Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Jugend / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Beinahe anderthalb Jahr war Henrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag nachmittag ihren Mann ersuchte, mit ihr nach dem Geisenberger Schlosse zu spazieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeschlagen. Er ging mit ihr. Sobald sie in den Wald kamen, schlungen sie sich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Bäume, und dem vielfältigen Zwitschern der Vögel den Berg hinauf. Dortchen fing an:

»Was meinst du, Wilhelm, sollte man sich wohl im Himmel kennen?«

»O ja! liebes Dortchen! Christus sagt ja, von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schoße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hölle; daher glaub ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen.«

»O Wilhelm! wie sehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kummer, in lauter himmlischer Lust und Vergnügen werden beieinander sein! Mich dünkt auch immer, ich könnte im Himmel ohne dich nicht selig sein. Ja, lieber Wilhelm! gewiß! gewiß werden wir uns da kennen! Hör einmal, ich wünsche das nun so herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das so wünschet; er würde es nicht so gemacht haben, wenn ich unrecht wünschte, und wenn es nicht so wäre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menschen suchen, und dann werd ich selig sein!«

»Wir wollen uns beieinander begraben lassen, so brauchen wir nicht lange zu suchen.«

»O möchten wir doch in einem Augenblick sterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge?«

»Der würde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und endlich zu uns kommen.«

»Ich würde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden würde.«

»Höre, Dortchen! du bist schon lange her, so besonders schwermütig gewesen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, du machst mich mit dir betrübt. Warum bist du so gern mit mir allein! Meine Schwestern glauben, du habest sie nicht lieb.«

»Doch liebe ich sie recht von Herzen.«

»Du weinst oft, als wenn du mißmutig wärest; das tut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Hast du etwas auf dem Herzen, liebes Kind – das dich quält? Sag es mir. Ich werde dir Ruhe schaffen, es koste auch was es wolle.«

»O nein! ich bin nicht mißmutig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unsere Eltern und Schwestern lieb, ja, ich habe alle Menschen lieb. Aber ich will dir sagen, wie es mir ist. Wenn ich im Frühling sehe, wie alles aufgeht, die Blätter an den Bäumen, die Blumen und die Kräuter, so ist mir, als wenn es mich gar nicht anginge; es ist mir dann, als wenn ich in einer Welt wäre, worin ich nicht gehörte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder dürres Kraut finde, dann werden mir die Tränen los, und mir wird so wohl, so wohl, daß ich es dir nicht sagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonsten machte mich das alles betrübt, und ich war nie fröhlicher, als im Frühling.«

»Ich kenne das nicht. Soviel aber ist doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht.«

Indem sie so redeten, kamen sie zu den Ruinen des Schlosses auf die Seite des Berges, und empfanden die kühle Luft vom Rhein her, und sahen wie sie mit den langen dürren Grashalmen und Efeublättern an den zerfallenen Mauren spielte und darum pfiff. »Hier ist recht mein Ort«, sagte Dortchen, »hier müßt' ich wohnen. Erzähle mir doch noch einmal die Geschichte vom Johann Hübner, der hier auf dem Schlosse gewohnt hat. Laß uns aber hier auf den Wall gegen die Mauren über sitzen. Ich dürfte um die Welt nicht zwischen den Mauern sein, wenn du das erzählest, denn ich graue immer, wenn ich's höre.« Wilhelm erzählte:

