Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Jugend / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Wilhelm Stilling hatte mit seinem Dortchen in der stark bevölkerten Landschaft allein gelebt; nun war sie tot und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in der Welt lebte. Seine Eltern und Geschwister waren um ihn, ohne daß er sie bemerkte. In dem Gesichte seines verwaiseten Kindes, sahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des Abends schlafen ging, so fand er sein Zimmer still und öde. Oft glaubte er den rauschenden Fuß Dortchens zu hören, wie sie ins Bette stieg. Er fuhr dann ineinander, Dortchen zu sehen, und sah sie nicht. Er durchdachte alle Tage die sie miteinander gelebet hatten, fand in jedem ein Paradies, und verwunderte sich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne gejauchzt hatte. Dann nahm er seinen Henrichen in die Arme, weinte ihn naß, drückte ihn an seine Brust, und schlief mit ihm. Dann träumte er oft, wie er mit Dortchen im Geisenberger Wald spaziere, wie er so froh sei, daß er sie wieder habe. Im Traum fürchtete er wacker zu werden, und dennoch erwachte er: seine Tränen wurden dann neu und sein Zustand war trostlos. Vater Stilling sah das alles, und doch tröstete er seinen Wilhelmen niemals. Margarethe und die Mädchen versuchten es oft, aber sie machten nur übel ärger; denn, alles beleidigte Wilhelmen, was nur dahin zielte ihn aus seiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber gar nicht begreifen wie es doch möglich sein könnte, daß ihr Vater gar keine Mühe anwendete Wilhelmen aufzumuntern. Sie vereinigten sich daher ihren Vater dazu zu ermahnen, sobald Wilhelm einmal im Geisenberger Wald herumirren, und seines Dortchens Gänge und Fußtritte aufsuchen und beweinen würde. Das tat er oft, und daher währete es nicht lange, bis sie Gelegenheit fanden ihr Vorhaben auszuführen. Margarethe nahm es auf sich, sobald der Tisch abgetragen und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an seinen Zähnen stocherte, und grade vor sich hin auf einen Fleck sah. »Ebert«, sagte sie, »warum lässest du den Jungen so herumgehen? du nimmst dich seiner gar nicht an, redest ihm nicht ein wenig zu, sondern tust als wenn er dich gar nichts anginge. Der arme Mensch sollte vor lauter Traurigkeit die Auszehrung bekommen.« »Margret«, antwortete der Alte lächelnd, »was meinst du wohl, daß ich ihm sagen könnte, ihn zu trösten? Sag ich ihm, er sollte sich zufriedengeben, sein Dortchen sei im Himmel, sie sei selig: so kommt das eben heraus, als wenn dir jemand alles, was du auf der Welt am liebsten hast, abnähme, und ich käme dann her und sagte: ›Gib dich zufrieden! deine Sachen sind ja wohl verwahrt, über sechzig Jahr bekommst du sie ja wieder, es ist ein braver Mann der sie hat usw.‹ Würdest du nicht recht bös auf mich werden und sagen: ›Wo leb ich aber die sechzig Jahr von?‹ Soll ich Dortchens Fehler all aufzählen, und suchen, ihn zu überreden, er habe nichts so gar Kostbares verloren: so würde ich ihre Seele beleidigen, ein Lügner oder Lästrer sein, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde machen; er würde alle ihre Tugenden dagegen aufzählen, und ich würde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen aufsuchen? Das müßte just ein Dortchen sein, und doch würd' es ihm vor ihr ekeln. Ach! es gibt kein Dortchen mehr!« – Ihm zitterten die Lippen und seine Augen waren naß. Nun weinten sie wieder alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte.

