Ludwig Kalisch
Paris und London
Ludwig Kalisch

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Die englische Küche

Der Fürst Pückler behauptet irgendwo, die Konsumtion der Seife in einem Lande sei der richtigste Maßstab für den Kulturzustand desselben. Je mehr Seife, desto mehr Bildung, je weniger Bildung, desto weniger Seife.

Diese Behauptung ist aber weiter nichts als ein Kompliment, das der Fürst sich und seinem Stande macht. Der Fürst weiß, daß die Aristokratie mehr Seife verbraucht als die anderen Stände und will ihr den größten Bildungsgrad vindizieren. Ich weiß nun nicht, wie oft sich die deutsche Aristokratie einseift und wie häufig sie die Wäsche wechselt; daß sie aber die deutsche Bildung weder ausschließlich verbreitet noch ausschließlich in sich aufnimmt, weiß in Deutschland jeder, der nicht zur deutschen Aristokratie gehört. Der Fürst Pückler, der indirekt behauptet, daß Professoren und Seifensieder sich gegenseitig in die Hand arbeiten, hätte mit ebensoviel Recht behaupten können, daß der Bildungsgrad eines Landes nach der Anzahl der Sporen bestimmt werden müßte, die dort getragen werden.

Doch ein deutscher Fürst, er mag zu den regierenden oder zu den regierten gehören, behauptet gar viel, von dem die deutsche Philosophie sich nichts träumen läßt.

Was mich betrifft, so bin ich der Ansicht, daß man den Geist, den Charakter und die Bildung eines Volkes viel richtiger nach dessen Küche beurteilen kann. Die Neigungen des Magens stehen in viel näherer Beziehung zu dem Geiste, dem Herzen und der nationalen Eigentümlichkeit, als man gewöhnlich glaubt, 265 und die französische Küche ist von der englischen gerade und nur gerade so viel verschieden, als Franzosen und Engländer voneinander verschieden sind.

Ein halbwegs geübter Beobachter braucht kaum eine Woche in England zu sein, um in tausend Dingen den konservativen Tick der Engländer sogleich wahrzunehmen. Das Überkommen ist dem Engländer heilig; er hält fest daran mit einer Zähigkeit, die oft höchst komisch ist. So sind die Fenster an den englischen Häusern nicht wie bei uns mit Flügeln versehen und zum Öffnen und Schließen eingerichtet; die englischen Fenster werden vielmehr, wie ein Fallgatter an Festungstoren, hinauf und herab geschoben, so daß man beim Hinaussehen auf die Straße in ewiger Angst schwebt, geköpft zu werden. Diese guillotinartige Einrichtung der englischen Fenster befindet sich an allen Häusern ohne Ausnahme und ist selbst vielen Engländern so widerwärtig, daß die »Times« vor kurzem die Aufmerksamkeit des Publikums darauf hinlenkte und dasselbe aufforderte, in dieser Beziehung von dem Kontinente zu lernen. Aber ich bin fest überzeugt, daß die »Times« vor tauben Ohren gepredigt; denn der Engländer hat einen solchen Widerwillen gegen jede Neuerung, gegen jede Änderung, daß er sich nur dazu versteht, wenn er sich dazu verstehen muß, wenn er durch die unumgänglichste Notwendigkeit dazu gezwungen wird. Der größte Komfort des Engländers besteht in der Unveränderlichkeit seiner Einrichtungen.

So ist es in England Brauch und Sitte, daß kein Frauenzimmer, wessen Standes und Alters es auch sei, die Straße betrete, ohne einen Hut auf dem Kopfe zu haben. Diese Sitte wird so streng beobachtet, daß das 266 Töchterchen meines Hauswirtes, ein Kind von zehn Jahren, jedes Mal nach dem Hute griff, wenn es in den benachbarten Spezereiladen ging. Selbst das verworfenste Weib läßt sich nicht ohne Hut auf dem Kopfe in der Straße sehen. Wie komisch ist es nun, wenn man Frauenzimmer sieht, die einen Samthut auf dem Kopfe tragen, aber ohne Schuhe und Strümpfe durch den Kot waten! Es gibt kein Bettelweib in London ohne eine solche Kopfbedeckung. Daß unter solchen Umständen diese Hüte weder von außerordentlicher Eleganz noch in rosiger Jugendblüte, versteht sich von selbst. Auf dem Kontinente wird jedes Frauenzimmer, so dürftig sie auch sein mag, doch zuerst für eine solide Fußbekleidung sorgen, und in Frankreich sucht auch die Allerärmste sich eine anständige, wo möglich schöne Chaussure zu verschaffen; aber ich bin fest überzeugt, daß die eben erwähnte lächerliche und unpraktische Sitte in diesem Jahrhundert noch nicht abgeschafft wird.

