lehnen, überall ihre Schlafmatte aufrollen dürfen und von jedermann, den sie darum ansprechen, gefüttert werden, mit gelber Asche bestrichen sind, daher nur einen kleinen Lendenschurz tragen, sich nicht zu waschen oder zu kämmen brauchen, kann man verstehen, warum es in Indien Sannyasi voll Heiligkeit und bei uns nur bettelnde arme Teufel ohne solche gibt. Ich war auch schon manchmal daran, in Indien Sannyasi zu werden, um mir dadurch Kost und Wohnung zu ersparen, aber unsere weiße Haut nimmt die gelbe Asche schlecht und unser Haar die Läuse leicht auf, weshalb ich bei westlichen Gewohnheiten verharrte. In Europa, wo jedermann arbeiten, sich kleiden und selbst verpflegen muß, kann man freilich nicht so eingehend über das nächste Leben und die Gesetze des Weltalls nachdenken. Das leisten sich bei uns höchstens Professoren, die schon eine Pension beziehen. Man darf bei Beurteilung von Völkern auch die äußeren Umstände nicht vergessen.

Eigentümlich berührt es, Moscheen und Hindutempel, alte, zerfallende buddhistische Stupas und Plattformen neben Hindutempeln oder Sikhhallen zu sehen. Und jeder von diesen allen, die hier nach ihrem Glauben opfern, ist sicher, den rechten und einzigen Weg entdeckt zu haben! Alle Wege führen zum Gipfel, und über ihm leuchtet die gleiche Sonne …

 

Vor dem wunderbaren Tadsch Mahal.

Agra (Indien): Der Tadsch Mahal, Indiens berühmtestes Bauwerk.

Von Benares fährt man eine Nacht hindurch nach Agra, einer Stadt mitten auf der weiten Ebene, unweit der Jumna, gelegen, um die sich zur Zeit der Meuterei die wildesten Kämpfe abspielten. Für andere mag Agra einen anderen Reiz haben; für mich war es die Erinnerung an den furchtbaren Aufstand und die Hinmetzelung von Frauen und Kindern. Im Fort hatten so viele mühselig Obdach gefunden …

Für unsere Verhältnisse hat eine kleine Stadt wie Salzburg bedeutend schönere Straßen, macht mehr Stadteindruck als die wichtigsten Orte Indiens, außer Bombay und Kalkutta. Das kommt daher, daß die Asiaten niedriger wohnen, also nicht an unseren Luxus gewöhnt sind. Richtiger bezeichnet wäre es, wenn man sagen wollte, daß sich die Lebenswerte des Ostens und Westens nicht decken. Der Inder macht sich nichts aus einer schönen Wohnung, weil er die Hauptzeit auf einem Dach oder sonst im Freien verbringt; dafür liebt er Schmuck, besonders an seinen Frauen, und manchmal hängt ein Vermögen an Ohren, Nase, im Haar, um den Hals, die Brust und die Mitte, an Armen, Fingern und Zehen, ja selbst an den Knöcheln einer Inderin. Darauf legen wir geringen Wert. Auch bedeutet Besitz Verantwortung und Ausbeutung und ist daher dem Asiaten, der gewöhnlich dadurch nur an lästigen Parasiten gewinnt, eine Last, uns – die wir mit westlicher Selbstsucht die Verwandten nach Kraft und Tunlichkeit abschütteln (warum das leugnen?) eine Freude. Das indische Familiensystem, das man leider zu brechen sucht, ist für einen Staat sehr günstig. Das jeweilige Oberhaupt – der älteste Mann – leitet alles, macht alle Einkäufe, kümmert sich um den Gang der Besitzungen, verteilt die Wohnungen, die alle zusammenhängen und ein Besitztum bilden; die Söhne und meinetwegen die schon erwachsenen Sohnessöhne (die mit ihrer Familie auch beim »Vater« wohnen und ihm untertan sind), steuern zu gleichen Teilen bei, das heißt, jeder gibt von seinem Gelde ein Drittel, und zwar der Millionär wie der arme Winkelschreiber, und dennoch werden alle gut versorgt, obschon ein völlig arbeitsloser Mann bei seinem reicheren Bruder als Diener eintreten muß, ohne deshalb sonst schlecht behandelt zu werden. Irrsinnige, Krüppel, Kranke, Witwen und so weiter werden also von den reicheren Verwandten erhalten, und wer am reichsten ist, der zahlt begreiflicherweise für alle anderen mit. Es mag dies bei wachsender Selbstsucht eine Plage für den Bemitteltsten sein – man denke aber, was für eine Erleichterung es für die ärmeren, lebensuntauglicheren Geschwister und für den Staat ist, wenn es keine Bettler, Krüppel und so weiter gibt. Es gibt Bettler in Indien, doch sind viele davon Sannyasis oder Bettelmönche, denen man im Grunde weniger Geld als Speisen gibt, und nach dem mohammedanischen Gesetz schneiden die Geschwister auch nicht so gut ab, die Familie bleibt nicht so fest zusammen, und das gilt von unzähligen Kasten und Sekten, daher darf man Indien nie kurz in Bausch und Bogen abtun.

