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Einunddreißigstes Kapitel.

Uebertrumpft.

 

Wie schade, daß ein starker, heller,
An Welterkenntniß reicher Geist
Nur für den alten Vogelsteller
Als lockender Lerchenspiegel gleißt!

 

Als Arnulf auf dem Rückwege von der Ahnengalerie gehört, welchen Gast er vorfinde, war er fast erschrocken stehen geblieben. Auf Hildegard's Frage, ob er sich scheue, dem Mann, aus dessen Lehrbann er sie zu lösen gewußt, auch persönlich die Spitze zu bieten, hatte er dann erwiedert:

»Bewahre! Ein ernsterer Grund machte mich stutzen. Gib Acht, ob Marpinger nicht heftig erschrickt, wann er meinen Namen hört. Nachher will ich Dir das erklären, Dir allein. Ich muß Dich ohnehin noch heut in Beschlag nehmen zu langem Gespräch unter vier Augen, zu Vorschlägen und Verabredungen von oberster Wichtigkeit, die weniger uns Beide, als Andere betreffen.«

Als das Paar eingetreten, sagte der Graf vorstellend:

»Herr Professor Marpinger – Herr Arnulf Sebald, unser Reisegefährte und Retter aus dem Schiffbruch …«

»Mein Verlobter,« fügte Hildegard hinzu.

Unvorbedacht leistete sie damit dem jäh aufzuckenden und erbleichenden Jesuiten eine hocherwünschte Nothhülfe. Indem er sich wie gratulirend verbeugte, gelang es ihm, seinen Schreck über die Anwesenheit eines der Verhörer des Küsters Spitzer für den Grafen wenigstens umzuheucheln in Ueberraschung, obgleich diese Brautschaft ihn gar nicht überraschte.

Arnulf hatte ihn dabei scharf beobachtet und konnte nicht umhin, seine Geistesgegenwart zu bewundern. Sie erinnerte ihn an einen Trapezkünstler, den er einst im Cirkus aus halsbrechender Höhe herunterstürzen, halbwegs zum Boden aber, als man ihn schon verloren geglaubt, noch das wegflatternde Ende des gerissenen Seils ergreifen gesehen; worauf er sogleich, an der Rechten hangend, mit triumphirendem Lächeln und einer grüßenden Bewegung der Linken die Zuschauer glauben gemacht, nicht ein vermiedenes Unglück, sondern ein vorbereitetes Meisterstück mit donnerndem Applaus belohnen zu sollen. Ebenso behend war der Professor hinausgeschlüpft aus der argen Verlegenheit seines verrätherischen Erschreckens. Ebenso sicher lächelnd ließ er sich nieder, um in gleich tadelloser wie unbefangener Haltung dem willkommenen Frühstück mit bestem Appetit zuzusprechen. Doch nahm Arnulf sich vor, diesen Mann mit eherner Stirn alsbald nochmals auf die Probe zu stellen. So frug er denn in der Eßpause nach der ersten Schüssel:

»Haben Sie schon davon gehört, Herr Professor, daß in der verflossenen Nacht in Odenburg ein Knabenraub versucht worden ist?«

»Allerdings,« erwiederte Marpinger ohne eine Spur von Beunruhigung. »Eben erst hab' ich berichtet, was ich erfahren über die näheren Umstände des glücklicherweise mißlungenen Streichs, dabei jedoch die Meinung gewonnen, daß dem Herrn Grafen die Wiederaufnahme dieses Themas kaum erwünscht sein dürfte.«

»Ja, lassen wir diesen Vorfall!« bemerkte Graf Udo mit gekrauster Stirn. »Zeige nun,« wandte er sich zu Hildegard, »zeige nun lieber dem Herrn Professor die vorhin verheißene hausbacken dingliche Illustration der Methode, harte Räthselnüsse zu knacken.«

Hildegard schob einen verdeckten Teller dicht vor den Professor und hob die silberne Stülpe hinweg.

