Ludwig Kalisch
Paris und London
Ludwig Kalisch

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Über das Flanieren in London

Der Pariser hat das Wort »flaner« erfunden, ein Wort, das sich in keiner andern Sprache erschöpfend wiedergeben läßt. Paris ist aber auch die einzige Stadt der Welt, wo der wahrhafte Flaneur, der Flaneur von Beruf und Talent, seinem zwecklosen Zwecke nachgehen kann.

In Paris, wo die Häuser und die Menschen offen sind, wo jeder Individualität das unbeschränkteste Recht eingeräumt ist, mit ihren Spitzen und Zacken sich zu zeigen, wenn sie mit diesen nur nicht verwundet, in Paris, wo die Ideen in einem ewigen Gärungsprozesse begriffen und wo das Leben so vielseitig und daher nach jeder Seite so interessant ist: da wird fast jeder mehr oder weniger zum Flanieren gezwungen.

Man kann zwar in manchen anderen Städten auch flanieren; aber in anderen Städten ist der Flaneur vereinzelt, und die Abwechselung ist dort zu spärlich, um seiner Neigung zum Mangel an Beschäftigung hinreichende Nahrung zu geben. Nirgends aber kann ein wahrer Flaneur so wenig aufkommen und gedeihen wie in London.

Keine Stadt ist so monoton wie London. Das Leben ist hier stereotypiert, und mehr nach innen als nach außen. Der Engländer lebt nur im Hause, und sein Wahlspruch: »My house is my castle«, ist so mit seiner innersten Natur verwachsen, daß man es den Häusern sogleich ansieht. Fast jedes englische Haus ist mit einem massiven eisernen Gitter umgeben, hinter welchem sich eine Art Graben befindet; über diesem Graben bildet die Hausschwelle die Brücke zur Haustüre. Jede Haustüre ist verschlossen und mit einem Klopfer und einem 308 Schellengriff versehen. Als ich in London den ersten Besuch machte, zog ich an der Hausschelle. Ich mußte ziemlich lange warten, bis mir die Magd öffnete, die mich mit sonderbaren und ziemlich verächtlichen Blicken betrachtete. Ich konnte mir diese unverdiente Verachtung gar nicht erklären. Ich hatte doch einen Pariser Frack an, einen Frack d'une coupe merveilleuse, einen Frack, der den Ruhm der französischen Schneiderkunst laut verkündete; meine gelben Handschuhe waren so blendend wie frischgefallener Schwefel, und mein Hut war erst vor ein paar Tagen aus der Werkstätte des Meisters hervorgegangen. Von meinen lackierten Stiefeln will ich gar nicht reden; sie waren indessen so blank, daß die Sonne sich mit Wohlbehagen darin gespiegelt hätte, wenn sie gerade auf Besuch in London gewesen wäre. Kurz, mein Äußeres war so vollendet wie möglich. Aber der Hausherr, ein Deutscher, erklärte mir bald das Rätsel. Ich hatte die Schelle gezogen, und die Schelle ist nur für Bediente. Ein Gentleman muß klopfen.

Leider aber hatte mein Landsmann, wahrscheinlich während seiner längern Abwesenheit von Deutschland, die vaterländische Gründlichkeit vergessen und zeigte sich sehr oberflächlich in seiner Belehrung. Er sagte mir zwar, daß ein Gentleman klopfen muß; er sagte mir aber nicht, wie ein Gentleman klopfen muß, und durch diese unverzeihliche Oberflächlichkeit kam ich bald wieder in Verlegenheit.

Als ich nämlich am folgenden Tage einen zweiten Besuch machte, wurde ich von einem deutschen Schriftsteller, der seit längerer Zeit in London lebt, begleitet und von ihm unterwegs über englische Sitten und Gebräuche aufgeklärt. Ich hatte endlich das Haus erreicht, 309 welchem mein Besuch galt. Mein Freund blieb in einiger Entfernung stehen, schlug aber die Hände über den Kopf zusammen, als er mich klopfen hörte. Ich wußte nicht, welches Verbrechen ich begangen, und geriet in große Angst.

»Sie haben geklopft wie ein Bedienter, nicht wie ein Gentleman«, sagte mein Freund, als ich, zurückgekehrt, seinen Arm faßte.