In gewissen Schulen Londons tragen die Zöglinge noch dieselbe Kleidung, die sie zur Zeit Eduards des Sechsten getragen: Schnallenschuhe, safrangelbe Strümpfe und Hosen, einen langen, bis auf die Füße reichenden Priesterrock, einen ledernen Gürtel um die Lenden und Bäffchen am Halstuche, was den Buben ein ganz pfäffisches Aussehen verleiht. Die Priester der Justiz tragen noch immer Perücken mit derselben Unterscheidung in der Zahl der Zöpfe, wie ehedem. Die Toten werden noch großenteils in der Stadt begraben, wie vor einem Jahrtausend, und die Leichenbitter tragen noch dieselbe Kleidung wie vor Jahrhunderten.

Ob dieses starre Festhalten am Überkommenen, ob diese Abneigung gegen jede Neuerung eine Tugend 267 oder ein Laster sei, soll hier nicht untersucht werden; genug, es springt jedem in die Augen.

Nirgend aber spricht sich jener konservative Tick des Engländers und sein eigentümlicher Charakter so deutlich aus wie in der englischen Küche. Die englische Küche ist noch heute wie vor Jahrhunderten gewesen. Sie hat keine neuen Ideen aufgenommen, sie hat keine Revolutionen erlitten, sie hat kaum einige Reformen erfahren. Die englische Küche hat weder philosophische noch poetische Gedanken. In ihr wird das Fleisch nie Geist, und sie ist nicht auf den Appetit, sondern auf den Hunger berechnet. Sie will nicht reizen, sie will gründlich sättigen, und sie hat es nie mit der Phantasie, sondern einzig und allein mit dem Magen zu tun. Man muß ein echt englisches Steak gesehen haben, um diese Behauptung wahr zu finden.

Als mir zum ersten Male in einer City-Taverne ein Rumpsteak vorgesetzt wurde, erfaßte mich ein gewaltiges Erstaunen. Dieses Steak war so groß, daß man bei uns eine kleine Familie damit hätte sättigen können. Es maß ungefähr einen Quadratfuß und ragte zu beiden Seiten über den Teller hinaus. Ich glaubte anfangs, der Kellner müßte sich geirrt haben, und betrachtete ihn mit fragenden Blicken; mein Erstaunen zu vermehren, fragte er mich aber, ob ich auch Brot wünschte? Als ich es natürlich bejahte, brachte er mir ein Stückchen Brot, das jede Dame als Brosche hätte tragen können, so winzig war es.

Der Engländer ist kein Brotesser wie sein Nachbar diesseits des Kanals; der Engländer verschmäht überhaupt alles, was seinen Magen im geringsten täuschen kann. Brot ist ihm nur ein Lückenbüßer, weiter nichts. 268 Er ißt auch keine Suppe und ist kein Freund von Vegetabilien. Fleisch ist ihm die Hauptsache, und die Hauptsache beim Fleisch ist ihm die große Quantität desselben. Ich glaube, daß die Nibelungenhelden nicht mehr und nicht anders gegessen haben, als die Engländer jetzt essen. Die Kultur, die alle Welt beleckt, hat sich auf die englische Küche noch nicht erstreckt. Die Kochkunst, die von sehr vielen Menschen zu den schönen Künsten gerechnet wird, kennt der Engländer gar nicht. In seiner Küche ist weder Kunst noch Wissenschaft, sondern schlichte Natureinfalt. Die Fleischmassen, die auf einen englischen Tisch kommen, sind nur etwas weniger als roh. Zwischen den Ochsen, der auf der Weide frißt, und das Rindfleisch, das auf der Tafel ist, hat sich kein kunsteifriger Koch gedrängt. Der Metzger und das Feuer sind die zwei Hauptfaktoren in der englischen Küche. Diese patriarchalische Einfalt mag sehr gesund sein; aber es gehört ein englischer Magen dazu. Ausländer haben daher bei ihrem ersten Aufenthalt in England viel von der englischen Küche zu leiden, und manche geraten dadurch in eine wahre Verzweiflung. Eine solche Verzweiflung hat sich eines Flüchtlings bemächtigt, den die königlich-preußische Regierung wegen seiner demokratischen Bestrebungen verurteilt hat, über das, was er in Volksversammlungen gesprochen, einige Zeit in Spandau nachzudenken. Dieser Flüchtling hatte anfangs das unbefestigte London dem wohlbefestigten Spandau vorgezogen; aber ach! die englische Freiheit bot ihm keinen Ersatz für die deutsche Küche. Das Heimweh nach vaterländischem Sauerkraut lag schwer auf seinem Gemüte und drohte seine Gesundheit zu zerrütten, und er zog es vor, der königlich-preußischen 269 Justiz in den Rachen zu laufen und nicht länger die halbrohen Steaks der Verbannung zu essen.

