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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Fromme Diebe.

 

Thoren laß die Welt verklagen
Für das Gift im Schlangenkiefer.
Mitleidslos mit Recht erschlagen,
Schafft mit seinen scharfen Plagen
Doch auch Heil das Ungeziefer:
Neiderbosheit, Heuchlertücke,
Lug, Verleumdung böser Zungen
Haben auf den Weg zum Glücke
Manchen schon hinaus gezwungen.

 

In der Sebalduskirche scheidet ein niedriger Bretterverschlag mit verschließbarer Thür die rechtseitige Empore, in Odenburg Lettner genannt, von der Balgenkammer, in welcher dem Fuße des umfangreichen Orgelwerks die vier Trittbalken zum Füllen der Windlade entragen. Bis vorn übersehen kann man diese Abtheilung nur von den letzten Plätzen der hintersten Lettnerbank, die selbst beim stärksten Kirchenbesuch leer zu bleiben pflegen, weil man von ihnen aus die Kanzel nicht erblickt und den Prediger nur mit angestrengter Aufmerksamkeit verstehen kann. Nach dem Altar zu verdeckt den schmalen Raum die schnörkelverzierte Holzwange der Orgelfront, zur Ausschau mit einer ovalen Oeffnung versehn. Neben dieser hängt links und inwendig ein winziges, nur in nächster Nähe hörbares Glöckchen, mittelst dessen der Organist das Zeichen zum Beginnen gibt; außerhalb rechts ist ein schräg gestellter Spiegel angebracht, in welchem der Balgentreter während seiner Arbeit den Spielenden und seine Winke zu etwa nöthiger Verstärkung der Luftlieferung wahrnimmt.

Wann die Orgel schwieg, hatte Spitzer seinen Stuhl an diesem Ausguck. Dicht unter demselben hatte er sich ein schräges Pultbrettchen zum Schreiben befestigt. Da saß er während der Predigt und stenographirte mit dem Bleistift bald einzelne Sätze, bald größere Abschnitte, seit einiger Zeit zuweilen auch den ganzen Vortrag.

Ulrich's Christenthum zu begreifen und zu würdigen war weder seine Begabung, noch seine Bildung ausreichend. Immerhin aber hatte er aus den anderthalb Semestern seiner theologischen Collegia genug behalten, um zu merken, daß der Herr Hauptpastor wesentlich Anderes predige, als die Glaubensartikel, wie er sie weiland von seinen orthodoxen Professoren mehr anbefehlen als auslegen gehört hatte.

Mehrere Sonntage nach einander war auf der sonst immer gemiedenen Lettnerbank hinter ihm ein Mann in langschößigem schwarzem Rock erschienen. Der hatte bemerkt, wie Spitzer ab und zu einen Satz der Predigt nachgeschrieben. Die Wahl der Stellen verrieth Methode. Es waren solche, die auch ihn, den Schwarzrock, zum Kopfschütteln würden bewogen haben, wenn er es sich nicht zum Gesetz gemacht, mit halbgeschlossenen Augen zu lauschen, aber mit keiner Miene den Eindruck des Vernommenen merken zu lassen. So konnt' es ihm nicht entgehen, daß der Küster den Pastor überwache und vermuthlich aus Beweggründen, ähnlich denen, welche ihn, den Professor, in die Sebalduskirche führten. Vorsichtig eingezogene Erkundigungen machten ihn vertraut mit der Vergangenheit und dem Charakter Spitzer's. Der Mann war unzweifelhaft ein brauchbares Werkzeug.

Doch hütete sich Marpinger klüglich, schon selbst mit ihm in Verbindung zu treten. Dagegen machte er einen Besuch bei dem hyperorthodoxen lutherischen Hauptpastor der Andreaskirche Namens Schlaube. Er hatte den Mann vor mehreren Jahren in einer Abendgesellschaft kennen gelernt und ihn sowohl schon dort, als später auf gemeinschaftlichen Spaziergängen für sich einzunehmen gewußt durch die warme Anerkennung, die er, im Gegensatz zur modernen Freigeisterei, den Altlutheranern zollte. Des Gemeinsamen ihrer Kirche und der katholischen sei so viel, daß man nicht verzweifeln dürfe an der einstigen Ausgleichung der Unterschiede, welche zu der bedauerlichen Spaltung geführt, jedenfalls aber schon jetzt treu zusammenstehen müsse im Kampfe gegen den furchtbar umsichgreifenden Unglauben.

Sein Geschichtswerk freilich und eine mehr heftige als geschickte, mehr zornig polternde als siegreich widerlegende Beurtheilung desselben aus der Feder Schlaube's hatte diesem Verkehr ein Ende gemacht. Aber Marpinger vertraute der eigenen Beredsamkeit und noch mehr dem bekannten, längst bis zum ingrimmigsten Haß geschwollenen Neide des rechtgläubigen Pastors. Denn Schlaube's altbackene Kanzelpauken pflegten außer den pflichtschuldig erscheinenden Beamten und Insassen des Andreas-Spittels höchstens noch ein Dutzend zahnloser Mütterchen und alter Jungfern zu versammeln, während dieser unerlaubt jugendliche Ulrich Sebald mit seinen Redekünsten Tausende bestrickte. Vollends unverzeihlich war es, daß dieser buhlende Freigeist und Ohrenschmeichler jüngst an dreihundert Kinder eingesegnet, ihm aber die vornehmen und begüterten Familien allmälig ganz abspenstig gemacht und nur fünf oder sechs Konfirmanden von schwächster Zahlungsfähigkeit übrig gelassen hatte.