Agra hat – wie ich also schon andeutete – trotz seiner mehr als l90 000 Einwohner und seiner räumlichen Ausgedehntheit nicht eine Straße, die ein ordentliches Pflaster hätte oder ganz unseren Straßen gleichschauen würde. Unsere Bauern würden die meisten Häuser glatt zurückweisen, aber noch einmal: der Osten ist nicht der Westen. Die Schönheiten sind zu finden, nur nicht da, wo sie von uns gesucht werden würden.

Der erste Zauber zeigt sich nach der Jumnabrücke – ein schneeweißes Gebäude auf weiter, sandiger, trostloser Ebene, von einigen zypressenähnlichen Bäumen umschattet. Das ist der wunderbare Tadsch Mahal, das Grabdenkmal, das ein liebender Fürst seiner Gattin erbaut hatte, nachdem sie ihn mit neun Kindern gesegnet. Das Werk soll von einem italienischen Baumeister herstammen, dem die eine Hand abgeschlagen worden sein soll, nachdem er den Bau vollendet hatte, weil er ein kleines, unauffindbares Löchlein in der Kuppel angebracht hatte, durch das ein Tropfen bei jedem Regen hineinsickert und vor das Grab fällt.

Am schönsten ist der Bau im Mondlicht, wenn das Weiß feenhaft leuchtet, der Ruf eines Schakals die Luft durchzittert oder hinter den düsteren Bäumen und dem niederen Strauchwerk, das sich im Kanal spiegelt, eine Hyäne lacht …

Silber auf der Kuppel, den schlanken Minaretten, die wie ein Finger gegen das Dunkelblau des Tropenhimmels zeigen, das runde Tor und dazu das Erinnern, daß es Liebe von großer Stärke und Dauer war, die dieses schönste aller Grabdenkmäler geschaffen! Der Sand dehnt und dehnt sich dahinter, wo die Gärten enden, und wirkt weiß wie frischgefallener Schnee, und es ist so einsam, daß man das Schlagen des Herzens hört.

Ganz still bleibe ich vor dem Wunderbaren und staune weniger über ihn als darüber, daß ich auch hierher gekommen bin. Wo mein Fuß überall gestanden, was meine Augen alles gesehen, was mein armes Menschenherz alles gelitten hatte!

Ganz still in der Nacht, in der die Hyänen lachen und die Pfauen mit ihren Hennen über den Sand wandern. Ich bin so schaumüde, daß mich so richtig nichts mehr erfreut, nichts mehr begeistert, nicht einmal der besungene Tadsch Mahal, das schönste Bauwerk der Welt. Ich habe für alles überzahlt und finde daher das Konto geschlossen …

Oder richtiger: Das Schicksal hat meinen Wechsel nicht honoriert.

 

In Agra.

Ein Wicht auf der Eisenbahn, der mir drei Stationen lang in den Ohren gelegen hatte, hatte mich für sein Hotel gekapert, und ein elendes Schandloch war es, dessen Name mir glücklicherweise entfallen ist. Ganz recht! Kein Lied, kein Heldenbuch nenne …

Ein winziges Wägelchen mit einem Pferd, das längst das Gehen verlernt hatte, brachte mich samt Gepäck in diese indische Mördergrube, die nach Worcestersauce aus dem Ostende Londons und nach allen Gestänken des Ostens roch (durchflochten vom Rauch westlicher Zigarren!) und in der ich ein Zimmer inne hatte, das von der sonnebrütenden Veranda, die sofort auf den freien Hof mündete, durch eine herabgelassene Strohmatte getrennt war.

