Rudolf von Ihering
Der Kampf um's Recht
Rudolf von Ihering

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Sowie die eigenthümlichen Bedingungen des Standes und Berufes gewissen Instituten des Rechts eine erhöhte Bedeutung zu verleihen und damit folgeweise die Empfindlichkeit des Rechtsgefühls gegen eine Verletzung derselben zu steigern vermögen, so können dieselben umgekehrt für beide auch eine Abschwächung herbeiführen. Die dienende Classe kann das Gefühl der Ehre nicht in derselben Weise unterhalten, wie die übrigen Schichten der Gesellschaft; ihre Stellung bringt gewisse Demüthigungen mit sich, gegen die der Einzelne, so lange der Stand selber sie erduldet, vergebens sich auflehnt; einem Individuum mit regem Ehrgefühl in solcher Stellung bleibt nichts übrig, als entweder seine Ansprüche auf das bei Seinesgleichen übliche Mass herabzusetzen oder den Beruf aufzugeben. Nur dann, wenn eine derartige Empfindungsweise eine allgemeine wird, öffnet sich für den Einzelnen die Aussicht, seine Kraft, statt im nutzlosen Kampfe zu erschöpfen, im Verein mit Gleichgesinnten fruchtbar dahin zu verwerthen, um das Niveau der Standesehre, ich meine nicht bloss das subjective Gefühl für Ehre, sondern ihre objective Anerkennung von Seiten der übrigen Classen der Gesellschaft und der Gesetzgebung zu erhöhen. Nach dieser Seite hin hat sich die Stellung der dienenden Classe in den letzten fünfzig Jahren erheblich verbessert.

Was ich von der Ehre gesagt habe, gilt auch vom Eigenthum. Auch die Reizbarkeit in Bezug auf das Eigenthum, der rechte Eigenthumssinn – ich verstehe darunter nicht den Erwerbstrieb, das Jagen nach Geld und Gut, sondern jenen mannhaften Sinn des Eigenthümers, als dessen mustergültigen Repräsentanten ich oben den Bauern hingestellt habe, des Eigenthümers, der sein Eigen vertheidigt, nicht weil es ein Werthobject ist, sondern weil es sein eigen ist, – auch dieser Sinn kann unter dem Einfluss ungesunder Zustände und Verhältnisse sich abschwächen. Was hat die Sache, die mein ist, so hört man gar Manche sich äussern, mit meiner Person zu schaffen? Sie dient mir als Mittel des Lebensunterhaltes, des Erwerbes, des Genusses; aber so wenig es eine sittliche Pflicht für mich ist, viel Geld zu erwerben, so wenig kann es als solche gelten, wegen einer Bagatelle einen Process zu beginnen, der mich Geld und Zeit und meine Behaglichkeit kostet. Das einzige Motiv, das mich bei der rechtlichen Behauptung des Vermögens zu leiten hat, ist dasselbe, welches mich bei dem Erwerb und der Verwendung desselben bestimmt: mein Interesse – ein Process um Mein und Dein ist eine reine Interessenfrage.