»Auf diesem Schlosse haben vor alters Räuber gewohnt, die gingen des Nachts ins Land umher, stahlen den Leuten das Vieh und trieben es dort in den Hof; da war ein großer Stall; und hernach verkauften sie's weit weg an fremde Leute. Der letzte Räuber, der hier gewohnt hat, hieß Johann Hübner. Er hatte eiserne Kleider an, und war stärker, als alle andere Bursche im ganzen Lande. Er hatte nur ein Auge, und einen großen krausen Bart und Haare. Am Tage saß er mit seinen Knechten, die alle sehr stark waren, dort an der Ecke, wo du noch das zerbrochene Fensterloch siehst; da hatten sie eine Stube, da saßen sie und soffen Bier. Johann Hübner sah mit dem einen Auge sehr weit durchs ganze Land umher. Wenn er dann einen Reuter sahe, da rief er: ›Hehloh! – da reitet ein Reuter! ein schönes Roß, Hehloh!‹ Und dann gaben sie acht auf den Reuter, nahmen ihm das Roß und schlugen ihn tot. Da war aber ein Fürst von Dillenburg, der schwarze Christian genannt, ein sehr starker Mann; der hörte immer von Johann Hübners Räubereien; denn die Bauern kamen und klagten über ihn. Dieser schwarze Christian hatte einen klugen Knecht, der hieß Hanns Flick; den schickte er über Land, dem Johann Hübner aufzupassen. Der Fürst aber lag hinten im Giller, den du da siehst, und hielt sich da mit seinen Reutern verborgen; dahin brachten ihm auch die Bauern Brot und Butter und Käse. Hanns Flick kannte den Johann Hübner nicht. Er streifte im Lande herum, und fragte ihn aus. Endlich kam er an eine Schmiede, wo Pferde beschlagen wurden. Da stunden viele Wagenräder an der Wand, die auch beschlagen werden sollten. Auf dieselbe hatte sich ein Mann mit dem Rücken gelehnt, der hatte nur ein Auge und ein eisernes Wams an. Hanns Flick ging bei ihm und sagte: ›Gott grüß dich, eiserner Wamsmann mit einem Auge! heißest du nicht Johann Hübner vom Geisenberg?‹ Der Mann antwortete: ›Johann Hübner vom Geisenberg liegt auf dem Rad.‹ Hanns Flick verstunde das Rad auf dem Gerichtsplatz, und sagte: ›War das kürzlich?‹ ›Ja‹, sprach der Mann, ›erst heut.‹ Hanns Flick glaubte doch nicht recht, und blieb bei der Schmiede, und gab auf den Mann acht, der auf dem Rade lag. Der Mann sagte dem Schmied ins Ohr: Er sollte ihm sein Pferd verkehrt beschlagen, so daß das vorderste Ende des Hufeisens hinten käme. Der Schmied tat es, und Johann Hübner ritt weg. Wie er aufsaß, sagte er dem Hanns Flick: ›Gott grüß' dich, braver Kerl! sage deinem Herrn: Er solle mir Fäuste schicken, aber keine Leute die hinter den Ohren lausen.‹ Hanns Flick blieb stehen, und sah, wo er übers Feld in den Wald ritt, lief ihm nach, um zu sehen, wo er bliebe. Er wollte seiner Spur nachgehen, Johann Hübner aber ritt hin und her, die Kreuz und Quer, und Hanns Flick wurde bald in den Fußtapfen des Pferdes irre; denn, wo er hingeritten war, da gingen die Fußtapfen zurück; darum verlor er ihn bald, und wußte nicht, wo er geblieben war. Endlich aber ertappte ihn doch Hanns Flick, wie er mit seinen Knechten dort auf der Heide im Wald lag und geraubt Vieh hütete. Es war in der Nacht am Mondschein. Er lief und sagte es dem Fürsten Christian; der ritt in der Stille mit seinen Kerlen unten durch den Wald. Sie hatten den Pferden Moos unter die Füße gebunden, kamen auch nahe bei ihm, sprangen auf ihn zu, und sie kämpften zusammen. Fürst Christian und Johann Hübner hieben sich auf die eisernen Hüte und Wämsger, daß es klang; endlich aber blieb Johann Hübner tot, und der Fürst zog hier ins Schloß. Den Johann Hübner begruben sie da unten in die Ecke, und der Fürst legte viel Holz um den großen Turm, auch untergruben sie ihn. Er fiel am Abend um, wie die Tiefenbacher die Kühe molken; das ganze Land zitterte umher von dem Fall. Da siehst du noch den langen Steinhaufen, den Berg hinab; das ist der Turm, wie er gefallen ist. Noch jetzo spukt hier des Nachts zwischen eilf und zwölf Uhr Johann Hübner mit dem einzigen Auge. Er sitzt auf einem schwarzen Pferd und reitet um den Wall herum. Der alte Neuser, unser Nachbar, hat ihn oft gesehn.« Dortchen zitterte, und fuhr zusammen, wenn ein Vogel aus einem Strauch in die Höhe flog. »Ich höre die Erzählung noch immer gern«, sagte sie; »wenn ich hier so sitze, und wenn ich es noch zehnmal höre, so werde ich es doch nicht müde. Laß uns ein wenig um den Wall spazieren.« Sie gingen zusammen um den Wall und Dortchen sang:

Es leuchten drei Sterne über ein Königes Haus.
    Drei Jungfräulein wohnten darin : :
Ihr Vater war weit über Land hinaus
    Auf ein'm weißen Rösselein.
            Sternelein blinzet zu Leide.