»Diese Illustration,« sagte sie, »ist wirklich im allerstrengsten Wortsinn hausbacken. Sie sehen auf dem Teller ein sternstrahlig ausgebauchtes kleines Gefäß von Blech, daneben ein Bisquittörtchen. Nun bitt' ich, das Wunder zu konstatiren, wie ganz genau das Törtchen hineinpaßt in …«

»In die Form, in der es gebacken wurde,« vollendete Marpinger mit sicherstem Lächeln. »Die Nutzanwendung ist mir einleuchtend.«

»Ich brauch' also nicht erst zu erinnern an die Schlauchblüten des Kleehaupts und den Hummelrüssel, die sich zu einander wechselweise verhalten wie Gebäck und Backform?«

»Nein. Auch kein Wort zu verschwenden zum Bekenntniß, wen Sie vorhin gemeint mit dem starken und schönen, aus Amerika mitgebrachten Nußknacker. – Herr Doktor Sebald, ich war im Auditorio maximo als Zuhörer zugegen bei Ihrer Promotion. Die in musterhaft elegantem Latein abgefaßte Dissertation, deren Thesen Sie zu vertheidigen hatten, handelte von der Genealogie der Equiden, vom fossilen Tapir und noch an allen vier Füßen dreihufigen Hipparion an bis zu den Solidungulis, den Einhufern der Gegenwart, dem Quagga, Zebra, Esel und Pferde. Aus Ihrer so gründlichen als einleuchtenden Darstellung einer mir keinesweges neuen Lehre kannte ich Sie mithin längst als in der Wolle gefärbten Anhänger Darwin's. Als daher die Comtesse gestand, jenseits des atlantischen Ozeans meine Antipodin geworden zu sein, – womit sie sich übrigens im Irrthum befindet – da konnt' es mir nicht verborgen bleiben, wen sie meinte mit einer scherzhaften Bezeichnung, welche Ihnen, Herr Doktor, von anderen Lippen als denen Ihrer Braut, kaum gefallen dürfte. Sie wollte mit derselben lediglich ausdrücken, daß sie von Ihnen richtigere und bessere Lösungen des schwierigsten Räthsels der Natur erfahren habe, als von mir. Doch auch das ist zur Hälfte wenigstens irrig. Besser für sie waren vor mehr denn Jahresfrist die meinigen. Die größere Richtigkeit der Ihrigen zu bestreiten, fällt mir nicht ein. Vielmehr kann ich versichern, daß Fräulein Hildegard ganz dieselben zu rechter Zeit auch von mir würde gehört haben, wenn Sie mir nicht damit zuvorgekommen wären.«

»Sie sehen uns alle Drei höchlichst erstaunt,« entgegnete Arnulf, »und mich wohl am allermeisten. Denn für mich haben Sie eben in wenigen Worten genug gesagt, um sich mir gründlich vertraut zu erweisen mit der Descendenzlehre. Zwar nicht aus der Aeußerung, daß Sie selbst meine Braut von ihr zu unterrichten vorgehabt, darf ich schließen auf Ihr Einverständniß mit dieser Lehre, da Sie ja der eigenen Ueberzeugung nicht bedurften zum eifrigen und beredten Vortrag der entgegengesetzten, von ihr abgethanen Auslegung der Zweckmäßigkeit in der Natur. Aber Sie leugnen ja nicht, ihr beizupflichten; auch ist die Theorie der stufenweisen gesetzlichen Entwicklung des Kosmos und aller Wesen so unwiderstehlich einleuchtend, daß ein wohlorganisirter Kopf sie gar nicht kennen lernen kann, ohne ihr in allem Wesentlichen zustimmen zu müssen. Wie jedoch, frag' ich nun, wie verträgt sich mit dieser Ihrer Wissenschaft …«