Ich meinerseits kann in einer solchen Auffassung vom Eigenthum nur eine Entartung des gesunden Eigenthumssinnes und den Grund davon nur in einer Verschiebung der naturgemässen Verhältnisse des Eigenthums erblicken. Nicht den Reichthum und den Luxus mache ich für sie verantwortlich, – in beiden erblicke ich gar keine Gefahr für den Rechtssinn des Volkes – sondern die Unsittlichkeit des Erwerbes. Die historische Quelle und der ethische Rechtfertigungsgrund des Eigenthums ist die Arbeit, ich meine nicht bloss die der Hände und Arme, sondern auch die des Geistes und Talentes, und ich erkenne nicht bloss dem Arbeiter selber, sondern auch seinen Erben ein Recht auf das Arheitsproduct zu, d. h. ich finde in dem Erbrecht eine nothwendige Consequenz des Arbeitsprincips, denn ich halte dafür, dass man dem Arbeiter nicht verwehren darf, den Genuss sich selber zu versagen und wie bei seinen Lebzeiten so auch nach seinem Tode auf andere Personen zu übertragen. Nur durch die dauernde Verbindung mit der Arbeit kann sich das Eigenthum frisch und gesund erhalten, nur an dieser seiner Quelle, aus der es unausgesetzt sich von neuem erzeugt und erfrischt, zeigt es sich klar und durchsichtig bis auf den Grund als das, was es dem Menschen ist. Aber je weiter der Strom sich von dieser Quelle entfernt und abwärts in die Regionen des leichten oder gar mühelosen Erwerbs gelangt, desto trüber wird er, bis er endlich im Schlamm des Börsenspiels und des betrügerischen Actienschwindels jede Spur von dem, was er ursprünglich war, verliert. An dieser Stelle, wo jeder Rest der sittlichen Idee des Eigenthums abhanden gekommen ist, kann freilich von einem Gefühl der sittlichen Verpflichtung der Vertheidigung desselben nicht mehr die Rede sein; für den Eigenthumssinn, wie er in Jedem lebt, der sein Brod im Schweisse seines Angesichts verdienen muss, fehlt es hier an jeglichem Verständniss. Das Schlimmste daran ist leider, dass die durch solche Gründe erzeugte Stimmung und Gewohnheit des Lebens sich nach und nach auch Kreisen mittheilt, in denen sie sich ohne den Contact mit andern spontan nicht erzeugt haben würde.Einen interessanten Beitrag dazu bieten unsere kleinen deutschen Universitätsstädte dar, die vorzugsweise von den Studirenden leben; die Stimmung und die Gewohnheiten der letzteren in Bezug auf das Geldausgeben theilen sich unwillkürlich auch der bürgerlichen Bevölkerung mit. Den Einfluss der durch das Börsenspiel erworbenen Millionen verspürt man bis in die Hütten hinab, und derselbe Mann, der, in eine andere Umgebung verpflanzt, an seiner eigenen Erfahrung des Segens inne geworden wäre, der auf der Arbeit ruht, empfindet dieselbe unter dem entnervenden Druck einer solchen Atmosphäre nur noch als Fluch – der Kommunismus gedeiht nur in jenem Sumpfe, in dem die Eigenthumsidee sich völlig verlaufen hat, an ihrer Quelle kennt man ihn nicht. Die Erfahrung, dass die Eigenthumsanschauung der herrschenden Kreise sich nicht auf letztere beschränkt, sondern sich auch den übrigen Classen der Gesellschaft mittheilt, bewährt sich in gerade entgegengesetzter Richtung auf dem Lande. Wer hier dauernd lebt und nicht etwa ausser aller und jeder Verbindung mit dem Bauern steht, wird, auch wenn seine Verhältnisse und seine Persönlichkeit dies im Uebrigen nicht begünstigen, unwillkürlich Etwas von dem Eigenthumssinn und der Sparsamkeit des Bauern annehmen. Derselbe Durchschnittsmann unter übrigens völlig gleichen Verhältnissen wird auf dem Lande mit dem Bauern sparsam, in einer Stadt wie in Wien mit dem Millionär Verschwender.