Ich hörte nun von ihm, daß durch die Art des Klopfens an der Haustüre die Stände sich genau unterscheiden. Der Geschäftsmann oder ein Mitglied des Hauses gibt einen einzigen kräftigen Schlag mit dem Klopfer, der Briefträger gibt zwei Schläge, und ein Gentleman schlägt einen Wirbel. Dieser Wirbel muß ziemlich kräftig sein und von Übung zeugen; doch muß man sich sehr in acht nehmen, daß er nicht allzu kräftig wird; man würde sonst für einen Domestiken gehalten werden. Wenn nämlich eine Equipage zum Besuche vorfährt, so klopft der Bediente so stark wie möglich an der Haustüre, um seine Herrschaft anzukündigen; denn durch den Grad der Heftigkeit seines Klopfens zeigt er die Rangstufe seiner Herrschaft an. Je vornehmer er diese machen will, desto ungestümer klopft er. Da es nun den Domestiken daran liegen muß, sich in die Gunst ihrer Herrschaft zu setzen, so kann man sich leicht denken, mit welcher Kraft sie den Klopfer handhaben.

Diese wohlbefestigten, sorgfältig verschlossenen Häuser, die durch den weltbekannten Londoner Rauch geschwärzt sind, geben den Straßen ein düsteres, melancholisches Ansehen. Die Londoner Häuser sehen aus, als ob sie eingepökelt wären.

In den Straßen der City, die zur Bank führen, ist 310 zwar ein bewegtes Leben und Treiben wie in keiner andern Stadt der Welt; aber dieses Leben und Treiben ist hier so gewaltig, das Drängen, Drücken und Durcheinanderrennen so ungestüm, daß Flanieren hier soviel heißen würde, als auf einem stürmischen Meere in einer Gondel eine Spazierfahrt machen wollen. Durch diese Straßen während der Geschäftsstunden zu gehen erfordert ebensoviel Vorsicht als Geschicklichkeit, wenn man nur etwas Vorliebe für seine Rippen hat.

Nur in einigen Teilen des Westend kann man flanieren; aber es ist der Mühe nicht wert. Das Leben ist hier nicht dramatisch genug, und die Menschen bieten keine Abwechselung. Ein Engländer ist wie der andere. Sie tragen alle dieselben steifen Vatermörder; sie haben alle eine und dieselbe Frisur; sie sind alle sozusagen über einen Kamm geschoren. Die Konvenienz, das Herkömmliche, wird auch in den kleinsten Dingen von dem Engländer streng beobachtet. Wie die Zahlen in ihren Handelsbüchern sind sie in gewisse Linien gebannt, die sie nicht überschreiten dürfen. Der Engländer kennt kaum einen Unterschied zwischen der Sitte und der Sittlichkeit, und ein Verstoß gegen jene ist ihm ein Verstoß gegen diese.

Am interessantesten ist es in den Stadtteilen, wo das niedere Volk wohnt; aber hier ist so viel Elend und Not, so viel Laster und Verworfenheit, daß man mit Mitleid und Abscheu erfüllt wird. Das Flanieren ist hier sogar mit Gefahr verbunden, und es gehört schon ein gewisser Grad von Mut dazu, solche Stadtteile ohne Begleitung zu durchwandeln. Es gibt Straßen in London, wo vielleicht kein einziger ehrlicher Mann wohnt, und in Saffron Hill, einer der berüchtigtsten Straßen der ungeheuern Stadt, waren die Spitzbuben früher so frei 311 von religiösen Vorurteilen, daß der Pfarrer des Sprengels, zu dem diese Straße gehörte, sich ohne Begleitung von verkleideten Polizeidienern niemals hineinwagte. Ich weiß nicht, ob in Saffron Hill jetzt weniger Aufklärung oder mehr Ehrlichkeit herrscht; wer sich aber in später Abendstunde in jene Gegend wagt, ohne sein Eigentum zu verlieren, der hat nichts zu verlieren.

Wenn dem Flaneur in Paris die Witterung nicht günstig ist, so stehen ihm unzählige Kaffeehäuser offen, in denen er Unterhaltungen anknüpfen und die Zeit behaglich totschlagen kann. Es gibt nun in London auch unzählige Kaffeehäuser; aber ein Londoner Kaffeehaus ist nichts anders als ein pennsylvanisches Zellengefängnis. Die hölzernen Bänke an den hölzernen Tischen sind mit so hohen Rückenlehnen versehen, daß sie eine Art Alkoven bilden. Diese Tische und Bänke sind an den Boden befestigt. In einem Londoner Kaffeehause herrscht ein tiefes Schweigen, eine Totenstille, die nur zuweilen durch eine vorlaute Tasse oder durch das Geräusch der Zeitungsblätter unterbrochen wird. Die Gäste sind so hölzern und unbeweglich wie die Tische und Bänke; denn die lautlose Stille auch nur durch das kürzeste und leiseste Gespräch zu unterbrechen, gilt jedem Engländer für unschicklich, für Mangel an Lebensart, für eine Entweihung der heiligen Langweile.