»Mein Ultramontanismus, wollen Sie sagen, wie man ja die Kirchentreue und den diensteifrigen Gehorsam der Katholiken zu nennen gewohnt ist. Gestatten Sie mir eine Gegenfrage. Kennen Sie die Schriften des Pater Secchi, des berühmten Astronomen?«

»Jede Zeile derselben, und weiß, daß dieser edle Geist sich emporgeschwungen hat in den ungetrübten Aether der freien Forschung, wenn er auch dann und wann eine altfromme Phrase einflicht um sich Duldung zu sichern für die mittägliche Strahlenfülle derselben Offenbarungen, deren Dämmerblink und morgendlichen Aufgang Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen, Galilei im Kerker der Inquisition zu büßen bekam.«

»Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Für die Gegenwart könnt' ich zu diesem einen eine Menge anderer Belege dafür hinzufügen, daß die Kirche die Wissenschaft nicht fesselt noch ihre Fortschritte verleugnet. Auch bleibe für jetzt ununtersucht, in wie weit sie ehedem verpflichtet war, den Zutritt zum Baum der Erkenntniß zuweilen sogar mit Feuer und Schwert zu wehren. Sie thut es ja längst nicht mehr. Den zur Führung der Vorhut berufenen starken Geistern, auch wenn sie zu ihren Getreuen gehören, gestattet sie gern und sogar fördernd eigenhändig Früchte von ihm zu brechen, so weit sie hinauf zu langen vermögen, sogar die pfeffersaftigen des obersten Gipfels, mit denen sich geistige Kinder nur vergiften würden wie mit Tollkirschen. In schneller Abstufung freilich nach unten zu vermindert sich das Maß und die Auswahl, welche sie für gesund erachtet. Die Millionenmasse vollends, welche sie als treue Hirtin mit unerschöpflicher Geduld im Schritte der Schwächsten und Langsamsten den Weg zum Heile führt, um kein erlösbares Haupt der ihr anvertrauten Heerde zurück zu lassen, hält sie vom Selbstpflücken und lüsternen Alleskosten ab, so weit sie die Macht dazu besitzt und auch die Schule noch in ihrer Obhut hat. Weiß sie doch, daß die Wahrheit im unvermischten Rohzustande der Menge unverdaulich und, aus Naschgier versucht oder gar aufgedrungen, äußerst verderblich ist. Für diese bereitet sie selbst in ihren heiligen Gefäßen eine schwache Verdünnung des bekömmlichsten Fruchtsaftes, um dieselbe zumeist zu verwenden zum Anteigen des täglichen Brodes. – Ich merke schon, Herr Doktor, daß Sie ungeduldig zucken und daß Ihr Blut in Wallung geräth, weil ich mich damit bekenne zur ketzerischen Auflehnung gegen ein Dogma, das von seinen Gläubigen der Menschheit zwar nicht mit Feuer und Schwert, wohl aber mit einer Schulpraxis aufgedrängt wird, nicht minder fanatisch verblendet und grausam, als weiland die blutdürstige Proselytenmacherei des Islam: gegen das Dogma von der allbeglückenden Bildung und allein seligmachenden Wissenschaft. Aber ich kann nicht helfen, frank und frei heraus verurtheil' ich diesen die Gegenwart tyrannisch beherrschenden Wahn als den allerunheilvollsten Aberglauben. Er bedroht uns mit Katastrophen von noch niemals erlebter Furchtbarkeit. Bildung macht in einfacher Progression genußfähiger, damit aber in dreimal dreifacher anspruchsvoller auf Genuß, deßhalb niemals glücklicher. Allerhöchstens nicht glückzerstörend wirkt sie in den seltenen Fällen eines mit dem der Ansprüche schritthaltenden Wachsthums der Macht und Mittel, sie zu befriedigen. Was erblicken Sie ringsum, wenn Sie mit offenen Augen umherschauen? Hunderttausende unglücklicher Patienten der Ueberbildung und ihres unzertrennlichen Begleiters, des neidwüthigen Hungers nach den hoffnungslos versagten Genüssen einer unerreichbaren Gesellschaftsstufe. – Nicht mir kommt es in den Sinn, den Segen zu leugnen, den die Wissenschaft gestiftet und die Verbesserung des Menschenlooses durch die von ihr gelehrte Beherrschung der Natur. Aber sie sollte sich damit begnügen die Laien für die Praxis mit Rath zu versehen nach entdeckten Gesetzen. Gefahrvoll nenne ich die maßlose Vermehrung ihrer Jüngerschaft, verderblich das Unterfangen, ihre ganz und ohne Schaden nur den Forschern von Beruf erfaßliche Geheimkunde zu billiger Massenwaare entwürdigt auf den öffentlichen Markt zu werfen und dem Volk als popularisirtes Aufkläricht in Vorträgen oder Zeitungsgeschmier einzulöffeln.