Woher aber auch immer jene Lauheit der Gesinnung stammen möge, die der Bequemlichkeit zu Liebe dem Kampfe um das Recht aus dem Wege geht, insofern nicht der Werth des Gegenstandes sie zum Widerstände reizt, für uns kommt es nur darauf an, sie zu erkennen und zu bezeichnen als das, was sie ist. Die praktische Lebensphilosophie, welche sie predigt, ist nichts anderes als die Politik der Feigheit. Auch der Feige, der aus der Schlacht flieht, rettet, was Andre opfern: sein Leben; aber er rettet es um den Preis seiner Ehre. Nur der Umstand, dass die Andern Stand halten, schützt ihn und das Gemeinwesen gegen die Folgen, die seine Handlungsweise sonst unabwendbar nach sich ziehen müsste; dächten Alle wie er, so wären sie Alle verloren. Ganz dasselbe gilt von jener feigen Preisgabe des Rechts. Als Handlung eines Einzelnen unschädlich, würde sie, zur allgemeinen Maxime des Handelns erhoben, den Untergang des Rechts bedeuten. Auch in diesem Verhältniss wird der Schein der Unschädlichkeit einer solchen Handlungsweise nur dadurch möglich, dass der Kampf des Rechts gegen das Unrecht im Ganzen und Grossen durch sie nicht weiter berührt wird. Denn einmal ist derselbe nicht bloss auf die Individuen gestellt, sondern im entwickelten Staatswesen betheiligt sich an ihm in ausgedehntester Weise auch die Staatsgewalt, indem sie alle schwereren Vergehungen gegen das Recht des Individuums, sein Leben, seine Person und sein Vermögen aus eignem Antriebe verfolgt und straft; Polizei und Strafrichter nehmen dem Subjecte schon im voraus das schwerste Stück Arbeit ab. Aber auch in Bezug auf diejenigen Rechtsverletzungen, deren Verfolgung ausschliesslich dem Individuum überlassen bleibt, ist dafür gesorgt, dass der Kampf nie abreisse, denn nicht Jeder befolgt die Politik des Feigen, und selbst letzterer stellt sich wenigstens dann unter die Kämpfer, wenn der Werth des Streitgegenstandes seine Bequemlichkeit überwindet. Aber denken wir uns Zustände, wo der Rückhalt hinwegfällt, den das Subject an der Polizei und Strafrechtspflege hat, versetzen wir uns in die Zeiten, wo, wie im alten Rom, die Verfolgung des Diebes und Räubers rein Sache des Verletzten war – wer sieht nicht ein, wohin hier jene Preisgabe des Rechts hätte führen müssen? Wohin anders als zur Ermuthigung der Diebe und Räuber? Ganz dasselbe gilt für das Völkerleben. Denn hier ist jedes Volk ganz auf sich selbst gestellt, keine höhere Macht nimmt ihm die Sorge für die Behauptung seines Rechts ab, und ich brauche nur an mein obiges Beispiel von der Quadratmeile (S. 17) zu erinnern, um zu zeigen, was jene Lebensanschauung, welche den Widerstand gegen das Unrecht nach dem materiellen Werth des Streitobjects bemessen will, für das Völkerleben bedeutet. Eine Maxime aber, welche überall, wo wir sie auf die Probe stellen, sich als eine völlig undenkbare, als Auflösung und Vernichtung des Rechts erweist, kann auch da, wo ausnahmsweise ihre letalen Folgen durch die Gunst anderer Verhältnisse paralysirt werden, unmöglich als die richtige bezeichnet werden. Ich werde unten Gelegenheit haben, den verderblichen Einfluss, den sie selbst in einer solchen relativ günstigen Lage ausübt, zu zeigen.

Weisen wir sie also von uns: diese Moral der Bequemlichkeit, die kein Volk, kein Individuum von gesundem Rechtsgefühl je zu der seinigen gemacht hat. Sie ist das Anzeichen und das Product eines kranken, lahmen Rechtsgefühls, nichts als der krasse, nackte Materialismus auf dem Gebiete des Rechts. Auch letzterer hat auf diesem Gebiete seine volle Berechtigung, aber innerhalb bestimmter Gränzen. Der Erwerb des Rechts, die Benutzung und selbst die Geltendmachung desselben in Fällen des rein objectiven Unrechts (S. 21, 25) ist eine reine Interessenfrage – das Interesse ist der praktische Kern des Rechts im subjectiven Sinn.Weiter ausgeführt in meinem »Geist des röm. R.« III, § 60. Aber der Willkür gegenüber, die ihre Hand gegen das Recht erhebt, verliert jene materialistische Betrachtung, welche die Rechtsfrage mit der Interessenfrage identificirt, ihre Berechtigung, denn der Schlag, den die nackte Willkür dem Rechte versetzt, trifft in und mit letzterem zugleich die Person.

Es ist gleichgültig, welche Sache den Gegenstand des Rechts bildet. Triebe der blosse Zufall sie in den Kreis meines Rechts, es möchte darum sein, dass man sie ohne Verletzung meiner selbst wieder daraus entfernen könnte; aber nicht der Zufall, sondern mein Wille knüpft das Band zwischen ihr und mir, und auch er nur um den Preis vorangegangener eigener oder fremder Arbeit – es ist ein Stück der eigenen oder fremden Arbeitsvergangenheit, das ich in ihr besitze und behaupte. Indem ich sie zu der meinigen gemacht habe, habe ich ihr den Stempel meiner Person aufgedrückt; wer sie antastet, tastet letztere an, der Schlag, den man auf sie führt, trifft mich selber, der ich in ihr anwesend bin – das Eigenthum ist nur die sachlich erweiterte Peripherie meiner Person.