Glücklicherweise war ich nicht nach Indien gekommen, um in indischen Hotels (die nämlich europäisch sein wollten!) zu wohnen, daher schüttelte ich den beredten Pferdanpreiser, den Diener und all das übrige bakschischhungrige Gesindel ab und wanderte zu Fuß gegen das Innere von Agra. Es war ein Glück, daß ich meine eigenen Füße hatte, denn die kosteten nichts, und der Weg war lang, staubig und sonnig, lang genug, um ein Kamel umzubringen, doch Schriftsteller, die sieben Jahre lang Schriftleitungen ertragen und Verleger gefischt haben, sind bedeutend zäher als ein Wüstenkamel … Auch eine Agra-Erfahrung!

Die Straße, durch die ich endlich pilgerte, war einseitlich ein abgebrochener, graubrauner Berg, mit und ohne Häuser, doch immer staubbekrustet. Auf der anderen Seite gab es Ledergeschäfte, und der Geruch von Häuten begleitete mich eine Meile hindurch. Bei vierzig Grad und mehr im spärlichen Schatten nicht der wünschenswerteste Duft. Als ich eben bei einem Mohammedaner, der einen gelben Turban wie ein Radscha trug, eine minderwertige Eissoda mit tausend Cholerabazillen, die aber nicht angriffen, erledigt hatte, sah ich, die Augen weit aufreißend, zu meinem Trost die berühmte Freitagsmoschee, und von da ab wanderte ich etwas flotter weiter.

Ein Händler mit Pfirsichen kam hinter mir her. Ich hatte seit Tagen so gut wie nichts gegessen, weil ich Fieber hatte, doch an Pfirsichen kam ich gesund oder krank schwer vorbei, und daher kaufte ich um zwei Annas eine Pfirsich und zog damit ab.

Nach einer Weile hörte ich mich angerufen (mein Schritt ist sehr verschieden von dem eines Morgenländers), und der Händler reichte mir eine zweite Pfirsich mit dem Bemerken, daß ich auch auf die nach meinem Gelde Anspruch habe. Diese seine Ehrlichkeit rührte mich beinahe wie die Wassergabe in Benares. Zumeist sogen die Inder uns erbarmungslos aus, doch war man einmal hinweg von all den Touristenplätzen, mitten unter ihnen, so waren sie so ehrlich und gut wie Menschen, die arm und ans Leiden gewöhnt es fast immer sind. Die zweite Pfirsich schmeckte noch besser …

 

Im Bazar …

Es gab auch andere Berührungen – manchmal lustige. Ich durchwanderte den Bazar, die Stätte der einheimischen Händler, wo man sich nicht verlieren darf und wo es nie sehr sicher ist – Beutel und Gesundheit und, von Mohammedanern, deren es in Agra mehr als Hindus gibt, vielleicht das Geschlecht sind bedroht – und ich wanderte daher, mit einem Auge alles einsaugend, mit dem anderen alles bewachend vorwärts, während ein junger Muselmann unbedingt mein Körbchenträger sein wollte und ich ihm vergeblich in mehreren Sprachen begreiflich machte, daß ich nur schauen, doch nichts kaufen wollte und in jedem Fall alles selbst tragen würde. Umsonst! Wer nicht hören will, der muß fühlen. Ich dachte mir: »Mensch, du wirst nicht so bald einer weißen Mem Sahib lästig fallen!«, und marschierte aus. Eine halbe Stunde lang durchwanderte er mit mir den Bazar, immer hoffend, denn die Hoffnung stirbt schwer, doch als ich daraufhin noch in eine Seitengasse einbog, gab er es sozusagen heulend auf. Ich lachte. Mehr als einen lästigen Anbeter hatte ich in all den Jahren einfach totgelaufen …

Es war wunderschön. Man kann sich keine richtige Vorstellung davon machen, weil Worte so sprödes Laub sind, aber in einem Bazar lebt alles, öffnet sich die Seele des Landes wie eine Lotosblüte dem ersten Morgenstrahl, denn die Inder wohnen, leben und sterben zuzeiten in diesen engen Nischen, die sie Geschäfte nennen, sie liebkosen dort ihre Kleinen, sie schauen von dort den Nautschmädeln nach, sie flüstern von nächtlichen Freuden ihren Frauen zu, die da im Körbchen das einfache Mahl bringen oder sie kauern rund um den Straßenkoch und essen mitten im Staub und im Getriebe, der eine stets ein wenig von dem anderen abgewandt, denn jemand beim Essen anzustarren ist höchst ungezogen.