Ein Uebermaß von Wissenskram
Macht sinnesschwach und willenslahm.

Das scheint ganz vergessen seit dem großen Siege, den – der Schulmeister gewonnen haben soll. Examenbewährte Hirnbelastung mit Notizen de rebus omnibus et quibusdam aliis ist und bleibt die Loosung trotz der ausnahmlosen Erfahrung, daß aus Musterschülern Nummer Eins cum laude noch niemals tüchtige Männer geworden sind. Was der Gymnasiast auch zu werden bestimmt sei, Richter, Arzt oder Pfarrer, die Buchstabenformeln des binomischen Lehrsatzes muß er am Schnürchen entwickeln, die römischen Kaiser von August bis Augustulus mit den Jahreszahlen ihrer Antritte hersagen können, womöglich auch an accentbestacheltem Griechisch die Unentbehrlichkeit der Brille erzielt haben, um die Reife zur Universität bescheinigt zu erhalten. Ihr alter Förster, Herr Graf, der bei fünfundsiebenzig Jahren die breitesten Gräben überspringt wie ein Windhund, nach Augenmaß den Holzgehalt jeder Eiche auf den Kubikfuß richtig schätzt und von Ihnen gerühmt wird als unvergleichlich in seinem Beruf, – er würde schwerlich das junge Nonnenräupchen und den Borkenkäfer auf sechzig Schritt erkennen, wenn er sich die Erlernung der ihm entbehrlichen Künste des Lesens und Schreibens nicht erspart hätte.«

»Herr Professor,« unterbrach endlich Arnulf diesen Redefluß, »Sie verstehen sehr geschickt abzuschweifen. Sie erwähnen schwere Schäden eines verkehrten Unterrichts, welche kein Verständiger leugnen kann. Aber mit unserer unweigerlichen Zustimmung zu diesem Urtheil wollen Sie den Schein gleicher Unwiderleglichkeit erschleichen für die Güte der Absicht Ihrer Kirche, einen riesigen Sonnenschirm aufzuspannen gegen das volle Tageslicht der Wissenschaft, um für das Gros des Menschengeschlechts womöglich die alte Nacht herzustellen, wenigstens aber eine Beschattung, dunkel genug, um in ihrem schwachen Dämmer die schmauchigen Kerzen auf ihren Altären und die qualmigen Fackeln in den Händen ihrer Priester wieder in die Augen fallen zu lassen als die hellsten und besten der Wegleuchten zur Führung des Lebens, wie vormals, da sie noch nicht zum kümmerlichen Rothgeflimmer erlöschender Kohle abgedämpft waren von der Strahlenfülle des Mittags. Zum Glück ist dieser Plan so märchenhaft kolossalisch, daß das unfragliche Gelüst schwerlich ein ernsthaftes Unternehmen gebären wird.«