Dieser Zusammenhang des Rechts mit der Person verleiht allen Rechten, welcher Art sie auch seien, jenen incommensurablen Werth, den ich im Gegensatz zu dem rein substantiellen Werth, den sie vom Standpunkt des Interesses aus haben, als idealen Werth bezeichne. Ihm entstammt jene Hingebung und Energie in der Behauptung des Rechts, die ich oben geschildert habe. Diese ideale Auffassung des Rechts bildet nicht das Vorrecht höher angelegter Naturen, sondern der Roheste ist ihr eben so zugänglich wie der Gebildetste, der Reichste wie der Aermste, die wilden Naturvölker wie die civilisirtesten Nationen, und gerade darin offenbart sich so recht, wie sehr dieser Idealismus im innersten Wesen des Rechts begründet ist – er ist nichts als die Gesundheit des Rechtsgefühls. So erhebt dasselbe Recht, das scheinbar den Menschen ausschliesslich in die niedere Region des Egoismus und der Berechnung verweist, ihn andererseits wieder auf eine ideale Höhe, wo er alles Klügeln und Berechnen, das er dort gelernt hat, und den Massstab des Nutzens, nach dem er sonst Alles zu bemessen pflegt, vergisst, um rein und ganz für eine Idee einzutreten; Prosa in der Region des rein Sachlichen, wird das Recht in der Sphäre des Persönlichen, im Kampf um's Recht zum Zweck der Behauptung der Persönlichkeit, zur Poesie – der Kampf um's Recht ist die Poesie des Charakters.

Und was ist es, das all' dies Wunder thut? Nicht die Erkenntniss, nicht die Bildung, sondern das einfache Gefühl des Schmerzes. Der Schmerz ist der Nothschrei und der Hülferuf der bedrohten Natur. Das gilt, wie vom physischen, so auch vom moralischen Organismus (S. 27), und was dem Mediciner die Pathologie des menschlichen Organismus, das ist die Pathologie des Rechtsgefühls dem Juristen und Rechtsphilosophen, oder richtiger: das sollte sie ihm sein, denn es wäre verkehrt, zu behaupten, dass sie es ihm bereits geworden sei. In ihr steckt das ganze Geheimniss des Rechts. Der Schmerz, den der Mensch bei der Verletzung seines Rechts empfindet, enthält das gewaltsam erpresste, instinctive Selbstgeständniss über das, was das Recht ihm ist, zunächst was es ihm, dem Einzelnen, sodann aber auch, was es der menschlichen Gesellschaft ist. In diesem einen Moment kommt in Form des Affects, des unmittelbaren Gefühls von der wahren Bedeutung und dem wahren Wesen des Rechts mehr zum Vorschein als während langer Jahre ungestörten Genusses. Wer nicht an sich selbst oder an einem Andern diesen Schmerz erfahren hat, weiss nicht, was das Recht ist, und wenn er auch das ganze Corpus juris im Kopf hätte. Nicht der Verstand, nur das Gefühl vermag uns diese Frage zu beantworten, darum hat die Sprache mit Recht den psychologischen Urquell alles Rechts als Rechtsgefühl bezeichnet. Rechtsbewusstsein, rechtliche Ueberzeugung sind Abstractionen der Wissenschaft, die das Volk nicht kennt, – die Kraft des Rechts ruht im Gefühl, ganz so wie die der Liebe; der Verstand und die Einsicht kann das mangelnde Gefühl nicht ersetzen. Aber wie die Liebe sich oft selber nicht kennt, und ein einziger Moment ausreicht, sie zum vollen Bewusstsein ihrer selbst zu bringen, so weiss auch das Rechtsgefühl im unversehrten Zustande regelmässig nicht, was es ist und in sich birgt, aber die Rechtsverletzung ist die peinliche Frage, die es zum Sprechen nöthigt, und die Wahrheit an den Tag und die Kraft zum Vorschein bringt. Worin diese Wahrheit bestehe, habe ich früher (S. 20) bereits angegeben, – das Recht ist die moralische Lebensbedingung der Person, die Behauptung desselben ihre eigene moralische Selbsterhaltung.

Die Gewalt, mit der das Rechtsgefühl gegen eine ihm widerfahrene Verletzung thatsächlich reagirt, ist der Prüfstein seiner Gesundheit. Der Grad des Schmerzes, den es empfindet, verkündet ihm, welchen Werth es auf das bedrohte Gut legt. Aber den Schmerz empfinden, ohne die darin liegende Mahnung zur Abwehr der Gefahr zu beherzigen, ihn geduldig ertragen, ohne sich zu wehren, ist eine Verläugnung des Rechtsgefühls, entschuldbar vielleicht im einzelnen Fall durch die Umstände, aber auf die Dauer nicht möglich ohne die nachtheiligsten Folgen für das Rechtsgefühl selber. Denn das Wesen des letzteren ist die That – wo es der That entbehren muss, verkümmert es und stumpft sich nach und nach völlig ab, bis es zuletzt den Schmerz kaum noch empfindet. Reizbarkeit, d. h. Fähigkeit, den Schmerz der Rechtskränkung zu empfinden, und Thatkraft, d. h. der Muth und die Entschlossenheit, den Angriff zurückzuweisen, sind in meinen Augen die zwei Kriterien des gesunden Rechtsgefühls.