Der Engländer lebt nicht, um zu essen; er ißt nur, um zu trinken. Den Cayennepfeffer, der imstande ist, eine Feuersbrunst in den Eingeweiden zu erregen, genießt er mit einer Behaglichkeit, als ob es Zucker wäre. Welch ein feuerfester Magen gehört nicht dazu, um Mockturtle zu essen! Mockturtle ist eine heuchlerische Schildkrötensuppe, eine Suppe, die wie eine Schildkrötensuppe zubereitet und so dick ist, daß man sie mit Messer und Gabel essen kann. Eine solche Suppe ist weiter nichts als gepfeffertes Fegfeuer; man kann Schwefelhölzer daran anzünden. Aber der Engländer schüttet sich gewöhnlich noch Cayennepfeffer dazu. Wieviel Stout, Porter oder Ale dazugehört, um die Flammen zu löschen, die die scharf gewürzten Speisen in den Eingeweiden entzünden, davon kann man sich bei uns kaum einen Begriff machen.

Brillat-Savarin sagt: »L'Anglais mange, le Français seul sait manger.« Das ist vielleicht die einzige unbestreitbare Wahrheit, die in bezug auf die beiden Nationen gesagt worden. Dem Franzosen ist selbst das Essen eine Art geistiger Unterhaltung. Die französische Küche ist reich an guten Einfällen und witzigen Gedanken. Dem Franzosen kommt es niemals auf die Quantität, sondern auf die Mannigfaltigkeit an; denn ebensowenig wie sein Geist, hat sein Appetit Geduld genug, bei einem und demselben Gegenstande lange zu verweilen. Ein französischer Speisezettel enthält daher tausenderlei Dinge, und ein Ausländer braucht in Paris wenigstens einen Monat gründlicher Studien und eifriger Nachforschungen, um einen solchen Küchenzettel zu verstehen. Dem Engländer aber 270 ist das Essen weiter nichts als die Befriedigung seines Hungers. Wenn der Engländer ißt, so ißt er mit einer Gründlichkeit, die jeden oberflächlichen Witz verschmäht. Er kennt keine kulinarischen Lappalien; wenn ein Stück Rindfleisch auf eine englische Tafel kommt, so erzittert die Tafel unter der ungeheuern Last. Ein englischer Küchenzettel hat kaum den achten Teil soviel Artikel wie die englische Kirche, ist aber ebenso stereotyp wie diese.

Der Franzose nascht, selbst wenn er ißt; der Engländer aber ißt, wenn er nur naschen will. Naschen, diese geistreiche Spielerei hyperkultivierter Zungen, kennt der Engländer gar nicht; man wird daher dieses Wort in einem englischen Wörterbuche vergebens suchen.

Wie verschieden der Genius beider Nationen ist, kann man deutlich an dem sehen, was sie sich in kulinarischen Dingen abborgen. Der Franzose, der seit einigen Jahren das Beefsteak eingeführt, wie lächerlich macht er sich damit in den Augen eines Engländers! Ein Pariser Beefsteak verhält sich zu einem echt englischen Beefsteak, wie sich die Landgrafschaft Hessen-Homburg zu Großbritannien verhält. Es ist so niedlich, daß es sich auf dem Teller verliert. Ein Dutzend französischer Beefsteaks machen kaum ein englisches aus; und ich glaube, daß ein wahrhafter Engländer mehr als ein Dutzend davon essen kann, ohne sich sonderlichen Zwang anzutun.

Der Engländer borgt nun zwar wenig oder gar nichts von dem Franzosen, weil er dazu, wie gesagt, zuviel Vorliebe für seine alten Gewohnheiten hat; wo er aber von der französischen Küche etwas aufnimmt, verenglischt er es dermaßen, daß man den französischen Ursprung kaum wahrnimmt. Er vergrößert es so, daß in 271 der Quantität die ursprüngliche Qualität verschwindet. Ja, der Engländer, der eine Antipathie gegen den Franzosen hat, nennt diesen »frogeater«, Froschesser, und glaubt dadurch das Unsolide und Oberflächliche in dem Charakter seines Nachbars auf der andern Seite des Kanals am besten anzudeuten.

Wenn ein Engländer vom Tische aufsteht, so ist er satt; und wenn er satt ist, weiß er warum. Er hintergeht seinen Magen nicht.