Etwas betreten empfing Schlaube den unerwarteten Besuch. Marpinger aber begann sehr geschickt mit einer Anerkennung jener Kritik seines Geschichtswerkes. Einige der ihm vorgeworfenen Irrthümer in Betreff Luther's habe er nun selbst als solche erkannt und in der demnächst erscheinenden zweiten Auflage unter dankender Nennung des Berichtigers beseitigt. »Heut aber,« fuhr er fort, »lassen Sie uns die Fragen vergessen, in denen wir Gegner sein und bleiben müssen. Ich komme vertrauend, um Sie aufzurufen gegen einen gemeinsamen Feind, den zu bekämpfen und unschädlich zu machen Sie weit mehr verpflichtet und befähigt sind, als ich. Selbst sonntäglich beschäftigt, werden Sie von Herrn Ulrich Sebald's Predigten wohl nur seitens Anderer vernommen haben. Aber Sie müssen ihn selbst hören. Dann werden Sie mir bald beistimmen, daß der Mann auf der Kanzel nicht länger geduldet werden darf.«

Er zog seine Brieftasche und las einige Sätze vor, die er selbst nachgeschrieben hatte. Schlaube schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und verdrehte die Augen, daß beinahe nur noch das Weiße sichtbar blieb.

»Entsetzlich!« rief er. »Nachdem er bei der Ordination zur Augsburger Konfession geschworen, ist das ja der sonnenklare Eidbruch!«

»Sie werden begreifen,« bemerkte Marpinger, »daß ich als Katholik in der Sache nichts direkt thun darf. Von Ihnen müssen die nöthigen Schritte geschehen bei Ihrem Konsistorium.«

Dann erzählte er von Spitzer, von dessen Nachschriften, seinen Eigenschaften, seinem Lebenslanf, bezeichnete das räthliche Verfahren, diesen Mann zu gewinnen, und erklärte sich bereit, die dazu ohne Zweifel erforderlichen Geldmittel zu beschaffen. Von besonderer Wichtigkeit dürfte es sein, die Niederschrift der diesjährigen Osterpredigt Sebald's zu erlangen, welche, wie er wisse, der Küster ziemlich vollständig stenographirt habe. Schon aus einigen der eben mitgetheilten Sätze ergebe sich, daß dieser Herr Hauptpastor der Sebalduskirche sowohl die Auferstehung Christi, als den Glauben an Unsterblichkeit zu schemenhaften Allegorieen verflüchtige.

Am nächsten Sonntage predigte in der Andreaskirche ein stellvertretender Kandidat. Auf jener hintersten Lettnerbank der Sebalduskirche saß neben Marpinger ein wohlbeleibter Mann in langem Mantel. Die vorgerückte Jahreszeit machte dies Kleidungsstück überflüssig und sogar lästig. Doch es leistete den verlangten Dienst: hinter dem emporgeschlagenen Kragen ein allbekanntes feistes Gesicht mit Hängebacken und Doppelkinn zu verbergen.

Am nächstfolgenden Sonntag blieb die Lettnerbank leer. Auf einem der Gebläsetritte der Balgenkammer hing während der Predigt eben jener Mantel; auf dem zweiten, festgeriegelten hockte Spitzer, jedesmal mit den Ohren zuckend, wann Ulrich einen der Sätze hören ließ, die er sonst würde stenographirt haben, was ihm heut erspart war. Sein Gesicht zeigte ein Gemisch von Spannung und lächelnder Siegeszuversicht. Nach seiner gemächlichen Haltung zu schließen, mußte er inzwischen ziemlich vertraut geworden sein mit dem zweiten Insassen seines Verschlages. Auf dem Stühlchen an der ovalen Oeffnung der Orgelwange, auf dem Pultbrett ein Blatt Papier vor sich und oft mit dem Bleistift nachschreibend, saß Pastor Schlaube, nicht ohne einige Unbequemlichkeit seitwärts gebeugt, um unsichtbar zu bleiben auch für die wenigen Plätze des Lettners, welche den Einblick von vorn erlaubten. Nur diese Vorsicht verrieth sein Bewußtsein, die Rolle eines Horchers zu spielen. Der Ausdruck heiligen Ernstes und frommer Entrüstung in seinem fetten Vollmondsgesicht bewies, wie vollständig es ihm gelungen war, seinem Gewissen in Erfüllung einer schmerzlichen, aber gottgebotenen Amtspflicht umzulügen, was doch nichts Anderes war, als eine vom gemeinsten Brodneid empfohlene Selbstentwürdigung zum Spion.

Etliche Wochen später ward in Odenburg ein gedrucktes Heft in vielen Hunderten von Exemplaren durch die Stadtpost verbreitet. Zugleich erhielten es die auswärtigen Redaktionen orthodox theologischer Zeitschriften und mehrere der bekanntesten Heißsporne der Altlutheraner, diese mit dem Postzeichen eines hart an der Schweizergrenze gelegenen Städtchens. Offizin und Druckort waren nicht angegeben. Viele Druckfehler indeß verriethen des Deutschen unkundige Setzer. Die nothbehelfliche Ersetzung der ä, ö und ü durch ae, oe und ue bekundeten französische Herkunft und der Schnitt der lateinischen Lettern war der in Genf übliche. Der Titel lautete: »Eine verwunderlich wunderlose Osterpredigt.« Auf der inneren Seite des Titelblattes las man unter der Überschrift: »Odenburg a. D. 1795«, den Spottvers:

»Im Pfarrhaus die Decke
Hat Sebald der Recke
Mit dem Scheitel beschädigt
Und Sonntags auf kantisch
Gar Bresche gigantisch
In den Himmel – gepredigt« –

darunter endlich, nach einem Strich und der heutigen Jahrzahl:

»Wie die Alten sungen
Zwitschern auch die Jungen.«

Die nächste Seite gab ein kurzes Vorwort: Ein Reisender kalvinischen Bekenntnisses habe diese zwar nicht lutherische, aber von einem angeblichen Lutheraner gehaltene Predigt nach Bleistiftnotizen und aus dem Gedächtniß so treu als möglich aufgeschrieben und sich entschlossen zu dem kleinen Vergehen, sie ohne Erlaubniß des Verfassers herauszugeben, um, einer höheren Pflicht gehorchend, der Religion einen guten Dienst zu leisten.

