Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Jugend / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Die ganze Beschäftigung dieses Mannes ging während dieser Zeit dahin, mit seinem Schneiderhandwerke seine Bedürfnisse zu erwerben; (denn er gab für sich und sein Kind wöchentlich ein erträgliches Kostgeld ab an seine Eltern) und dann, alle Neigungen seines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit abzielten, zu dämpfen; endlich aber auch seinen Sohn in eben den Grundsätzen zu erziehen, die er sich als wahr und festgegründet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr stund er auf, und fing an zu arbeiten; um sieben weckte er seinen Henrichen, und beim ersten Erwachen erinnerte er ihn freundlich an die Gütigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch von seinen Engeln bewachen lassen. »Danke ihm dafür, mein Kind!« sagte Wilhelm, indem er den Knaben ankleidete. War dieses geschehen, so mußte er sich in kaltem Wasser waschen, und dann nahm ihn Wilhelm bei sich, schloß die Kammer zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Knie, und betete mit der größten Inbrunst des Geistes zu Gott, wobei ihm die Tränen oft häufig zur Erde flossen. Dann bekam der Junge sein Frühstück, welches er mit einem Anstand und Ordnung verzehren mußte, als wenn er in Gegenwart eines Prinzen gespeiset hätte. Nun mußte er ein kleines Stück im Katechismus lesen, und vor und nach auswendig lernen; auch war ihm erlaubt, alte anmutige und einem Kinde begreifliche Geschichten, teils geistliche, teils weltliche, zu lesen, als da war: der Kaiser Oktavianus mit seinen Weib und Söhnen; die Historie von den vier Haimonskindern; die schöne Melusine und dergleichen. Wilhelm erlaubte niemalen dem Knaben mit andern Kindern zu spielen, sondern er hielt ihn so eingezogen, daß er im siebenten Jahr seines Alters noch keine Nachbarskinder, wohl aber eine ganze Reihe schöner Bücher kannte. Daher kam es denn, daß seine ganze Seele anfing sich mit Idealen zu belustigen; seine Einbildungskraft ward erhöht, weil sie keine andere Gegenstände bekam, als idealische Personen und Handlungen. Die Helden alter Romanzen, deren Tugenden übertrieben geschildert wurden, setzten sich unvermerkt, als so viel nachahmungswürdige Gegenstände in sein Gemüt feste, und die Laster wurden ihm zum größesten Abscheu; doch aber, weil er beständig von Gott und frommen Menschen reden hörte, so wurde er unvermerkt in einen Gesichtspunkt gestellt, aus dem er alles beobachtete. Das erste wornach er fragte, wenn er von jemand etwas las oder reden hörte, bezog sich auf seine Gesinnung gegen Gott und Christum. Daher, als er einmal Gottfried Arnolds »Leben der Altväter« bekam, konnte er gar nicht mehr aufhören zu lesen, und dieses Buch, nebst Reitzens »Historie der Wiedergebornen«, blieb sein bestes Vergnügen in der Welt, bis ins zehnte Jahr seines Alters; aber alle diese Personen, deren Lebensbeschreibungen er las, blieben so fest in seiner Einbildungskraft idealisiert, daß er sie nie in seinem Leben vergessen hat.

Am Nachmittag, von zwo bis drei Uhr, oder auch etwas länger, ließ ihn Wilhelm in den Baumhof und Geisenberger Wald spazieren; er hatte ihm daselbst einen Distrikt angewiesen, den er sich zu seinen Belustigungen zueignen, aber über welchen er nicht weiter ohne Gesellschaft seines Vaters hinausgehen durfte. Diese Gegend war nicht größer, als Wilhelm aus seinem Fenster übersehen konnte, damit er ihn nie aus den Augen verlieren möchte. War denn die gesetzte Zeit um, oder wenn sich auch ein Nachbarskind Henrichen von weiten näherte, so pfiff Wilhelm, und auf dieses Zeichen war er den Augenblick wieder bei seinem Vater.