»Warten wir's ab! Ihr Gleichniß übrigens kann ich acceptiren. Ja, die Kirche hält es für ihren Beruf, ein solcher Riesenschirm selbst zu sein. In sinnlicher Leibhaftigkeit ist ein solcher Schirm jedes ihrer Kirchengebäude. Ich darf ohne Zweifel annehmen, daß Sie auch unseren schmauchigen Kerzen und qualmigen Fackeln eine Beimischung wenigstens vom Lichte der Wahrheit nicht absprechen wollen. So hoff' ich auf Ihre Zustimmung, wenn ich diesen allegorischen Ausdruck mit einem andern zu ersetzen vorschlage. Nicht zur Glemzerhöhung erkünstelten Lichtes ausschließen will die überwölbende Kirche das Tageslicht, sondern den himmlischen Sonnenschein selbst, nur stimmungsvoll gefärbt und gemildert zur Erträglichkeit für Alle, auch die nicht adleräugigen, einströmen lassen durch heilige Bilder gemalter Fensterscheiben. – Haben Sie die unvermeidlichste der Kinderfragen jemals mit der strengen Wahrheit, oder nicht vielmehr stets mit einem beschwichtenden Märchen beantwortet? Aber der Masse des Volks, diesem ewigen Kinde von unermeßlicher, gehorchend segensreicher, entfesselt zur wahnsinnigen Jagd nach Genüssen utopischen Glückes, entsetzlicher, alles zermalmender Gigantenkraft, wollet ihr mit der Enthüllung unserer Herkunft den Rückfall in die Bestialität zum natürlichen Erbrecht stempeln? Ihr wollt ihr den letzten Zügel der sündlichen Gelüste abreißen? Die Furcht vor einem unentrinnbaren Gericht ist ihr, wenn überhaupt jemals, doch sicherlich noch auf Jahrhunderte hinaus nicht zu ersetzen mit dem Sittlichkeitsmotiv der allerauserlesensten Geister: daß jede Handlung nicht nur in ihren natürlichen und gesellschaftlichen Folgen, sondern schon im eigenen verdammenden oder lobenden Bewußtsein ihre Höllenpein oder ihre Paradiesesfreude mit sich bringt. Sie wollet ihr entfremden der Kirche, die allein noch vermag, sie zu versöhnen mit ihrem ewig unabwendbaren Erdenloose und sie die darbende Dienstbarkeit, zu welcher die ungeheuere Mehrheit immerdar verurtheilt bleiben wird, in Geduld ertragen zu lehren? Ihr treibt sie in der That gewaltsam hinaus aus diesem von Uns mühsam vertheidigten Gottesfrieden, indem ihr derselben die mit der ewigen Wahrheit nur eben angemachte kirchliche Kinderspeise, die Allegorieen und Wunder der heiligen Geschichte und die Symbolik des Ceremoniells, bis zum Ekel verleidet mit eurem trunken machenden destillirten Spiritus. Denn weit über ihre Fassungskraft geht es ja, was auch den Feldherrn und Obersten der Kirchenarmee klärlich bewußt ist: daß wirklich euer Spiritus die Heilsessenz der Kirchenkost bildet. Kann ich's unumwundener bekennen, daß wir einverstanden sind mit eurer Wissenschaft? Nicht eure Lehre, nur ihre Erträglichkeit für Alle bestreiten wir und halten ihre zelotische Verbreitung für unsäglich unheilvoll, ja, für verrucht. Verdammt der Arzt das Sonnenlicht und will er es auslöschen, wenn er eben operirte Augen erst mit einer Binde, später mit einer dunkeln Brille beschützt? Ihr aber seid Staarstecher, welche die noch wunde Iris dem Mittagsgestirn preisgeben. Für die Koryphäen der Menschheit unterschreiben auch wir die höchste Vergeistigung der Unsterblichkeitslehre. Es ist grandios, aus ihr nicht die Hoffnung auf Fortdauer des Individuums zu schöpfen, das einer solchen gar nicht werth sei, sondern das schwerste Pflichtgebot: gegenwärtig unsterblich zu sein, indem wir würdig der Granden der Menschheit handeln, deren Bestes in uns fortlebe und uns dadurch erst zu Menschen erhebe. Aber wir zweifeln, ob jemals die Zeit kommen wird, in der es frommen kann, am Ostertage statt der Auferstehung Christi diese Auslegung zu predigen, sind hingegen darüber nicht in Zweifel, daß eine solche schon jetzt gehaltene Predigt hart an's Verbrechen streift.«

Arnulf zuckte zornblickend. Ein Verdacht war ihm aufgeblitzt. Mit dem Vorsatz jedoch, sich Gewißheit zu verschaffen, wußte er sich schnell zu beherrschen und wieder eine ironisch lächelnde Miene anzunehmen.