Daß hier von der Mittelklasse die Rede ist, versteht sich von selbst; denn die unteren Klassen haben oft leider gar keine Küche, und den höheren Klassen ist die englische Küche zu roh. In jedem vornehmen englischen Hause ist ein französischer Koch. Die Königin geht hierin der Aristokratie mit gutem Beispiel voran. Der Erste Koch Ihrer Majestät, Monsieur Moret, chef de la cuisine de Sa Majesté britannique, hat achthundert Pfund Sterling jährliches Gehalt, ein Gehalt, das weder in Frankreich noch in Deutschland der Erste Professor hat. Monsieur Moret hat noch mehrere Künstler unter sich, die seine genialen Ideen ausführen. Dieses Gehalt ist, beiläufig gesagt, für den Koch einer englischen Königin viel zu hoch, da in England die Krone kein anderes Recht hat, als die Rechte des Volkes zu schützen und aufrechtzuerhalten. In absolut regierten Staaten aber ist es für das Volk viel wichtiger, daß der Fürst einen guten Koch denn einen guten Minister habe.

Nach der Ansicht vieler Philosophen und einer berühmten Schriftstellerin nämlich hat jedes Glück und Unglück, haben alle Tugenden und Laster nur in der guten oder schlechten Verdauung ihren Ursprung. In England nun liegt sehr wenig daran, wenn die 272 Königin sich den Magen verdirbt; denn ihre Minister sind verantwortlich. Aber wenn einer der deutschen Fürsten, die trotz der Konstitutionen unverantwortliche Ministerien haben und die, je beschränkter sie sind, desto unumschränkter herrschen, wenn einer der deutschen Fürsten, sag ich, sich den Magen verdirbt, so sind die traurigen Folgen davon gar nicht zu berechnen. Wer weiß, ob nicht alle Hinrichtungen und Einkerkerungen, alle grausamen Verfolgungen und Hochverratsprozesse, von denen seit dritthalb Jahren Deutschland heimgesucht wird, ihre Ursache in den fürstlichen Küchen haben! Das deutsche Volk mag sich noch sooft den Magen verderben, es wird die deutschen Fürsten wenig anfechten; leidet aber ein deutscher Fürst nur einen Tag an Unverdaulichkeit, so hat die deutsche Polizei alle Hände voll zu tun. Ja, wenn in Deutschland eine fürstliche Zunge belegt ist, so lallt die Zunge an der Waage der Gerechtigkeit höchst unvernünftig; und ein Katzenjammer in einem deutschen Palaste kann ein Jammer für viele Millionen Deutsche werden. Das deutsche Volk sollte also beten, daß es den deutschen fürstlichen Küchen niemals an guten Köchen fehle; auf das, was die Minister und Geheimen Staatsräte kochen, kommt es gar nicht an.

Der Engländer rühmt sich selbst, ein Matter-of-fact-Mensch zu sein. Alles Abstrakte, alles Ideelle widerstrebt seinem Genius. Der Engländer denkt mit den Händen, wenn ich mich so ausdrücken darf. Er muß greifen können, was er begreifen soll. Kaufmann von Natur, verschmäht er alles, was sich nicht aufs genaueste berechnen läßt. Er hat einen Widerwillen gegen das Experimentieren, und deshalb hält er oft selbst das Schlechte fest, solange das Bessere ihm nicht 273 so nahe liegt, daß er nur darnach zu greifen braucht, um es sich anzueignen. Wo ein bestimmtes Ziel ihm vor Augen schwebt, strebt er darnach, und wenn es auch noch so fern wäre. Aber er geht nie aus, um ein Ziel zu suchen. Ist der Engländer überzeugt, daß sich eine Schwierigkeit überwinden läßt, so schreckt er nicht davor zurück und überwindet sie endlich; ja, er wird sogar dadurch gereizt, alle seine Kräfte anzustrengen, um den Sieg davonzutragen. Aber er wird sich nur dann anstrengen, wenn ein praktischer Vorteil seine Bemühungen zu lohnen verspricht. Aus Ehrgeiz, aus Ruhmsucht aber tut er nichts, auch nicht das allergeringste. Der Engländer ist kein Himmelstürmer, und kein Baum hat so wenig Wert für ihn als der Lorbeerbaum.

Bei solchen Anlagen ist es ganz natürlich, daß er das, was er tut, gründlich und praktisch tut. Da nun aber Essen und Trinken das Allerpraktischste ist, was der Mensch auf dieser Erde tun kann, so zeigt der Engländer darin am meisten, daß er Engländer ist. Seine Tafelfreuden sind keine erheuchelten Freuden, keine süßen Illusionen. Die Poesie des Essens kennt er nicht, sondern nur die Prosa desselben. Sein Magen hat keine poetischen Gefühle, aber er ist gesund, und zwar so gesund, daß wir schwache Kontinentalmenschen fast schon satt werden, wenn wir einen echten Engländer essen sehen.

 


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