Diese Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Waldes, der an den Hof grenzte, wurde von unserm jungen Knaben also täglich bei gutem Wetter besucht, und zu lauter idealischen Landschaften gemacht. Da war eine ägyptische Wüste, in welcher er einen Strauch zur Höhle umbildete, in welche er sich verbarg und den heiligen Antonius vorstellte, betete auch wohl in diesem Enthusiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunn' der Melusine; dort war die Türkei, wo der Sultan und seine Tochter, die schöne Marcebilla, wohnten; da war auf einem Felsen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte usw. Nach diesen Örtern wallfahrte er täglich, kein Mensch kann sich die Wonne einbilden die der Knabe daselbst genoß; sein Geist floß über, er stammelte Reimen und hatte dichterische Einfälle. So war die Erziehung dieses Kindes beschaffen bis ins zehnte Jahr. Eins gehört noch hierzu. Wilhelm war sehr scharf; die mindeste Übertretung seiner Befehle bestrafte er aufs schärfeste mit der Rute. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewisse Schüchternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht für den Züchtigungen suchte er seine Fehler zu verhehlen und zu verdecken, so daß er sich nach und nach zum Lügen verleiten ließ; eine Neigung die ihm zu überwinden bis in sein zwanzigstes Jahr viele Mühe gemacht hat. Wilhelms Absicht war, seinen Sohn beugsam und gehorsam zu erziehen, um ihn zu Haltung göttlicher und menschlicher Gesetze fähig zu machen; und eine gewissenhafte Strenge führte, deuchte ihn, den nächsten Weg zum Zwecke; und da konnte er gar nicht begreifen, woher es doch käme, daß seine Seligkeit, die er an den schönen Eigenschaften seines Jungens genoß, durch das Laster der Lügen, auf welchem er ihn oft ertappte, so häßlich versalzen würde. Er verdoppelte seine Strenge, besonders wo er eine Lüge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter nichts aus, als daß Henrich alle erdenkliche Kunstgriffe anwendete seine Lügen wahrscheinlicher zu machen; und so wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte der Knabe nicht daß es ihm gelung, so freute er sich und dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieses zu seiner Ehrenrettung sagen; er log nicht, als nur dann, wann er Schläge damit abwenden konnte.

Der alte Stilling sah alles dieses ganz ruhig an. Die strenge Lebensart seines Sohnes beurteilte er nie; lächelte aber wohl zuweilen und schüttelte die grauen Locken, wann er sah, wie Wilhelm nach der Rute griff, weil der Knabe etwas gegessen oder getan hatte, das gegen seinen Befehl war. Dann sagte er auch wohl in Abwesenheit des Kindes: »Wilhelm! wer nicht will, daß seine Gebote häufig übertreten werden, der muß nicht viel befehlen. Alle Menschen lieben die Freiheit.« »Ja«, sagte Wilhelm dann, »so wird mir aber der Junge eigenwillig.« »Verbeut du ihm«, erwiderte der Alte, »seine Fehler, wann er sie eben begehen will, und unterrichte ihn warum; hast du es aber vorhin verboten, so vergißt der Knabe die vielen Gebote und Verbote, fehlt immer, du aber mußt dein Wort handhaben, und so gibt's immer Schläge.« Wilhelm erkannte dieses, und ließ vor und nach die mehresten Regeln in Vergessenheit kommen; er regierte nun nicht mehr so sehr nach Gesetzen, sondern ganz monarchisch; er gab seinen Befehl immer wenn's nötig war, richtete ihn nach den Umständen ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr soviel gezüchtigt, seine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter, freier und edler.

Henrich Stilling wurde also ungewöhnlich erzogen, ganz ohne Umgang mit andern Menschen; er wußte daher nichts von der Welt, nichts von Lastern, er kannte gar keine Falschheit und Ausgelassenheit; beten, lesen und schreiben war seine Beschäftigung; sein Gemüt war also mit wenigen Dingen angefüllt: aber alles was darin war, war so lebhaft, so deutlich, so verfeinert und veredelt, daß seine Ausdrücke, Reden und Handlungen sich nicht beschreiben lassen. Die ganze Familie erstaunte über den Knaben, und der alte Stilling sagte oft: »Der Junge entfleugt uns, die Federn wachsen ihm größer, als je einer in unserer Freundschaft gewesen; wir müssen beten, daß ihn Gott mit seinem guten Geist regieren wolle.« Alle Nachbarn, die wohl in Stillings Hause kamen, und den Knaben sahen, verwunderten sich; denn sie verstunden nichts von allem was er sagte, ob er gleich gut deutsch redete. Unter andern kam einmal Nachbar Stähler hin, weilen er von Wilhelmen ein Kamisol gemacht haben wollte; doch war wohl seine Hauptabsicht dabei, unter der Hand sein Mariechen zu versorgen; denn Stilling war im Dorf angesehen, und Wilhelm war fromm und fleißig. Der junge Henrich mochte acht Jahr' alt sein; er saß in einem Stuhl und las in einem Buch, sah seiner Gewohnheit nach ganz ernsthaft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in seinem Leben stark gelacht hatte. Stähler sah ihn an und sagte: »Henrich was machst du da?«