Dann folgte die jüngste Osterpredigt Ulrich Sebald's.

Bei Vergleichung des auch ihm zugeschickten Heftes mit seinem Konzept fand Ulrich diese Wiedergabe, von entstellenden Druckfehlern abgesehen, überraschend wortgetreu. Nur eine, ungefähr eine halbe Druckseite füllende Stelle gab in minder glatt stilisirten Sätzen mehr Phrasengeklingel als Inhalt und kaum eine schwache Reminiscenz von seinem Vortrage. Hier mußte der Herausgeber mit geringem Erfolge versucht haben, ein fehlendes Stück Nachschrift aus dem Gedächtniß zu ergänzen.

Die ärgste, vorerst freilich wohl nur ihm selbst verständliche Bosheit fand er auf der Rückseite des Umschlages. Diese füllte ein grob und nachlässig ausgeführter Holzschnitt. Im Vordergrunde sah man einen Mann im Talar mit übermäßig langen, bis über die Brust hinunterfallenden Halspäffchen. Porträtähnlichkeit schien im Gesicht nicht einmal erstrebt. Aber ganz denselben karrikirt riesigen Mannskopf mit genau gleichem Gesicht trug ein winziges Knäbchen, das er an der Hand hielt. Im Hintergrunde war ein Cirkus eben angedeutet. Auf der Arena sah man, bekleidet mit kurzem, flatternd gebauschtem Röckchen, nur mit einer Fußspitze auf galoppirendem Pferde stehend, eine Kunstreiterin dem Geistlichen eine Kußhand zuwinken.

Auch sämmtlichen Mitgliedern des in Meerfels residirenden Landeskonsistoriums waren Exemplare zugesandt worden. Der Vorsitzende desselben, Generalsuperintendent Sutor, erhielt deren sogar zwei. Denn Pastor Schlaube fand sich veranlaßt, diesem hohen Gönner das seinige – richtiger gesagt, wohl eines der seinigen – einzusenden in Begleitung eines ebenso diplomatisch wie salbungsvoll abgefaßten Briefes.

Seinem werthen Herrn Amtsbruder Sebald, schrieb er unter Anderem, sei ein so unverzeihlicher als böswilliger Streich gespielt worden. Er, Schlaube, zweifle natürlich keinen Augenblick, daß diese dem Kollegen zugeschriebene Predigt überwiegend verleumderische Erfindung sei. Der nicht selten an's Ruchlose streifende Inhalt werde Seiner Hochwürden unfraglich dieselbe Ueberzeugung aufdrängen. Anderseits aber müsse er zu seinem schmerzlichsten Bedauern einräumen, einige, den vorgetragenen ungeheuerlichen Sätzen wenigstens verwandte Umgehungen und selbst Verleugnungen des für jeden lutherischen Geistlichen bindenden Bekenntnisses von dem jugendlichen Herrn Hauptpastor der Sebalduskirche theils mit eigenen Ohren, theils aus dem Munde glaubwürdiger Zeugen vernommen zu haben. Bei dem schweren, kirchenschädlichen Aergerniß, das diese Veröffentlichung gegeben, dürfte es daher wohl unerläßlich sein, den beklagenswerthen Herrn Amtsbruder in seinem eigenen Interesse offiziell zu veranlassen zu feierlicher und öffentlicher Verleugnung der ihm angedichteten strafbaren Häresieen. Näher einzugehen auf den leicht zu errathenden Sinn der Holzschnittkarrikatur des Pamphlets sträube sich seine Feder um so mehr, als die Lügenhaftigkeit des Gerüchts wohl auf der Hand liege, zu dessen Entstehung sein Kollege allerdings einigen Anlaß gegeben mit seiner vielleicht etwas unvorsichtigen Bereitwilligkeit zur Uebernahme der Vormundschaft des Bankerts einer verunglückten Kunstreiterin.

Das Konsistorium hielt mehrere bewegte Sitzungen und genehmigte endlich mit allen gegen eine Stimme ein Schreiben an Ulrich, welches noch entschiedener, als der Brief Schlaube's, vorauszusetzen schien, daß die angebliche Predigt durchweg das Machwerk eines verleumderischen Fälschers sei. Die ihm vorgesetzte Behörde, hieß es da, finde zwar einen solchen Bruch seines Ordinationsgelöbnisses so unglaublich, daß es für sie einer ausdrücklichen Verleugnung des Pamphlets kaum bedürfe. Theils aber werde er selbst eine solche wohl unerläßlich finden, um auch die minder urteilsfähigen Mitglieder seiner Gemeinde zu beruhigen, theils habe die anstößige Schrift so weite Verbreitung gefunden und so peinliches Aufsehen erregt, daß man ihm eine bündige Ablehnung der Urheberschaft dieser Predigtsatyre hiemit von amtswegen aufgeben müsse. Er möge also von der Kanzel erklären, daß ihm dieselbe verleumderisch untergeschoben sei und er den Inhalt verwerfe, auch demnächst eine unterzeichnete und untersiegelte Abschrift dieser Erklärung einsenden, die dann in der Staatszeitung veröffentlicht werden solle.