Bei diesen Umständen war Wilhelm nicht imstande sein Kind zu versorgen, oder sonst etwas Nützliches zu verrichten. Margarethe nahm also ihren Enkel in völlige Verpflegung, futterte und kleidete ihn auf ihre altfränkische Manier aufs reinlichste. Die Mädchen gängelten ihn, lehrten ihn beten und andächtige Reimchen hersagen, und wenn Vater Stilling samstags abends aus dem Walde kam und sich bei den Ofen gesetzt hatte, so kam der Kleine gestolpert, suchte auf seine Knien zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn gesparte Butterbrot; mauste auch wohl selbsten im Quersack um es zu finden; es schmeckte ihm besser als sonst der allerbeste Reisbrei Kindern zu tun pfleget, wiewohl es allezeit von der Luft hart und vertrocknet war. Dieses vertrocknete Butterbrot verzehrte Henrich auf seines Großvaters Schoß, wobei ihm derselbe entweder das Lied: »Gerberli hieß mein Hühneli«; oder auch: »Reuter zu Pferd, da kommen wir her«, vorsang, wobei er immer die Bewegung eines trabenden Pferds mit dem Knie machte. Mit einem Wort! Vater Stilling hatte den Kunstgriff in seiner Kindererziehung, er wußte alle Augenblick eine neue Belustigung für Henrichen, die immer so beschaffen waren, daß sie seinem Alter angemessen, das ist, ihm begreiflich waren; doch so, daß immer dasjenige, was den Menschen ehrwürdig sein muß, nicht allein nicht verkleinert, sondern gleichsam im Vorbeigang groß und schön vorgestellt wurde. Dadurch gewann der Knabe eine Liebe zu seinem Großvater die über alles ging; und daher hatten denn die Begriffe, die er ihm beibringen wollte, Eingang bei ihm. Was ihm sein Großvater sagte, das glaubte er ohne weiteres Nachdenken.

Die stille Wehmut Wilhelms verwandelte sich nun vor und nach in eine gesprächige und vertrauliche Traurigkeit. Nun sprach er wieder mit seinen Leuten; ganze Tage redeten sie von Dortchen, sangen ihre Lieder, besahen ihre Kleider, und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an ein Wonnegefühl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden zu schmecken der über alles ging, wenn er sich vorstellte, daß über kurze Jahre auch ihn der Tod würde abfordern, wo er denn, ohne einiges Ende zu befürchten, ewig in Gesellschaft seines Dortchens die höchste Glückseligkeit, deren der Mensch nur fähig ist, würde zu genießen haben. Dieser große Gedanke zog eine ganze Lebensänderung nach sich, wozu folgender Vorfall noch ein großes mit beitrug. Etliche Stunden von Tiefenbach ab, war ein großes adeliges Haus, welches durch eine Erbschaft an einen gewissen Grafen gefallen war. Auf diesem Schloß hatte sich eine Gesellschaft frommer Leute eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbseidenen Stoffen unter sich angelegt, wovon sie sich nähreten. Was nun kluge Köpfe waren, die die Moden und den Wohlstand in der Welt kannten, oder mit einem Wort, wohllebende Leute, die hatten gar keinen Geschmack an dieser Einrichtung. Sie wußten, wie schimpflich es in der großen Welt wäre, sich öffentlich zu Jesu Christo zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, worinnen man sich ermahnte dessen Lehre und Leben nachzufolgen. Daher waren denn auch diese Leute in der Welt verachtet, und hatten keinen Wert; sogar fanden sich Menschen, die wollten gesehen haben, daß sie auf ihrem Schlosse allerhand Greuel verübten, wodurch dann die Verachtung noch größer wurde. Mehr konnte man sich aber nicht ärgern, als wenn man hörte: daß diese Leute über solche Schmach noch froh waren, und sagten, daß es ihrem Meister ebenso ergangen. Unter dieser Gesellschaft war einer namens Niclas, ein Mensch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte Theologie studiert, dabei aber die Mängel aller Systeme entdeckt, auch öffentlich dagegen geredet und geschrieben; weswegen er ins Gefängnis gelegt, hernach aber daraus wieder befreiet worden, und mit einem gewissen Herrn lange auf Reisen gewesen war. Er hatte sich, um ruhig und frei zu leben, unter diese Leute begeben, und da er von ihrem Handwerk nichts verstund, so trug er ihre verfertigte Zeuge weit umher feil, oder, wie man zu sagen pflegt, er ging damit hausieren. Dieser Niclas war oft in Stillings Hause gewesen; weil er aber wußte, wie feste man daselbst an den Grundsätzen der reformierten Religion und Kirche hinge, so hatte er sich nie herausgelassen; zu dieser Zeit aber, da Wilhelm Stilling anfing aus dem schwärzesten Kummer sich loszuwinden, fand er Gelegenheit mit ihm zu reden. Dieses Gespräch ist wichtig; darum will ich es hier beifügen, so wie mir's Niclas selbsten erzählt hat.