»Siehst du es, das weiße Rößlein, noch nicht,
    Ach Schwesterlein, untig im Tal?« : :
»Ich seh es, mein's Vaters Rösselein, licht,
    Es trabet da mutig im Tal.«
            Sternelein blinzet zu Leide.

»Ich seh es, das Rößlein, mein Vater nicht drauf.
    Ach Schwesterlein! Vater ist tot! : :
Mein Herzel ist mir es betrübet.
    Wie ist mir der Himmel so rot!«
            Sternelein blinzet zu Leide.

Da trat ein Reuter im blutigen Rock
    Ins dunkle Kämmerlein klein : :
»Ach, blutiger Mann, wir bitten dich hoch,
    Laß leben uns Jungfräuelein.«
            Sternelein blinzet zu Leide!

»Ihr könnt nicht leben, ihr Jungfräulein zart;
    Mein Weiblein frisch und schön : :
Erstach mir eu'r Vater im Garten so hart,
    Ein Bächlein von Blut floß daher.«
            Sternelein blinzet zu Leide.

»Ich fand ihn, den Mörder, im Walde grün,
    Ich nahm ihm sein Rößlein ab : :
Und stach ihm das Messer ins Herze;
    Er fiel drauf den Felsen herab.«
            Sternelein blinzet zu Leide!

»Auch hattst du die liebe Mutter mein
    Getötet am hohligen Weg : :
Ach, Schwesterlein, lasset uns fröhlich sein!
    Wir sterben ja wundergern.«
            Sternelein blinzet zu Leide!

Der Mann nahm ein Messer scharf und spitz,
    Und stieß es den Jungfräulein zart : :
In ihr betrübtes Herzelein,
    Zur Erde fielen sie hart.
            Sternelein blinzet zu Leide!

Da fließet ein klares Bächelein hell
    Herunter im grünigen Tal : :
Fließ krumm herum, du Bächlein hell,
    Bis in die weite See!
            Sternelein blinzet zu Leide!

Da schlafen die Jungfräulein alle drei
    Bis an den Jüngsten Tag : :
Sie schlafen da in kühliger Erd'
    Bis an den Jüngsten Tag.
            Sternelein blinzet zu Leide!

Nun begann die Sonne unterzugehen, und Dortchen mit ihrem Wilhelm hatten recht die Wonne der Wehmut gefühlt. Wie sie den Wald hinabgingen, durchdrang ein tödlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, und es ward ihr sauer Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber. Wilhelm war Tag und Nacht bei ihr. Nach vierzehn Tagen sagte sie des Nachts um zwölf Uhr zu Wilhelmen: »Komm, lege dich zu Bette.« Er zog sich aus, und legte sich zu ihr. Sie faßte ihn in ihren rechten Arm, er lag mit seinem Kopf an ihre Brust. Auf einmal wurde er gewahr, daß das Pochen ihres Pulses nachließ, und dann wieder ein paarmal klopfte. Er erstarrte und rief seelzagend: »Mariechen! Mariechen!« Alles wurde wacker und lief herzu. Da lag Wilhelm und empfing Dortchens letzten Atemzug in seinen Mund. Sie war nun tot. Wilhelm war betäubt, und seine Seele wünschte nicht wieder zu sich selbst zu kommen; doch endlich stieg er aus dem Bette, weinte und klagte laut. Selbst Vater Stilling und seine Margrethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen fest zu, und schluchzeten. Es sah betrübt aus, wie die beiden alten Grauköpfe naß von Tränen zärtlich auf den verblichenen Engel blickten. Auch die Mädchen weinten laut, und erzählten sich untereinander alle die letzten Worte und Liebkosungen die ihnen ihre selige Schwägerin gesagt hatte.


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