Fast gleichzeitig mit der heimlich gedruckten Predigt hatte Ulrich das knappe Telegramm über den Schiffbruch und die Rettung seines Bruders empfangen. Zehn Tage später ward ihm vom Postboten zugleich mit dem Konsistorialschreiben ein kurzer mit Bleistift geschriebener Brief eingehändigt, in welchem Arnulf mittheilte, er sei eben erwacht aus einer durch Ueberanstrengung und Erkältung verschuldeten längeren Bewußtlosigkeit, hüte zwar noch das Bett, fühle sich aber, dank der genossenen vortrefflichen Pflege, bereits wohl genug, um nach wenigen Tagen die Heimfahrt antreten zu können. Tag und Stunde seiner Ankunft auf dem Odenburger Bahnhofe werde er von unterwegs telegraphiren.

Zwiefach aufgeregt, sowohl von der Erwartung des lang entbehrten Bruders und einem Rest von Besorgniß für dessen Gesundheit, als von der hereindrohenden Amtstrisis, saß er an seinem Schreibtisch, die beiden Briefe entfaltet vor sich, die Feder in der Hand, um die Antwort auf das Konsistorialschreiben zu entwerfen. Schon drei- oder viermal hatte er den begonnenen ersten Satz wieder ausgestrichen. Stets zu den Bleistiftzeilen Arnulf's kehrten seine Augen zurück und gaben sich Mühe, in den schieflaufenden und kritzlichen Buchstaben die charakterfeste und deutliche Hand des geliebten Bruders doch schon wiedererkennbar genug zu finden, um den Fortschritt zur Genesung auch von dieser Bettschrift bestätigt zu sehen.

Nach mehreren vergeblichen Anläufen, die zur Abfassung eines so wichtigen Schriftstückes erforderliche Sammlung zu erzwingen, glaubte er endlich das gleichzeitige Eintreffen der beiden Briefe auslegen zu sollen als einen Wink, Arnulf's Ankunft und Rath in dieser Sache abzuwarten. So schob er eben das Papier beiseite, als nach kurzem, resolutem Klopfen der Domsekretarins Mottwitz eintrat.

»Ein Kirchengeschäft, lieber Mottwitz?« frug er, ihm einen Stuhl hinrückend. »Oder haben Sie einen besonders merkwürdigen Käferfang gemacht?«

»Gewissermaßen beides. Was mich herführt, ist Ihre Osterpredigt und ein Fang von Wichtigkeit, der Fang eines Blaps, eines widerwärtigen, aber nicht sechsbeinigen Schleichers. Da liegt ja auf Ihrem Schreibtisch das auch mir zugeschickte stibitzte Opus. Just Pagina 13 sehe ich aufgeschlagen. Der dicke Anstrich mit Röthel und die Ausrufungszeichen beweisen mir, daß der Galimathias an dieser Stelle auch Ihnen aufgefallen ist. Kann's erklären, wie das Gesalbader da hineingekommen. Lesen Sie dies Quartblatt.«

»Das ist ja,« sagte Sebald nach aufmerksamer Durchsicht, »der ziemlich richtige echte Text der Stelle meiner Predigt, von welcher auf Seite 13 des Heftes kaum eine blasse Ahnung gedruckt steht. Wer hat das geschrieben?«

»Mein Freund Focke, einer der Stenographen des Reichstages, der mich gestern auf der Durchreise besuchte. Das Originalstenogramm, das ich seit geraumer Zeit besitze, aber selbst nicht entziffern konnte, hat er mir übersetzt.«

»Und dies Originalstenogramm?«

»Hier ist es.«

Er legte Ulrich das Sedezblättchen vor, das einst dem Küster aus dem Taufbuch herausgefallen war, und erzählte ausführlich, wie es in seinen Besitz gekommen. Bei der Herstellung des Manuskripts habe Spitzer unzweifelhaft wissenschaftlich gebildete Mithelfer gehabt. Sicherlich nicht von ihm, sondern von eben diesen müsse die kostspielige Drucklegung im Auslande und die Versendung besorgt worden sein. Einer dieser Helfer sei vermuthlich der Pastor der Andreaskirche, Herr Schlaube. Trotz des verhüllenden Mantels glaube er diesen erkannt zu haben in der wohlbeleibten Gestalt, die er eines Sonntags neben einem unbekannten Herrn in schwarzem Ueberrock sitzen gesehen auf der letzten Lettnerbank hinter der Balgenkammer Spitzer's.

»Wenigstens,« fuhr er fort, »noch die Züchtigung des Schufts durchzusetzen, wird Ihnen meine Entdeckung ermöglichen, wenn sie auch nichts helfen kann zur Abwehr der Hebel, die man verteufelt schlau angesetzt, um Sie von der Kanzel herunter zu wuchten. Der geplante Erfolg wird schwerlich ausbleiben, fürcht' ich – fast möcht' ich sagen, ich hoff' es.«

»Sie, mein eifriger Anhänger? Sie, der Sie schon für mich schwärmten, als ich noch Ihr Schüler war und jedesmal einen Festtag feierte, wann ich Sie auf die Käferjagd begleiten durfte?«

»Eben deswegen.«

«Sie, auf dessen unerschütterliche Freundschaft ich schwöre, Sie mißgönnen mir mein Amt?«

»Umgekehrt: Sie diesem Amt. Sie wiegen sich noch immer in Illusionen. Aus denen zunächst müssen Sie hinaus.«