»Ich lese.«

»Kannst du denn schon lesen?«

Henrich sah ihn an, verwunderte sich und sprach: »Das ist ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Mensch.« – Nun las er hart, mit Leichtigkeit, gehörigem Nachdruck und Unterscheidung. Stähler entsetzte sich und sagte: »Hol' mich der T... so was hab ich mein Lebtag nicht gesehn.« Bei diesem Fluch sprang Henrich auf, zitterte und sah schüchtern um sich; wie er endlich sah daß der Teufel ausblieb, rief er: »Gott, wie gnädig bist du!« – trat darauf vor Stählern und sagte: »Mann! habt Ihr den Satan gesehen?« »Nein«, antwortete Stähler. »So ruft ihm nicht mehr«, versetzte Henrich, und ging in eine andere Kammer.

Das Gerücht von diesem Knaben erscholl weit umher; alle Menschen redeten von ihm und verwunderten sich. Selbst der Pastor Stollbein wurde neugierig ihn zu sehen. Nun war Henrich noch nie in der Kirche gewesen, hatte daher auch noch nie einen Mann mit einer großen weißen Perücke und feinen schwarzen Kleide gesehen. Der Pastor kam nach Tiefenbach hin, und weil er vielleicht eh' in ein ander Haus gegangen war, so wurde seine Ankunft in Stillings Hause vorhin ruchtbar, wie auch warum er gekommen war. Wilhelm unterrichtete seinen Henrichen also, wie er sich betragen müßte, wenn der Pastor käme. Er kam dann endlich, und mit ihm der alte Stilling. Henrich stund an der Wand grad auf, wie ein Soldat der das Gewehr präsentiert; in seinen gefaltenen Händen hielt er seine aus blauen und grauen tuchenen Lappen zusammengesetzte Mütze, und sah dem Pastor immer starr in die Augen. Nachdem sich Herr Stollbein gesetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet hatte, drehte er sich gegen die Wand, und sagte: »Guten Morgen Henrich!« –

»Man sagt guten Morgen sobald man in die Stube kommt.«Stollbein merkte mit wem er's zu tun hatte, daher drehte er sich mit seinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: »Kannst du auch den Katechismus?«

»Noch nicht all.«

»Wie noch nicht all, das ist ja das erste was die Kinder lernen müssen.«

»Nein, Pastor, das ist nicht das erste; Kinder müssen erst beten lernen, daß ihnen Gott Verstand geben möge, den Katechismus zu begreifen.«

Herr Stollbein war schon im Ernst ärgerlich, und eine scharfe Strafpredigt an Wilhelmen war schon ausstudiert; doch diese Antwort machte ihn stutzig. »Wie betest du denn?« fragte er ferner.

»Ich bete: ›Lieber Gott! gib mir doch Verstand, daß ich begreifen kann, was ich lese.‹«

»Das ist recht, mein Sohn, so bete fort!«

»Ihr seid nicht mein Vater.«

»Ich bin dein geistlicher Vater.«

»Nein, Gott ist mein geistlicher Vater; Ihr seid ein Mensch, ein Mensch kann kein Geist sein.«

»Wie, hast du denn keinen Geist, keine Seele?«

»Ja freilich! wie könnt Ihr so einfältig fragen? Aber ich kenne meinen Vater.«

»Kennst du denn auch Gott, deinen geistlichen Vater?«

Henrich lächelte. »Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?«

»Du kannst ihn ja doch nicht sehen.«

Henrich schwieg, und holte seine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Pastor den Spruch Röm. I. V. 19. und 20.

Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinausgehen, und sagte zu dem Vater: »Euer Kind wird alle seine Voreltern übertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Rute zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt.«

Wilhelm hatte noch immer seine Wunde über Dortchens Tod; er seufzte noch beständig um sie. Nunmehr nahm er auch zuweilen seinen Knaben mit nach dem alten Schloß, zeigte ihm seiner verklärten Mutter Tritte und Schritte, alles was sie hier und da geredet und getan hatte. Henrich verliebte sich so in seine Mutter, daß er alles was er von ihr hörte, in sein eignes verwandelte, welches Wilhelmen so wohl gefiel, daß er seine Freude nicht bergen konnte.


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