Ich muss es mir hier versagen, dieses ebenso interessante wie ausgibige Thema der Pathologie des Rechtsgefühls des Weiteren auszuführen, aber einige Andeutungen mögen mir erlaubt sein.

Die Reizbarkeit des Rechtsgefühls ist nicht in allen Individuen dieselbe, sondern sie schwächt sich ab und steigert sich, je nach dem Masse, in welchem dieses Individuum, dieser Stand, dieses Volk die Bedeutung des Rechts als einer moralischen Existenzbedingung seiner selbst empfindet, und zwar nicht bloss des Rechts im allgemeinen, sondern auch des einzelnen bestimmten Rechtsinstituts. In Bezug auf das Eigenthum und die Ehre ist dies oben (S. 28‑31) nachgewiesen, als drittes Beispiel füge ich hier noch die Ehe hinzu – welche Reflexionen knüpfen sich an die Art, wie verschiedene Individuen, Völker, Gesetzgebungen sich dem Ehebruch gegenüber verhalten!

Das zweite Moment beim Rechtsgefühl: die Thatkraft, ist rein Sache des Charakters; das Verhalten eines Menschen oder Volkes angesichts einer Rechtskränkung ist der sicherste Prüfstein seines Charakters. Verstehen wir unter Charakter die volle, in sich ruhende, sich selbst behauptende Persönlichkeit, so gibt es keinen besseren Anlass, diese Eigenschaft zu erproben, als wenn die Willkür mit dem Rechte zugleich die Person antastet. Die Formen, in denen das verletzte Rechts- und Persönlichkeitsgefühl dagegen reagirt, ob unter dem Einfluss des Affects in wilder, leidenschaftlicher That, ob mit massvollem, aber nachhaltigem Widerstand, sind für die Intensität der Kraft des Rechtsgefühls in keiner Weise massgebend, und es gäbe keinen grösseren Irrthum, als dem wilden Volke oder dem Ungebildeten, bei dem die erstere Form die normale ist, ein regeres Rechtsgefühl zuzuschreiben als dem Gebildeten, der den zweiten Weg einschlägt. Die Formen sind mehr oder weniger Sache der Bildung und des Temperaments; der Wildheit, Heftigkeit, Leidenschaftlichkeit steht die feste Entschlossenheit, Unbeugsamkeit, Nachhaltigkeit des Widerstandes vollkommen gleich. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Das hiesse, dass die Individuen und Völker um eben so viel an ihrem Rechtsgefühl einbüssten, als sie an Bildung zunähmen. Ein Blick auf die Geschichte und das bürgerliche Leben reicht aus, um diese Meinung zu widerlegen. Ebenso wenig ist der Gegensatz des Reichthums und der Armuth dafür entscheidend. So höchst verschieden auch der Werthmassstab ist, nach dem der Reiche und der Arme die Dinge bemisst, so kommt derselbe doch, wie bereits oben ausgeführt, bei der Missachtung des Rechts gar nicht zur Geltung, denn hier handelt es sich nicht um den materiellen Werth der Sache, sondern um den idealen Werth des Rechts, um die Energie des Rechtsgefühls in besonderer Richtung auf das Vermögen, und nicht wie das Vermögen, sondern wie das Rechtsgefühl beschaffen ist, gibt dabei den Ausschlag. Den besten Beweis dafür liefert das englische Volk; sein Reichthum hat seinem Rechtsgefühl keinen Abbruch gethan, und mit welcher Energie sich dasselbe selbst in blossen Eigenthumsfragen bewährt, davon haben wir auf dem Continent oft genug Gelegenheit, uns zu überzeugen an der typisch gewordenen Figur des reisenden Engländers, der dem Versuch einer Prellerei von Seiten der Gastwirthe und Lohnkutscher mit einer Mannhaftigkeit entgegentritt, als gelte es, das Recht Altenglands zu vertheidigen, der zur Noth seine Abreise verschiebt, Tage lang am Orte bleibt und den zehnfachen Betrag von dem ausgibt, was er sich zu zahlen weigert. Das Volk lacht darüber und versteht ihn nicht, – es wäre besser, wenn es ihn verstände. Denn in den wenigen Gulden, die der Mann hier vertheidigt, steckt in der That Altengland; daheim, in seinem Vaterlande begreift ihn ein Jeder und wagt es daher auch nicht so leicht, ihn zu übervortheilen. Ich versetze einen Oesterreicher von derselben Stellung und denselben Vermögensverhältnissen in dieselbe Situation; wie wird er handeln? Wenn ich meinen eigenen Erfahrungen in dieser Beziehung trauen darf, so werden es von Hundert nicht Zehn sein, die das Beispiel des Engländers nachahmen. Die Andern scheuen die Unannehmlichkeit des Streites, das Aufsehen, die Möglichkeit der Missdeutung, der sie sich aussetzen könnten, eine Missdeutung, die ein Engländer in England gar nicht zu befürchten wagt, und die er bei uns ruhig in den Kauf nimmt: kurz sie zahlen. Aber in dem Gulden, den der Engländer verweigert, und den der Oesterreicher zahlt, liegt mehr, als man glaubt, es liegt darin ein Stück England und Oesterreich, liegen Jahrhunderte ihrer beiderseitigen politischen Entwicklung und ihres socialen Lebens.