»Aus welchen?«

»Herr Pastor, entsinnen Sie sich gefälligst des ersten Besuches, den Sie mir mit Ihrem Bruder im naturhistorischen Museum abstatteten, als Ihr seliger Herr Vater Ihnen Beiden nach einigem Sträuben erlaubt hatte, bei mir Unterricht zu nehmen. Sie waren etwa zwölfjährig. Wie jetzt die Briefmarkenpassion grassirt, so war damals die Jugend erpicht, Pflanzen, Vogeleier, Schmetterlinge und namentlich Käfer zu sammeln. Auch Sie und Ihr Bruder brachten jeder einen Kasten voll aufgespießter Käfer mit, um mir nicht ohne Selbstgefühl zu zeigen, welch' ansehnliche Zahl von Arten Sie schon erbeutet und was Sie schon geleistet hätten in der Anordnung, lediglich nach den vier oder fünf Druckseiten, auf denen eine magere Naturgeschichte für Tertia die Gattung Coleoptera behandelte. Die Sammlung Arnulf's war etwas vollständiger, auch wissenschaftlich schon etwas richtiger geordnet. Die Ihrige aber …«

»Lockte Ihnen,« unterbrach Sebald, »einen Ausruf des Staunens ab, den ich noch heute nicht vergessen habe. ›Potz Kukuk,‹ sagten Sie hell anflachend, ›was sind denn das für Ungethüme, an denen Du selbst Herrgottchens gespielt hast?‹«

»Richtig. Unbekümmert um jenen Leitfaden, hatten Sie Ihre Käfer geordnet nach einer selbst ersonnenen Regel, nach der Aehnlichkeit der Gestalt mit nur nebensächlicher Beachtung der Größen und Farben. Jeder steckte zwischen den Zweien hinsichtlich der Form am Wenigsten von ihm verschiedenen. Man merkte die Absicht, eine in sanftester Allmäligkeit gestufte Reihenfolge herzustellen. Da klafften aber große Lücken, weil ganze Familien fehlten, die nur in heißen Ländern, bei uns gar nicht oder doch äußerst selten vorkommen, ja, zum Theil überhaupt ausgestorben sind. Diese Lücken hatten Sie ausgefüllt, hier mit anderen Insekten, Wespen, Hornissen, denen Sie Brustschilde und Flügeldecken aufgeklebt, dort gar mit selbstgeschaffenen Biestern, gebosselt aus Wachs, bepanzert mit farbigem Glanzpapier, bebeint und befühlert mittelst Amputation gemeiner Mistkäfer, Karabiziden und Capricornier.«

»Sie legten mir aber mit Wohlgefallen in den Augen die Hand auf den Kopf, führten mich an die Glaskästen des Museums und zeigten mir von meinen Phantasiegeschöpfen einige nahezu verwirklicht in tropischen Käfern, von deren Existenz ich keine Ahnung gehabt.«

»Dem Knaben glaubt' ich's verschweigen zu müssen, daß ich ihn bewunderte und überzeugt war, ein epochemachendes Genie für die Naturwissenschaft entdeckt zu haben. Sie wissen, daß ich mit zärtlicher Liebe das Meinige gethan, es zu entwickeln und Sie zu gewinnen für die Laufbahn des Naturforschers. Sie wissen auch, mit welchem Bedauern ich meine Absicht mißlingen, das Gefühl Ihrer Erbpflicht Ihre Neigung besiegen und Sie zur Theologie abdrängen sah von dem Beruf, in dem Sie mit Ihren Anlagen Weltruhm erworben hätten. Auch meiner Warnung und Weissagung werden Sie sich noch entsinnen. Die Wissenschaft, sagt' ich, wird Ihnen doch den Talar einst noch ausziehen. Das geht nun in Erfüllung, aber zu spät. Unter dem Pfaffenrock ist Ihnen auch eine Spielart von Theologenhaut um den Leib gewachsen. Fast angelangt nel mezzo del cammin di nostra vita werden Sie die schwerlich noch abstreifen können behufs Rückmetamorphose zum Naturforscher. Aber gesetzt auch, Sie könnten's – die Großthat, zu der Sie das Rüstzeug hatten, ist inzwischen gethan worden. Was Sie als Knabe mit genialer Ahnung vorwegnahmen als eine selbstverständliche Wahrheit, auch unzweifelhaft entdeckt und bewiesen haben würden, wenn Sie nicht dem angeborenen Beruf zu Gunsten des angeerbten untreu geworden wären: die Entwicklung aller Lebensgestalten aus wenigen Urformen –: damit haben sich nun Andere die Unsterblichkeit erobert. Die vollen Garben sind eingeheimst. Sie kamen nur noch zur Nachlese der hier und dort vergessenen einzelnen Aehren. So werden Sie nun wohl bleiben müssen, was Sie geworden sind: eine Art Halbdecker gleich dem Maiwurm, ein Zwitterding von Kosmolog und Theolog. – Ich gebe nicht viel auf den Zulauf zu Ihren Predigten. Neun Zehntel Ihrer Hörer machen eben nur die Mode mit, oder betrachten den Gottesdienst als unterhaltende Sonntagsmatinée eines Kanzelvirtuosen, den sie umsonst, höchstens gegen ein Douceur an Herrn Spitzer, also jedenfalls viel billiger bewundern dürfen, als die berühmten Geiger und Klavierpauker im Konzertsaal. Aber angesichts der wirklichen Erbauung, die gleich mir wenigstens Etliche vom übrigen Zehntel mitnehmen, angesichts namentlich dieses Meisterstücks von Osterpredigt und ihrer mächtigen Wirkung trotz der Druckfehler und Verstümmelungen, will ich's nicht leugnen, daß Sie auch als eine solche Mischgröße Ersprießliches leisten und vielleicht sogar eine Geisterwendung einleiten können, welche der Darwinischen an Bedeutung und Heilsamkeit wenig nachstünde. Nur bilden Sie sich nicht ein, dabei noch Hauptpastor der Sebalduskirche bleiben zu dürfen. – Das ist die Illusion, aus der Sie hinaus müssen, bevor man Sie hinaus wirft. Gründen Sie eine neue Gemeinde. Ihr Anhang ist dazu eben jetzt zahlreich, vielleicht sogar zahlfähig genug, wenn ich die zwar schwachherzigen, aber sehr verwendbaren Jünger aus Mode und künstlerischem Wohlgefallen an Ihrer Beredsamkeit mitrechnen darf. Von der lutherischen Kirche, wie sie jetzt ist, können Sie nicht verlangen, als ihr Geistlicher geduldet zu werden. Wie seinerzeit Luther päpstlich und römisch zu sein, ebenso haben Sie aufgehört, lutherisch zu sein. Ihr Vorfahr Dietleib half die Losreißung besiegeln bei Verbrennung der Bannbulle. Folgen Sie seinem Beispiel, aber ohne die Bulle der lutherischen Päpstlein abzuwarten. Scheiden Sie vor erfolgtem Bann. Kommen Sie der Austreibung aus Aegypten zuvor mit freiwilligem Exodus. Aber bald; denn nach dieser Osterpredigt wird Ihnen schwerlich lange Frist gewährt werden von den pharaonischen Ministern.«