Sie hatten solche unglaublichen Kuchen, so wunderbare Speisen, und ich schaute mir alles an, doch mit den Händen auf dem Rücken, denn hätte ich eine Sache berührt, hätte der ganze Kram weggeworfen werden müssen. Da wäre er entheiligt worden. Weil ich nichts berührte, meinen Schatten nicht unverschämt vorwarf und nie lachte, sondern nur gefesselt schaute, war nie jemand ungeduldig, bösartig oder gar feindlich. Manchmal lächelten sie mir zu, meist ließen sie mich still teilnehmen an ihrem Tun, und durch dieses Mitleben in den Bazars, in den schmutzigsten Winkeln, ging mir ein Verstehen für die Denkart der Leute auf.

Auch war es possierlich, die Affen zu sehen. Sie lebten in Agra auf den Dächern, sprangen von Haus zu Haus, rissen auch zuzeiten da ein Sari von einer Leine, dort einen Kochtopf, doch im allgemeinen benahmen sie sich brav und waren geduldet, wenn auch nicht immer wohlgelitten. Es waren große Tiere, wenn sie aufrecht standen, nicht viel kleiner als ich, von hellem Braun, das schon einen Stich ins Graue hatte. Von Zeit zu Zeit sausten sie auch an einer Rinne nieder und durch eine Straße, der eine nicht selten den Schwanz des anderen haltend, wie um sich gegenseitig nicht zu verlieren. Es versteht sich, daß sie den Obst- und Gemüsehändlern nicht selten etwas stahlen und diese sich wie bei den heiligen Kühen trösteten, daß es ihnen von den Göttern zurückbezahlt werden würde.

 

In der Festung.

An der großen, edelgebauten Freitagsmoschee vorbei, um die eine Anzahl Buden wie bei uns die Jahrmarktsbuden gereiht sind und hinter der man Vergnügungsbuden in westlicher Art findet, gelangt man über eine breite Straße nach der Festung, dem berühmten Agrafort, das viele Eingänge hat, doch nur durch den nach der Perlmoschee von Fremden betreten werden darf, da in manchen Teilen viel Militär untergebracht ist, denn das Fort ist die Burg der Engländer, ihr Rettungsort in Augenblicken der Gefahr.

Die Straße, mitten in der Stadt gelegen, teilweise von ungeheuren Bäumen beschattet, ist so ländlich, so still wie bei uns eine ferne Dorfstraße. Karren mit einem vorsintflutlichen, käfigartigen Ueberbau und von Kamelen gezogen, rollen gemütlich dahin; Männer tragen ihre Last auf Schulterstangen, Frauen schwere Tontöpfe auf dem Haupte, was ihnen einen stolzen Gang gibt; irgend ein Kuchenhändler kauert in einer Ecke und läßt seine Ware sprechen, denn ihm ist es zu heiß, um auch nur den Mund aufzutun.

Heiß! Ich habe vielleicht nie so gelitten wie in Agra. Es war Juni und daher hier, am Rande der weiten Sandflächen, die zu Wüsten wurden, im Innern von Indien, der allerheißeste Monat. Wenn wir an der Sonne unter 60 Grad Celsius hatten, sollte es mich wundern; vermutlich hatten wir 70, und ich mußte sehr oft lange Strecken, zur Mittagszeit, zu Fuß im grellen Sonnenlicht zurücklegen. Oft war ich in Gegenden, in denen man sich nicht einmal einen Choleratrunk kaufen konnte (denn dieses Trinken aus weiß Gott was für Gefäßen, obschon ich häufig die Tonnäpfe fand, die jedesmal zerbrochen wurden, war höchst unhygienisch, und vermutlich setzten sich damals die Bazillen zur Tropenruhr, an der ich später erkrankte, fest), und ich durfte nicht nur gehen, sondern mußte schauen, zeichnen, lernen, einsaugen, notieren. Dabei hatte ich Fieber und noch einmal Fieber, so daß ich die ganze Zeit von Kalkutta bis Karachi nur einmal eine vollständige Mahlzeit einnahm und vorwiegend von Sodawasser lebte.