Dem Professor war diese Regung nicht entgangen. Sein eifergeröthetes Gesicht entfärbte sich. Um dies verrathene, zu späte Bedauern, daß er sich unvorsichtig hatte hinreißen lassen zu den letztgesprochenen Sätzen, möglichst zu vertuschen, nahm er seine Zuflucht zu einem Citat und einem damit eingeleiteten nachdrucksvollen Schluß:

»So vergißt man,« rief er nach kurzer Pause, »den Spruch Schiller's:

›Weh' Denen, die dem ewig Blinden
Des Lichtes Himmelsfackel leih'n;
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
Und äschert Städt' und Länder ein.‹

Wie recht er hat, das ist schon ersichtlich genug. Wohin hat euer mitleidloses Aufklären bereits geführt? Zu den Revolver- und Bombenattentaten des Nihilismus, zum organisirten Raubmord der Anarchistenbande, zum gräßlichen Minenkrieg, der gegen die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung schon schreckenvoll eröffnet ist von der bestialen Wuth der Dynamitarden.«

»Herr Professor,« nahm jetzt Arnulf das Wort, »was ich zugeben muß von Ihren Vorwürfen und was ich Triftiges gegen dieselben einzuwenden hatte, das will ich unerörtert lassen, um lediglich meiner Bewunderung Ihrer Aufrichtigkeit und meiner Ueberraschung Ausdruck zu geben, ein so ungeahnt großes Einverständniß zu entdecken zwischen uns, den Männern der Wissenschaft, und Ihnen, dem so berühmten als eifrigen Kämpfer für die römische Kirche. Ich wollte, Sie wären von dieser autorisirt zu Ihren Bekenntnissen, was mir leider der Syllabus und eine Reihe von Allokutionen etwas zweifelhaft macht. Ja, ich wollte, ein Mann von Ihren Ueberzeugungen, womöglich Sie selbst, was ja nicht zu den Undenkbarkeiten gehört, bestiege den heiligen Stuhl. Dann hätte die katholische Kirche wirklich wieder Aussicht auf die geistige Führung der Welt. Dann wären unsere im Dunkel ihrer Ignoranz einer solchen Einsicht völlig unzugänglichen protestantischen Päpstlein von euch bald glorreich besiegt und vernichtet. Unter einem Haupte der Christenheit, das wenigstens die allmälige Verstärkung jener verdünnten Kindersäftchen und die Vermehrung der Durchsichtigkeit des riesigen Sonnenschirms bis zur einstigen, wenn auch noch so späten Zulassung des vollen Lichtes zum Programm der Kirche erhöbe, würden selbst wir protestantischen Wissenschaftler nicht abgeneigt sein, als Mitarbeiter Dienst zu nehmen. Zunächst ich und mein Bruder Ulrich, zur Zeit noch lutherischer Pastor an der Sebalduskirche. Mit des Letzteren Ideen berühren sich die Ihrigen so wundersam nahe, daß ich vermuthen muß, Sie haben einige seiner Predigten gehört, namentlich ganz unzweifelhaft seine diesjährige Osterpredigt. Auch stimmt Ihre Gestalt und Ihr Anzug recht gut zu der Beschreibung eines Mannes, den ein Freund meines Bruders auf der Lettnerbank hinter der Balgenkammer mit dem Pastor Schlaube sitzen gesehen hat. Ueberdies ist Ihr Verkehr mit dem Küster Spitzer, dem Ohrenvirtuosen, nicht unbekannt geblieben, während ich allerdings nur auf Muthmaßungen und Wahrscheinlichkeiten beschränkt bin in Betreff Ihrer Verbindungen mit Genf und den dortigen Druckereien.«