»Das ist nur allzu richtig. Da, lesen Sie,« erwiederte Ulrich und gab ihm das Konsistorialschreiben.

»War zu erwarten,« versetzte Mottwitz, nachdem er gelesen. »Die Herren haben Recht in ihrem Sinne, vergessen Sie das nicht. Was gedenken Sie zu thun?«

»Meines Bruders bevorstehende Rückkehr abzuwarten und mich erst nach Besprechung mit ihm zu entschließen.«

»Dann bin ich beruhigt. Ich zweifle nicht, daß Arnulf's Rath mit meinem gleich lauten wird. – Jetzt noch Eines. Ich gedachte darüber gegen Jedermann, vor Allen gegen Sie zu schweigen. Das darf ich nicht länger, nachdem Spitzer auch den ärgsten, ich fürchte unabwehrlichen Giftpfeil aus seinem Köcher abgeschossen hat. – Sie haben übel gethan, auch Ihrer Frau Mutter und Ihre eigenen Privatbriefe durch den Küster zur Post zu schicken. Ob er einige heimlich geöffnet, oder nur aus der Aufschrift Schlüsse gezogen hat, weiß ich nicht; doch kann er kaum anders den Weg gefunden haben zu seiner Entdeckung.«

»Zu welcher Entdeckung?«

»Ich habe vorhin schon erzählt, wie er in seinem rachsüchtigen Eifer, mich einer groben Amtsnachlässigkeit zu zeihen, von jener Eintragung in das Geburtsregister zuerst weiter nichts beachtet hatte, als den Widerspruch zwischen der Geschlechtsangabe und dem Taufnamen Lothar. Desto gründlicher scheint er seitdem die Eintragung, die folgende Berichtigung von Ihrer Hand und namentlich die Verweisung auf Dokumente im Geheimschrank studirt zu haben. Fast immer diese Seiten des Kirchenbuchs sah ich im Vorübergehen auf seinem Pult aufgeschlagen; auch zeigen die Blätter schon unverkennbare Spuren oft wiederholter Hinundherwendung. Ferner weiß ich vom Hülfsarzt der Frauenklinik, daß Spitzer mehrmals jene Hebamme, deren Gedächtnißirrthum die falsche Eintragung verschuldet, aufgesucht und ihr kleine Geschenke mitgebracht hat.«

»Was aber soll er aus der Aufschrift oder gar aus dem Inhalt unserer Briefe erfahren haben?«

»Das fragen Sie noch nach der Karrikatur auf dem Umschlage, deren Erklärung bereits Stadtgespräch geworden ist, vermuthlich geliefert nach Ehren-Spitzer von Hochehrwürden Schlaube? Allermindestens erfahren auf diese Weise hat er den Namen Tannkirch und aus der Angabe der nächsten Poststation auch den Weg nach diesem einsamen Pfarrdorf im Gebirge.«

»Sie wissen …?« frug Ulrich etwas betreten und mit anklingendem Vorwurf.

»Argwöhnen Sie nicht, Herr Pastor, daß ich Ihren Geheimnissen nachspüre. Sehr unfreiwillig, nur durch Zufall bin ich mitwissend geworden, daß in Tannkirch das Pathchen Ihrer Frau Mutter, Ihr Mündel Lothar, in der Familie des Pfarrers erzogen wird.«

Nun erzählte er auf das Anschaulichste sein Erlebniß an der Wassermühle bei Tannkirch.

Als er dabei Loa's schwer verständliches Kinderwälsch erwähnte und mehrmals getreulichst nachahmte, entlockte das Ulrich keineswegs das erwartete Lächeln. Ernst und wie getäuscht in einer Hoffnung warf er ein:

»Sie sagen, das Kind sei Ihnen begabt vorgekommen. Wie reimt sich dazu diese Unbeholfenheit im Sprechen? Loa ist eben vierjährig und seine Größe, meinen Sie, lasse ihn gut fünfjährig erscheinen. Wohlgerathene Kinder aber pflegen schon nach drei Jahren ziemlich fließend und richtig zu sprechen.«

Dadurch fühlte sich Mottwitz angestochen zu eifriger Schutzrede.