Das Tor des Forts war rotbraun, und man ging durch einen aufsteigenden Gang in das Innere. Ich wies diesmal jeden Führer so energisch zurück, daß es mir gelang, allein gehen zu können. Was zu sehen war, hatte ich vorher durchstudiert. Nun aber wollte ich einsam durch alle diese Gänge, Moscheen, Plätze, Nischen, verfallenden Teile und zwischen diesen Riesenmauern gehen, allein die wunderbare Aussicht über Agra genießen und nichts, nichts in die Ohren geschnarrt bekommen. Es war zu großartig, hier zu verweilen und sich zu vergegenwärtigen, wie die Leute gelitten und gewartet haben mußten, während die Meuterei voll im Schwunge war und die britischen Truppen so lange nicht durchdringen konnten. Alle diese Hallen waren voll Menschen gewesen – Frauen und Kindern – und draußen hatte das Volk getobt und gewütet. Die treu gebliebenen Sikh waren hier und standen Wache, und manch ein furchtsamer Händler, irgend ein Eurasier, floh hierher in der Mitte der Nacht, um seinen mühsam erworbenen Schatz in Sicherheit zu bringen. Ich mußte an das »Zeichen der Vier« denken und schaute unwillkürlich alle Vertiefungen an, als ob der Agraschatz noch vorhanden wäre …

Das Fort ist eine ganz große, wunderbar schöne, eigenartige Stadt. Innerhalb dieser schiefabfallenden, ungemein hohen, rotbraunen Mauern liegen Moscheen, Paläste, die alte Beratungshalle der Herrscher, die Frauengemächer, die unzähligen Burgen, die Säulengänge … Man kann weder alle durchwandern, noch überschauen, aber etwas Aehnliches sieht man, meiner Ansicht nach nirgends auf Erden wieder. In mancher Beziehung entzückte mich das Fort mehr als der unvergleichliche Tadsch Mahal. Es war so wuchtig, und man dachte an die Großmoguln, an den Sieg Englands, an die Sehnsucht der Inder, die eine fremde Macht hier täglich über sich sahen. Von hier schweifte der Blick hinüber zur gewürfelten Moschee, hinweg über die Sandhügel, über die Kamele wanderten, über die Straßen des Bazars, über die Häusermassen, die alle farblos wie Staub wirkten, bis hinaus zu den berühmten Grabmälern einstiger Herrscher und Fürsten. Das war Agra, der Kern Indiens, obschon Delhi heute die offizielle Hauptstadt mit dem Durbar ist. Doch Agra ist der Ort, wo sich der Islam einst eingebohrt hat, wo alle Eroberer ihre Macht zeigten, wo der Hinduismus langsam schwindet und der Halbmond so richtig aufgeht, wo die fruchtbaren Südgebiete zu den Wüsten des Nordens werden, wo man das Leben noch beobachten kann, wie es vor Hunderten von Jahren gewesen ist.

Ich blieb lange im Fort. Zum Schluß fand ich im Haupthofe, der Perlmoschee gegenüber, einen Eissodamann, der sogar reiner als andere Eissodamänner war und von dem ich eine Menge seiner Ware trank. Dann, etwas versöhnter mit der Welt und der Hitze, verließ ich das Fort, um weitere Wanderungen anzutreten.

Ich setzte keinen Ehrgeiz darein, alle alten Gräber abzulaufen oder alle Touristenplätze, Kaufläden etc. durchzustöbern; ein Händler zog mich in sein Prachtgeschäft und zeigte mir golddurchwobene Saris, die einen vor Schönheit beinahe zum Schreien bringen konnten, und außerdem Fächer aus Pfauenfedern, Messingwaren mit Einlegearbeiten, Elfenbeinschnitzereien, Edelsteine, wunderbare Wandteppiche und Arbeiten aus besonderem Agrastein, die sehr schön und nicht teuer waren. Dennoch kaufte ich nichts als eine kleine Nachahmung aus Stein vom berühmten Tadsch, um sie meiner Mutter mitzubringen. Sonst machte ich bei dem Alten nur Textilstudien, wohl sehr zu seinem Leidwesen und sehr zu meinem Vorteil. Was ich sonst tat, war, durch immer neue Straßen zu gehen, die nach Zünften eingeteilt waren, und das Leben kennen zu lernen. Das war für mich wichtiger als aller Stein.


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