Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Jugend / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Der alte Stilling stund vor der Türe, mit bloßem Haupt; seine schönen grauen Haare spielten am Mund; er lächelte den Herrn Pastor an, und sagte, indem er ihm die Hand gab: »Ich freue mich, daß ich in meinem Alter den Herrn Pastor an meinem Tisch sehen soll; aber ich würde so kühn nicht gewesen sein, wenn meine Freude über einen Enkel nicht so groß wäre.« Der Pastor wünschte ihm Glück, doch mit angehängter wohlmeinender Drohung, daß, wenn ihn nicht der Fluch des Eli treffen sollte, er mehr Fleiß auf die Erziehung seiner Kinder anwenden müßte. Der Alte stund da in seinem Vermögen und lächelte, doch schwieg er stille und führte Seine Ehrwürden in die Stube. »Ich will doch nicht hoffen«, sagte der Herr Pastor, »daß ich hier unter dem Schwarm von Bauren speisen soll.« Vater Stilling antwortete: »Hier speist niemand, als ich und meine Frau und Kinder, ist Euch das ein Baurenschwarm?« »Ei, was anders!« antwortete jener. »So muß ich Euch erinnern, Herr!« – versetzte Stilling, »daß Ihr nichts weniger als ein Diener Christi, sondern ein Pharisäer seid. Er saß bei den Zöllnern und Sündern, und aß mit ihnen. Er war überall klein und niedrig und demütig. Herr Pastor!... meine grauen Haare richten sich in die Höhe; setzt Euch oder geht wieder. Hier pocht etwas, ich möchte mich sonst an Eurem Kleide vergreifen, wofür ich doch sonsten Respekt habe. ... Hier! Herr! hier vor meinem Hause ritt der Fürst vorbei; ich stund da vor meiner Tür; er kannte mich. Da sagte er: ›Guten Morgen, Stilling!‹ Ich antwortete: ›Guten Morgen, Ihr Durchlaucht!‹ Er stieg vom Pferd, er war müde von der Jagd. ›Holt mir einen Stuhl‹, sprach er, ›hier will ich ein wenig ruhen.‹ ›Ich habe eine luftige Stube‹, antwortete ich, ›gefällt es Ihro Durchlaucht in die Stube zu gehen, und da bequem zu sitzen?‹ ›Ja!‹ sagt er. Der Oberjägermeister ging mit hinein. Da saß er, wo ich Euch meinen besten Stuhl hingestellt habe. Meine Margrethe mußte ihm fette Milch einbrocken und ein Butterbrot machen. Wir beiden mußten mit ihm essen, und er versicherte, daß ihm niemalen eine Mahlzeit so gut geschmeckt habe. Wo Reinlichkeit ist, da kann ein jeder essen. Nun entschließt Euch, Herr Pastor! – Wir alle sind hungrig.« Der Pastor setzte sich und schwieg still. Da rief Stilling allen seinen Kindern, aber keines wollte kommen, auch selber Margrethe nicht hinein. Sie füllte dem Prediger ein irdenes Kümpchen mit Hühnerbrüh', gab ihm einen Teller Kappes mit einem hübschen Stück Fleisch und einem Krug Bier. Stilling trug es selber auf; der Pastor aß und trank geschwind, redete nichts, und ging wieder nach Florenburg. Nun setzte sich alles zu Tische. Margrethe betete, und man speisete mit größtem Appetit. Auch selbst die Kindbetterin saß an Margrethens Stelle mit ihrem Knaben an der Brust. Denn Margrethe wollte ihren Kindern selbst dienen. Sie hatte ein sehr feines weißes Hemd, welches noch ihr Brauthemd war, angezogen. Die Ärmel davon hatte sie bis hinter die Ellenbogen aufgewickelt. Von feinem schwarzen Tuch hatte sie ein Leibchen und Rock, und unter der Haube stunden graue Locken hervor, schön gepudert von Ehre und Alter. Es ist würklich unbegreiflich, daß während der ganzen Mahlzeit nicht ein Wort vom Pastor geredt wurde; doch halte ich davor, die Ursache war, daß Vater Stilling nicht davon anfing.

Indem man so dasaß und mit Vergnügen speiste, klopfte eine arme Frau an die Türe. Sie hatte ein klein Kind auf dem Rücken in einem Tuch hängen, und bat um ein Stücklein Brot. Mariechen war hurtig. Die Frau kam in zerlumpten besudelten Kleidern, die aber doch die Form hatten, als wenn sie ehemals einem vornehmen Frauenzimmer zugehört hätten. Vater Stilling befahl, man sollte sie an die Stubentüre sitzen lassen, und ihr von allem etwas zu essen geben. »Dem Kinde kannst du etwas Reisbrei zu essen darreichen, Mariechen«, sagte er ferner. Sie aß und es schmeckte ihr herzlich gut. Nachdem nun sie und ihr Kind satt waren, dankte sie mit Tränen und wollte gehen. »Nein!« sagte der alte Stilling, »sitzet und erzählet uns, wo Ihr her seid, und warum Ihr so gehen müßt. Ich will Euch auch Bier zu trinken geben.« Sie setzte sich und erzählte.

»Ach lieber Gott!« sprach sie. »Leider ja! muß ich so gehen (Stillings Mariechen hatte sich neben sie, doch etwas von ihr abgesetzt, sie horchte mit größter Aufmerksamkeit, auch waren ihre Augen schon feucht). Ich bin ja leider ein armes Mensch. Vor zehn Jahren möchtet Ihr Leute Euch wohl eine Ehre draus gemacht haben, wann ich mit Euch gespeist hätte.«

Wilhelm Stilling. »Das wäre!«

Johann Stilling. »Es sei denn, daß Ihr eine Stollbeinische Natur gehabt hättet.«Vater Stilling. »Seid still, Kinder! Lasset die Frau reden!«

»Mein Vater ist Pastor zu –«Mariechen. »Jemini! Euer Vater ein Pastor?« (Sie rückt näher.)»Ach ja! Freilich ist er Pastor. Ein sehr gelehrter und reicher Mann.«

Vater Stilling. »Wo ist er Pastor?«

»Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja!«

Johann Stilling. »Das muß ich doch auf der Landkarte suchen. Das muß nicht weit vom Mühlersee sein, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu.

»Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei, der Schlendrian heißt.«

Mariechen. »Unser Johann sagte nicht Schlendrian. Wie sagtest du?«

Vater Stilling. »Redet Ihr fort! St! Kinder!«

»Nun war ich dazumal eine hübsche Jungfer, hatte auch schöne Gelegenheiten zu heiraten (Mariechen besah sie vom Haupt bis zum Fuß.) allein keiner war meinem Vater recht. Der war ihm nicht reich genug, der andere nicht vornehm genug, der dritte ging nicht viel in die Kirche.«

Mariechen. »Sage, Johann, wie heißen die Leute die nicht in die Kirche gehen?«

Johann Stilling. »St! Mädchen! Separatisten.«

»Gut! was soll mir geschehn, ich sahe wohl, ich würde keinen bekommen, wann ich mir nicht selber hülfe. Da war ein junger Barbiergesell. –«

Mariechen. »Was ist das, ein Barbiergesell?«

Wilhelm Stilling. »Schwesterchen, frag hernach um alles. Laß jetzt nur die Frau reden. Es sind Bursche die den Leuten den Bart abmachen.«

»Das bitte ich mir aus, hat sich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem besten Doktor, kurieren. Ach ja! viel, viel Kuren tat er. Kurz, ich ging mit ihm fort. Wir setzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß.«

Johann Stilling. »Ja, da liegt es. Ein paar Meilen herauf, wo die Milder hineinfließt.«»Ja, da liegt's. Ich unglückliches Mensch! – Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewissen Leuten Umgang hatte.«

Mariechen. »Waret ihr schon kopuliert?«

»Wer wollte uns kopulieren? lieber Gott! O ja nicht! – (Mariechen rückte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frauen ab) Ich wollte es absolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war. –« Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief was sie laufen konnte.

Vater Stilling, seine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzählung abbrach und davonlief. Es gehörte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Ursachen einzusehen. Ein jeder gab seine Stimme, doch waren alle Ursachen zweifelhaft. Das vernünftigste Urteil, und zugleich auch das wahrscheinlichste, war wohl, daß der Frauen von dem vielen und ungewohnten Essen etwas übel geworden, und man beruhigte sich auch dabei. Vater Stilling zog aber, seiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieser Erzählung, daß es am besten sei, seinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzuprägen, und dann im gehörigen Alter ihnen die freie Wahl im Heuraten zu vergönnen, wenn sie nur so wählten, daß die Familie nicht wirklich dadurch geschimpft würde. »Ermahnen«, sagte er, »müssen freilich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr, wenn der Mensch sein männliches Alter erreicht hat; er glaubt alsdenn alles so gut zu verstehen als seine Eltern.«

Während dieser weisen Rede, wobei alle Anwesenden höchst aufmerksam waren, saß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und sahe starr gerade vor sich hin. »Hum!« sagte er, »alles, was die Frau erzählt hat, scheint mir verdächtig. Im Anfang sagte sie, ihr Vater wäre Pastor zu... zu...«

Mariechen. »Zu Holdingen im Barchinger Land.«

»Ja, da war es. Und am Ende sagte sie, ihr Vater sei ein Schuhflicker gewesen.« Alle Anwesende schlugen die Hände zusammen, und entsetzten sich sehr. Nun erkannte man, warum die Frau weggelaufen war; man entschloß sich also, an jeder Türe und Öffnung im Hause vorsichtige Klinken und Klammern zu machen, und das wird auch niemand der Stillingschen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zusammenhang der Dinge einzusehen gelernt hat.

Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht sagen. Sie säugte ihren Henrich alle Augenblicke, denn das war nun einmal ihr alles. Der Junge war auch hübsch dick und fett. Die erfahrenste Nachbarinnen konnten schon gleich nach der Geburt in dem Gesichte des Kindes eine völlige Ähnlichkeit mit seinem Vater entdecken. Besonders aber wollte man auch schon auf dem linken obern Augenlid die Grundlage einer künftigen Warze spüren, als welche der Vater daselbst hatte. Dennoch aber mußte eine verborgene Parteilichkeit alle Nachbarinnen zu diesem falschen Zeugnis bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der Mutter Gesichtszüge und ihr sanftes gefühliges Herz gänzlich.

Vor und nach verfiel Dortchen in eine sanfte Schwermut. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnügen mehr, aber auch an keinem Teile Verdruß. Sie genoß beständig die Wonne der Wehmut, und ihr zartes Herz schien sich ganz in Tränen zu verwandeln, in Tränen ohne Harm und Kummer. Ging die Sonne schön auf, so weinte sie, und betrachtete sie tiefsinnig; sprach auch wohl zuweilen: »Wie schön muß der sein, der sie gemacht hat!« Ging sie unter, so weinte sie. »Da gehet der tröstliche Freund wieder von uns«, sagte sie dann oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Dämmerung. Nichts aber war ihr rührender, als der Mond; sie fühlte dann was Unaussprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geisenberg. Wilhelm begleitete sie fast immer und redete sehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas Ähnliches in ihrem Charakter. Sie hätten die ganze Welt voll Menschen missen können, nur eins das andere nicht; dennoch empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen.


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