»Ja,« begann er, »das pflegen sie, wenn sie heranwuchsen in einer Großstadt, wo die bedauerliche Frühreife kaum vermeidlich ist. Da sind sie überwiegend an die Stube gebannt, vor der freien Natur vermauert. Höchstens unter kümmernden Straßenbäumen mögen sie sich tummeln oder auf den Kiesgängen der Promenade mit ihren geschniegelten Anlagen, verbotenen Rasenplätzen und bei Strafe unantastbaren Gesträuchen und Blumenbeeten. Nur aus verkünstelter Natur setzen sie sich mit eigenem Schauen ihr Weltbild zusammen. Mehr mit Erwachsenen, als mit ihresgleichen verkehrend, schöpfen sie ihre Vorstellungen von Allem, was nicht zum überfeinten Kulturtreiben um sie her gehört, aus vernommenen Worten, Unterricht, und allenfalls aus Bilderbüchern, fast niemals frisch und selbst aus der Quelle. Auf Kosten der leiblichen Entwicklung und Sinnesübung wird ihr Verstand ungesund altklug geschult und nur allzu oft von einfältiger Elterneitelkeit zur unseligen Wunderkindschaft aufgetreibhäuselt. Geläufig plappern lernen sie schnell; aber was? Lauter uneigene und anschauungslose Redensarten. Besonders große und zeitige Sprachgewandtheit ist fast ausnahmslos verbunden mit überzartem, angewelktem, oft sogar siechem Körper, während umgekehrt selbst von großstädtischer Brut die animalisch derbsten, übermüthig kräftigsten und wildesten Buben allemal weit rückständig sind in der Zungenfertigkeit. Noch heut überläuft mich eine Gänsehaut, wenn ich mich erinnere, welcher Schreck mir in die Glieder fuhr, als ich einst im Berliner Thiergarten dicht hinter zwei eben zehnjährigen Backfischen ging und eines der Mädel mit der Geläufigkeit eines Philosophieprofessors sagen hörte: ›Das ist eine subjektive Ansicht.‹ Nachher überzeugte ich mich, daß die beiden Gören zwar schon von Literaturgeschichte zu faseln und über den Unterschied zwischen Schiller und Goethe den landläufigen Unsinn nachzupapageien wußten, aber in aller ihrem Alter angemessenen Wissenschaft blitzdumm waren, da sie weder die Eiche von der Buche, noch Gerste von Weizen zu unterscheiden wußten. Ich zeigte ihnen einen eben für schweres Geld von einem Naturalienhändler gekauften brasilianischen Oryktes mit Blatthorn. ›Ein Maikäfer!‹ sagte da Fräulein Objektiva. ›Den kenn' ich. Gerade so einen hat mir, als ich noch ein Kind war, mein Papa für zwei Silbergroschen gekauft und noch lebendig mitgebracht.‹ Also die gesammte Käferkunde bei sicherstem Selbstbewußtsein beschränkt auf einen Maikäfer! Doch selbst diesen hatte sie nicht etwa fliegen oder Laub nagen, sondern wahrscheinlich aus einer Pillenschachtel oder leeren Schnupftabaksdose herauskrabbeln gesehen, in die ihn der Vater für zwei Nickel eingethan, um seinem hoffnungsvollen Blaustrumpf ein in der Hauptstadt unerhörtes zoologisches Phänomen vor Augen zu führen. Ist das nicht schauderhaft? – Gerade Loa's ungeschlachte, aber selbstgeprägte Sprache bürgt mir, daß aus dieser Knospe ein Vollmann aufblühen wird. Abgesehen von der Musik, dieser in neuerer Zeit wenigstens für den berufsmäßig Ausübenden fast immer ungesunden, die Nerven zerrüttenden und selbst den Charakter anfressenden Kunst, in welcher geistige Frühreife bei angewelktem Leibe sogar eine Bedingung genialer Leistungen zu sein scheint, sind alle unsere großen Männer ersten Ranges als Knäbchen so ziemlich das Gegentheil von Wunderkindern gewesen. Denken Sie doch an das beliebte, seit Wolfram's Parcival tausendfach variirte Märchen, in welchem die instinktive Weisheit des deutschen Volkes diese Erfahrung dargestellt hat. Ich meine das Märchen vom dummen Hans, der wegen seiner närrischen Streiche für einen Simpel gehalten wird und hernach seine ganze Sippschaft weit überflügelt mit siegender Lebensklugheit. Von einem solchen Genie praktischer Lebenskunst und unbändiger Willenskraft erkenn' ich in Loa unter der Schale Wolframischer ›Thumbheit‹ und verheißungsvoller Kindeseinfalt das Keimblatt. Er hat mir schnellen Entschluß, erstaunlichen Muth, ja, Waghalsigkeit bewiesen und vollends von Mutterwitz eine reichliche Portion. Ein Stadtkind würde vermuthlich einen Schwall von Fragegepappel losgelassen haben beim Beschauen und Befühlen meiner künstlichen Fliege; woraus mir aber nicht halb so helle Klugheit eingeleuchtet hätte, als aus den zwei resoluten Silben, mit denen sich Loa's noch schwere und ungelenkige Zunge begnügte: ›Bisch dumm!‹ Kurz, mir ist er vorgekommen wie ein verborgenes Königskind alter Sagen.«

So schwelgte Mottwitz förmlich in einer liebevoll begeisterten Schilderung Lothar's und es ward ihm schwer, damit aufzuhören. Dabei hütete er sich zwar, seinen Verdacht unverblümt auszusprechen, wußte aber den Eindruck, den die Gesichtszüge des Kindes auf ihn gemacht, in solchen Wendungen vorzutragen, daß Ulrich bald merken mußte, der alte Freund halte ihn für den Vater des Sprößlings der Kunstreiterin.