Ich habe im bisherigen den ersten der beiden oben (S. 20) aufgestellten Sätze auszuführen gesucht: der Kampf um's Recht ist eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst. Ich wende mich nunmehr dem zweiten zu: die Behauptung des Rechts ist eine Pflicht gegen das Gemeinwesen.

Um diesen Satz zu begründen, bin ich genöthigt, das Verhältniss des Rechts im objectiven zu dem im subjectiven Sinn etwas näher in's Auge zu fassen. Worin besteht dasselbe? Ich glaube, die gangbare Vorstellung völlig getreu wiederzugeben, wenn ich sage: darin, dass ersteres die Voraussetzung des letzteren bildet; ein concretes Recht ist nur da vorhanden, wo die Bedingungen vorliegen, an welche der abstracte Rechtssatz das Dasein desselben geknüpft hat. Damit ist nach der herrschenden Lehre die gegenseitige Beziehung beider zu einander vollständig erschöpft. Aber diese Vorstellung ist eine durchaus einseitige, sie betont ausschliesslich die Abhängigkeit des concreten Rechtes vom abstracten, übersieht aber, dass ein solches Abhängigkeitsverhältniss nicht minder in entgegengesetzter Richtung obwaltet. Das concrete Recht empfängt nicht bloss Leben und Kraft vom abstracten, sondern gibt ihm dasselbe zurück. Das Wesen des Rechts ist praktische Verwirklichung. Eine Rechtsnorm, welche derselben nie theilhaftig geworden oder derselben wieder verlustig gegangen ist, hat auf diesen Namen keinen Anspruch mehr, sie ist eine lahme Feder in der Maschinerie des Rechts geworden, die nicht mitarbeitet, und die man herausnehmen kann, ohne dass sich das Mindeste ändert. Dieser Satz gilt ohne Einschränkung für alle Theile des Rechts, für das Staatsrecht so gut wie für das Criminalrecht und Privatrecht, und das römische Recht hat ihn ausdrücklich sanctionirt, indem es die desuetudo als Aufhebungsgrund der Gesetze anerkennt; ihm entspricht der Untergang der concreten Rechte durch dauernde Nichtausübung (nonusus). Während nun die rechtliche Verwirklichung des öffentlichen Rechts und des Strafrechts in die Form einer Pflicht der staatlichen Behörden, ist die des Privatrechts in die Form eines Rechts der Privatpersonen gebracht, d. h. ausschliesslich ihrer Initiative und Selbstthätigkeit überlassen. In jenem Fall hängt die rechtliche Verwirklichung des Gesetzes davon ab, dass die Behörden und Beamten des Staats ihre Pflicht erfüllen, in diesem Fall davon, dass die Privatpersonen ihr Recht geltend machen. Unterlassen letztere dies bei irgend einem Verhältniss dauernd und allgemein, sei es aus Unbekanntschaft mit ihrem Recht, sei es aus Bequemlichkeit oder Feigheit, so ist der Rechtssatz damit lahm gelegt. So dürfen wir sagen: die Wirklichkeit, die praktische Kraft der Sätze des Privatrechts documentirt sich in und an der Geltendmachung der concreten Rechte, und so wie letztere einerseits ihr Leben vom Gesetze erhalten, so geben sie ihm andererseits dasselbe zurück; das Verhältniss des objectiven oder abstracten Rechts und der subjectiven concreten Rechte ist der Kreislauf des Blutes, das vom Herzen ausströmt und zum Herzen zurückströmt.


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