Nachdem sich Niclas gesetzt, fing er an: »Wie geht's Euch nun Meister Stilling, könnt Ihr Euch auch in das Sterben Eurer Frau schicken?«

»Nicht zu wohl! das Herz ist noch so wund daß es blutet; doch fange ich an mehrern Trost zu finden.«

»So geht's, Meister Stilling, wenn man mit seinen Begierden sich zu sehr an etwas Vergängliches anfesselt. Und wir sind gewiß glücklicher wenn wir Weiber haben, als hätten wir keine. Wir können sie von Herzen lieben; allein wie nützlich ist es doch auch, wenn man sich übet, auch diesem Vergnügen abzusterben, und es zu verleugnen; gewiß wird uns denn der Verlust nicht so schwerfallen.«

»Das läßt sich recht gut predigen, aber tun, tun, leisten, halten, das ist eine andere Sache.«

Niclas lächelte und sagte: »Freilich ist es schwer, besonders wenn man ein solches Dortchen gehabt hat; doch aber wenn's nur jemand ein Ernst ist, ja wenn nur jemand glaubt, daß die Lehre Jesu Christi zur höchsten Glückseligkeit führet, so wird's einem ernst. Alsdenn ist es wirklich so schwer nicht, als man sich's vorstellt. Laßt mich Euch die ganze Sache kürzlich erklären. Jesus Christus hat uns eine Lehre hinterlassen, die der Natur der menschlichen Seele so angemessen ist, daß sie, wann sie nur befolgt wird, notwendig vollkommen glücklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Weltweisen durchgehen, so finden wir eine Menge Regeln, die so zusammenhängen, wie sie sich ihr Lehrgebäude geformt hatten. Bald hinken sie, bald laufen sie, und dann stehen sie still; nur die Lehre Christi, aus den tiefsten Geheimnissen der menschlichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiset, dem der es recht einsieht, vollkommen, daß ihr Verfasser den Menschen selber müsse gemacht haben, indem er ihn bis auf den ersten Grundtrieb kannte. Der Mensch hat einen unendlichen Hunger nach Vergnügen, nach Vergnügen, die imstande sind ihn zu sättigen, die immer was Neues ausliefern, die eine unaufhörliche Quelle neuer Vergnügen sind. In der ganzen Schöpfung finden wir keine von solcher Art. Sobald wir ihrer durch den Wechsel der Dinge verlustig werden, so lassen sie eine Qual zurück, wie Ihr zum Exempel bei Eurem Dortchen gewahr worden. Dieser göttliche Gesetzgeber wußte, daß der Grund aller menschlichen Handlungen die wahre Selbstliebe sei. Weit davon entfernt, diesen Trieb, der viel Böses anrichten kann, zu verdrängen, so gibt er lauter Mittel an die Hand, denselben zu veredlen und zu verfeinern. Er befiehlt, wir sollen andern das beweisen, was wir wünschen, daß sie uns beweisen sollen; tun wir nun das, so sind wir ihrer Liebe gewiß, sie werden uns wohltun und viel Vergnügen machen, wenn sie anders keine böse Menschen sind. Er befiehlt, wir sollen die Feinde lieben; sobald wir nun einem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, so wird er gewiß auf das äußerste gefoltert, bis er sich mit uns ausgesöhnt hat; wir selbsten aber genießen bei der Ausübung dieser Pflichten, die uns nur im Anfang ein wenig Mühe kosten, einen innern Frieden, der alle sinnliche Vergnügen weit übertrifft. überdas ist der Stolz eigentlich die Quelle aller unserer gesellschaftlicher Laster, alles Unfriedes, Hasses und Störens der Ruhe. Wider diese Wurzel alles Übels nun ist kein besser Mittel, als obige Gesetze Jesu Christi. Ich mag mich für jetzo nicht weiter darüber erklären; ich wollte Euch nur so viel sagen: daß es wohl der Mühe wert sei, Ernst anzuwenden, der Lehre Christi zu folgen, weil sie uns dauerhafte und wesentliche Vergnügen verschaffet, die uns im Verlust anderer die Waage halten können.«