Aschenfahl im Gesicht war Marpinger aufgesprungen und hinter seinen Stuhl getreten. Sich krampfhaft an der Lehne festhaltend und in gurgelndem Ton rief er:

»Herr, was wollen Sie damit sagen?«

»Daß vorhin ein unvorsichtiges Wort Sie verrathen, jetzt Ihr böses Gewissen Sie vollständig entlarvt hat. Von Ihnen angezettelt wurde die Verschwörung, die meinen Bruder um sein Amt bringen soll.«

Er zog ein Exemplar der Osterpredigt aus der Tasche und legte es, mit der Rückseite des Umschlags nach oben, auf den Tisch.

»Jetzt weiß ich,« fuhr er fort, »wer den Druck dieser gestohlenen Predigt besorgt und allermindestens nicht gehindert hat, daß sie geschmückt wurde mit dieser Infamie gegen meinen Bruder.«

»Herr Graf,« stammelte Marpinger, »bin ich in Ihrem Hause solchen Insulten wehrlos preisgegeben?«

»Wehren Sie sich, wenn Sie können,« versetzte der Graf. »Ich kenne meinen künftigen Schwiegersohn zu genau, als daß ich ihm eine grundlose Beschuldigung zutrauen dürfte. Was ist es mit diesem Holzschnitt?«

»Nicht heute, mein verehrter, lieber Herr Vater, verlangen Sie den vollen Zusammenhang. In etlichen Tagen wird sich Alles lösen. Für jetzt nur so viel: der Zweck dieser Karrikatur ist eine niederträchtige Verleumdung, welche die Predigtdiebe nur bildlich anzudeuten wagten, weil die Halunken zu feig waren sie auszusprechen. Sie soll meinen Bruder Ulrich verdächtigen einer folgenreichen Liebschaft mit einer Kunstreiterin, deren verwaistes Kind er aufopfernd in seine Vormundschaft genommen hat.«

Jetzt überkam auch den Grafen ein heftiger Schreck. Zu dem, was der Professor vorher erzählt und vorgeschlagen, gesellte sich hell aufgefrischt die Erinnerung an den »zweiten Schatz«, den Ulrich für ihn zu bewahren damals im Wirthshause am Klönsee so geheimnißvoll angedeutet.

»Können Sie leugnen,« frug er endlich den verstörten Marpinger, »geholfen zu haben bei der Veröffentlichung des Pamphlets und des Schandbildes? Nach Ihrem Geständniß, den Versuch eines Kinderraubes geduldet zu haben, muß ich es bezweifeln.«

Marpinger stammelte unzusammenhängende Worte.

»Wir sehen, er kann es nicht,« sagte Arnulf. Dann wandte er sich an den Professor: »Weil Ihr böser Wille Gutes bewirken wird, sollen Sie von uns nicht verfolgt werden, falls die Voraussetzung richtig ist, mit der ich Ihnen zurufe: Auf Nimmerwiedersehen in Odenburg!«

»Ich telegraphire nach dem Wirthschaftshofe hinunter,« fügte der Graf hinzn. »Dort, Herr Professor, finden Sie Ihren Wagen angespannt.«

Nach einer zweistündigen Unterredung mit seiner Braut trat auch Arnulf den Heimritt an. Er nahm ihre Zusage mit, morgen mit dem ersten Frühzuge auf der ersten Station hinter Odenburg mit ihm zusammenzutreffen und ihn nach Meerfels zu begleiten, auch in seiner Brusttasche zwei Briefe von ihrer Hand. Der eine war gerichtet an Herrn Rosenberger, der andere an Fräulein Cäcilie Mendez.


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