Doch zur Verwunderung des Erzählers wurde der Pastor nicht im geringsten verlegen. Vielmehr verrieth seine Miene zunehmende Beruhigung und innige Freude.

»Mich also,« rief er lachend, als Mottwitz schwieg, »mich hatten Sie, sonst ein so scharfsichtiger Menschenkenner, in Verdacht, ungefähr in meinem vorletzten Bräutigamsjahr bei Miß Arabella der Vater Lothar's geworden zu sein! Kann's Ihnen freilich kaum übelnehmen, da selbst meine Mutter meine Kindergestalt in ihm wiederholt sah und eine Schwester seines wirklichen, vor seiner Geburt verstorbenen Vaters entsetzt in Ohnmacht fiel, da sie mich erblickte. – Ich begrüße Ihr Abenteuer beim Fischen als eine überaus glückliche Fügung. Ihre Erzählung hob mir einen Stein vom Herzen. Weiß ich doch, daß Sie über Kinder fast ebenso untrüglich urtheilen, als über Käfer. Ihre Versicherung, Loa sei Ihnen vorgekommen wie ein versteckter Prinz und Sie schwüren darauf, daß aus diesem herzigen Bübchen bei richtiger Pflege einst ein Prachtmensch werden müsse, ist für mich unschätzbar werthvoll. Ich vertraue ihr mehr, als meinem eigenen Urtheil, und das um so zuversichtlicher, als meine Mutter mit ihrem hellsehenden Herzensverstande gleicher Meinung ist. – Erfahren Sie nun, daß ich aufhöre, verpflichtet zu sein zur Geheimhaltung der Herkunft Lothar's, sobald ich die Meinung gewonnen, daß der Sohn der vagirenden Kunstreiterin sich zu entwickeln verheiße zum geeigneten Erben des Besitzes, des Berufes und der hohen gesellschaftlichen Stellung seines noch lebenden Großvaters; ja, daß ich dann sogar verbunden bin, das auf ihn übergegangene Geburtsrecht seines ehelichen Vaters nötigenfalls auch gerichtlich zu erstreiten. Zwar wünschte seine Mutter, daß ich ihn zunächst für einen bürgerlichen Erwerb schulen ließe und jene Entscheidung erst träfe, wann er zum Jüngling gereift sei. Dieser Aufschub dünkt mir aber nicht ungefährlich, die frühzeitige Erziehung des noch weich bildsamen Kindes für seine künftigen Aufgaben bei Weitem rathsamer. Auch hab' ich inzwischen seinen Großvater kennen gelernt. Dieser hochsinnige und vorurtheilsfreie Mann trauert, sein Majorat unwürdigen Seitenverwandten hinterlassen zu sollen. Muß ihm da nicht ein Enkel hochwillkommen sein? Das bliebe ausschlaggebend, auch wenn ich in Lothar die Anlage zum Vagabunden bedrohlich keimen sähe. Aber ich fürchte nichts der Art. Seine Mutter war aus hochansehnlicher Familie. Nur deren tragischer Untergang hatte sie zu den Kunstreitern verschlagen. Auch im abenteuerlichen Leben und Flitterputz der Gauklerin war sie ein edelherziges Weib geblieben voll selbstloser Hingebung für den Geliebten. Für ihr Kind sorgte sie mit rührender Aufopferung und noch in der qualvollen Todesstunde mit heldenmütiger Tapferkeit.«

»Innigsten Dank, daß Sie mir meinen alten, lieben Ulrich Sebald hergestellt haben. Bitte mir zu verzeihen, daß es nöthig war.«

»Zur Buße dessen sollen Sie mir jetzt einen Dienst leisten.«

»Mit Freuden. Welchen?«

»Ich bin entschlossen, zu Gunsten Lothar's unverzüglich zu handeln. Dazu bedarf ich der Gegenwart des Kindes. Sie sollen es holen. Reisen Sie noch heute mit der Abendpost. Den Vollmachtbrief an den Pfarrer von Tannkirch können Sie nach einer Stunde in Empfang nehmen. Wollen Sie?«

»Ob ich will! Mein Prinzchen Loa holen! Das ist nicht Buße, sondern ein königliches Huldgeschenk. – Ich habe die Forelle aus dem Mühlenedder bei Tannkirch oft genug verwünscht als bösen Kobold, der mir Alpdrücken angethan mit der unbegehrten Mitwissenschaft Ihres Geheimnisses. Nun verdanken wir meinem Angelwurf und Loa's tapferem Wassersprung einen Segensfang. – Was aber soll geschehen mit dem ertappten Blaps?«

»Vorläufig nichts. Dieser unselige Sklave seines Grimmes aus Eitelkeit ist nicht nur so feinhörig, sondern auch so blind wie ein Maulwurf. Er sieht es nicht, daß er selbst das Opfer seiner Rachsucht sein wird. Mir aber dämmert's, daß mir eine Wohlthat bevorsteht, wenn es diesem Blaps gelingt, durchzusetzen, wozu bisher meine Mutter, mein Bruder, mein Arzt, nicht minder Sie, lieber Mottwitz, neuerdings, im Vertrauen gesagt, auch die Dukatendame, erfolglos verschworen waren: meinen Exodus.«


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