»Sagt mir doch dieses alles vor, Freund Niclas! ich muß es aufschreiben, ich glaube daß es wahr ist, was Ihr sagt.«

Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem bißchen mehr oder weniger, und Wilhelm schrieb es auf, so wie er's ihm vorsagte.

»Aber«, fuhr er fort, »wenn wir durch die Nachfolge der Lehre Christi selig werden, wofür ist dann sein Leiden und Sterben? Die Prediger sagen ja, wir könnten die Gebote nicht halten, sondern wir würden nur durch den Glauben an Christum und durch sein Verdienst gerecht und selig.«

Niclas lächelte und sagte: »Davon läßt sich all einmal weiter reden. Nehmt's nur eine Weile so, daß wie er uns durch sein heiliges reines Leben, da er in der Gnade vor Gott und den Menschen hinwandelte, eine freie Aussicht über unser Leben, über die verworrne Erdhändel verschafft hat, daß wir durch einen Blick auf ihn mutig werden, und offen der Gnade die über uns waltet, zur größern Einfalt des Herzens, mit der man überall durchkommt, so hat er auch, sag ich, sein Kreuz hin in die Nacht des Todes gepflanzt, wo die Sonne untergeht und der Mond sein Licht verliert, daß wir dahinaufblicken, und ein ›Gedenke mein!‹ in demütiger Hoffnung rufen. So werden wir durch sein Verdienst selig, wenn Ihr wollt; denn er hat sich die Freiheit der Seinen vom ewigen Tod scharf und sauer genug verdient, und so werden wir durch den Glauben selig, denn der Glaube ist Seligkeit. Laßt Euch indessen das all nicht anfechten, und seid im Kleinen treu, sonst werdet ihr im Großen nichts ausrichten. Ich will Euch ein paar Blätter hierlassen, die aus dem Französischen des Erzbischofs Fenélon übersetzt sind; sie handeln von der Treue in kleinen Dingen; auch will ich Euch die ›Nachfolge Christi‹ des Thomas von Kempis mitbringen, Ihr könnt da weiter Nachricht bekommen.«

Ich kann nicht eigentlich sagen, ob Wilhelm aus wahrer Überführung diese Lehre angenommen, oder ob der Zustand seines Herzens so beschaffen gewesen, daß er ihre Schönheit empfunden, ohne ihre Wahrheit zu untersuchen. Gewiß, wenn ich mit kaltem Blut den Vortrag dieses Niclasens durchdenke, so find ich daß ich nicht alles reimen kann, aber im Ganzen ist's doch herrlich und gut.

Wilhelm kaufte von Niclasen einige Ellen Stoff, ohne sie nötig zu haben, und da nahm der gute Prediger sein Bündel auf den Nacken und ging, doch mit dem Versprechen, bald wiederzukommen; und gewiß wird Niclas den ganzen Giller durch Gott recht herzlich für die Bekehrung Wilhelms gedankt haben. Dieser nun fand eine tiefe unwiderstehliche Neigung in seiner Seele, die ganze Welt dranzugeben und mit seinem Kinde oben im Hause auf einer Kammer allein zu wohnen. Seine Schwester Elisabeth wurde an einen Leineweber Simon an seine Stelle ins Haus verheuratet, er aber bezog seine Kammer, schaffte sich einige Bücher an, die ihm von Niclas vorgeschlagen wurden, und so verlebte er daselbst mit seinem Knaben viele Jahre.


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