Der Engländer ist einsilbig wie seine Sprache; oft aber ist er ganz unsilbig. Er knüpft fast nie ein Gespräch mit einem Fremden an; und wenn der Fremde mit ihm ein Gespräch anknüpfen will, so schneidet er es gewöhnlich mit einem »Yes« oder »No« oder einem »I don't know« ab. Er ist schüchtern und mißtrauisch gegen den Ausländer und spricht das Wort »foreigner« 312 mit einer eigentümlichen, durchaus nicht freundlichen Betonung aus. Ein englischer Schriftsteller behauptet, dieses Mißtrauen des Engländers gegen den Ausländer rühre daher, daß England in früheren Zeiten von fremden Völkern erobert und geknechtet worden. Diese Behauptung ist sehr gewagt und ließe sich selbst mit wenig Aufwand von Geist und Gelehrsamkeit gründlich widerlegen. Italien ist bei weitem mehr von Fremden geknechtet worden und wird noch bis auf den heutigen Tag von Fremden geknechtet, ohne daß der Italiener darum Mißtrauen gegen den Ausländer hegt. Das Mißtrauen des Engländers hat nicht den Grund in den Eroberungen der Sachsen und Normannen, sondern darin, daß er in jedem Nichtengländer einen Menschen sieht, der nach England nichts mitbringt als die Lust, es soviel wie möglich auszubeuten. Der Engländer ist eben ein geborener und erzogener Handelsmann, der alles vom merkantilischen Gesichtspunkte aus betrachtet.

Der Engländer ist gewohnt, alles als ein Geschäft, als ein Matter of business anzusehen, in welchem er sich nicht gern unterbrechen läßt. Wenn er seine »Times« liest, so ist er tot für alles, was ihn umgibt. Er schließt sich so gerne ab, daß an seiner Theaterloge der Vorhang nicht fehlen darf, damit er in derselben nach Belieben sich unsichtbar machen könne. Der Engländer liebt keine Nachbarschaft. Er fühlt nicht das Bedürfnis der Mitteilung wie der Franzose, dem der Geist, wenn auch nicht das Herz, immer auf der Zunge sitzt. Daher ist die französische Konversationssprache die am vollkommensten ausgebildete. Der Franzose spricht viel, ja, vielleicht am meisten gerade über unwichtige Dinge; der Engländer spricht selbst über wichtige Dinge sehr 313 wenig. Wie in der französischen Küche das Fleisch die Nebensache und die würzige Sauce die Hauptsache ist, so ist dem Franzosen in der Konversation das Thema nur Nebensache, während Witz und Geist, diese Würze der Unterhaltung, ihm die Hauptsache ist. In der englischen Küche ist das Fleisch immer die Hauptsache und die Sauce so sehr Nebensache, daß sie gar nicht existiert, und so ist dem Engländer bei jeder Unterhaltung immer nur der Gegenstand derselben wichtig. Den Witz, die prasselnden und funkelnden Bonmots verschmäht er gänzlich. Der Geist des Franzosen glänzt am meisten in Gesellschaft; der Engländer aber ist ungeselliger Natur. Sein Geist hat nicht Expansivkraft genug, um große gesellige Kreise auszufüllen; nur im Kreise seiner Familie fühlt er sich wohl und behaglich. Der Engländer liebt so sehr, sich abzuschließen, daß er, wenn er nur einigermaßen bemittelt ist, ein Haus allein bewohnt, ein Umstand, durch welchen sich die ungeheuere Ausdehnung Londons erklären läßt. Der Engländer glaubt nicht Herr in seinem Hause zu sein, wenn er nicht Herr seines Hauses ist. Er betrachtet seinen häuslichen Herd als einen Altar, den er nicht entweihen läßt, seine Tugenden sind häusliche Tugenden; seine Liebenswürdigkeit ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Familienliebenswürdigkeit.

So wie die englischen Häuser ihren Glanz und ihren Komfort gleichsam schüchtern verbergen, so verbirgt der Engländer seinen ganzen inneren Menschen vor der Außenwelt und zeigt ihn nur innerhalb seiner vier Pfähle. Weil aber der Familienkreis ein eng umschriebener ist, so muß der Engländer sorgfältig, ja ängstlich alle störenden Elemente von demselben entfernt zu halten suchen. Es ist daher sehr schwer, Zutritt in 314 englische Familien zu erhalten, und der Fremde, den nicht ein Beruf an London fesselt, muß sich daher in dieser Riesenstadt, über welcher nur selten ein heiterer Himmel lächelt, isoliert fühlen und der trostlosesten Schwermut anheimfallen.

Das Londoner Pflaster ist nicht für Flaneurs gemacht. Das Straßenleben in London ist ohne Grazie, ohne Poesie, ohne Abwechselung, und keine Arbeit wird dem Menschen hier so sauer wie der Müßiggang.

 


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