Rudolf von Ihering
Der Kampf um's Recht
Rudolf von Ihering

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Wie erklären wir uns eine solche, vom Standpunkt einer verständigen Interessenberechnung geradezu widersinnige Handlungsweise?

Die Antwort, die man darauf gewöhnlich zu hören bekommt, ist bekannt: es ist das leidige Uebel der Processsucht, der Rechthaberei, die reine Lust am Streit, der Drang, am Gegner sein Müthchen zu kühlen, selbst auf die Gewissheit hin, dies eben so theuer, vielleicht noch theurer bezahlen zu müssen als jener.

Lassen wir einmal den Streit der beiden Privatleute aus den Augen, setzen wir an ihre Stelle zwei Völker. Das eine hat dem andern widerrechtlich eine Quadratmeile öden, werthlosen Landes genommen; soll letzteres den Krieg beginnen? Betrachten wir die Frage ganz von demselben Standpunkt, von dem aus die Theorie der Processsucht sie bei dem Bauern beurtheilt, dem der Nachbar einige Fuss von seinem Acker abgepflügt oder Steine auf sein Feld geworfen hat. Was bedeutet eine Quadratmeile öden Landes gegen einen Krieg, der Tausenden das Leben kostet, Kummer und Elend in Hütten und Paläste wirft, Millionen und Milliarden des Staatsschatzes verschlingt und möglicherweise die Existenz des Staates bedroht! Welche Thorheit, für ein solches Object solche Opfer zu bringen!

So müsste das Urtheil lauten, wenn der Bauer und das Volk mit demselben Masse gemessen würden. Gleichwohl wird Niemand dem Volke denselben Rath ertheilen wie dem Bauer. Jeder fühlt, dass ein Volk, welches zu einer solchen Rechtsverletzung schwiege, sein eigenes Todesurtheil besiegeln würde. Einem Volke, das sich von seinem Nachbarn ungestraft eine Quadratmeile entreissen lässt, werden auch die übrigen genommen, bis es Nichts mehr sein eigen nennt und als Staat zu existiren aufgehört hat, und ein solches Volk hat auch kein besseres Loos verdient.

Aber wenn das Volk sich wehren soll wegen der Quadratmeile, ohne nach dem Werth derselben zu fragen, warum nicht auch der Bauer wegen des Streifen Landes? Oder sollen wir ihn mit dem Spruch abfertigen: quod licet Jovi, non licet bovi? Aber so wenig das Volk um der Quadratmeile, sondern um seiner selbst willen, seiner Ehre und seiner Unabhängigkeit wegen kämpft, so wenig handelt es sich in Processen, in denen es dem Kläger darum zu thun ist, sich einer schnöden Missachtung des Rechts zu erwehren, um das geringfügige Streitobject, sondern um einen idealen Zweck: die Behauptung der Person selber und ihres Rechtsgefühles. Gegenüber diesem Zweck fallen in den Augen des Berechtigten alle Opfer und Unannehmlichkeiten, die der Process in seinem Gefolge hat, gar nicht weiter in's Gewicht – der Zweck macht die Mittel bezahlt. Nicht das nüchterne Geldinteresse ist es, das den Verletzten antreibt, den Process zu erheben, sondern der moralische Schmerz über das erlittene Unrecht; nicht darum ist es ihm zu thun, bloss das Object wieder zu erlangen – er hat es vielleicht, wie dies oft in solchen Fällen zur Constatirung des wahren Processmotivs geschieht, von vornherein einer Armenanstalt gewidmet – sondern darum, sein gutes Recht zur Geltung zu bringen. Eine innere Stimme sagt ihm, dass er nicht zurücktreten darf, dass es sich für ihn nicht um das werthlose Object, sondern um seine Persönlichkeit, seine Ehre, sein Rechtsgefühl, seine Selbstachtung handelt – kurz, der Process gestaltet sich für ihn aus einer blossen Interessenfrage zu einer Charakterfrage: Behauptung oder Preisgebung der Persönlichkeit.

Nun zeigt aber die Erfahrung nicht minder, dass manche Andere in gleicher Lage die gerade entgegengesetzte Entscheidung treffen – der Friede ist ihnen lieber als ein mühsam behauptetes Recht. Wie sollen wir uns mit unserm Urtheil dazu stellen? Sollen wir einfach sagen: das ist Sache des individuellen Geschmacks und Temperaments, der Eine ist streitsüchtiger, der Andere friedfertiger; vom Standpunkt des Rechts aus ist Beides in gleicher Weise zu respectiren, denn das Recht überlässt dem Berechtigten die Wahl, ob er sein Recht geltend machen oder es im Stich lassen will? Ich halte diese Ansicht, der man bekanntlich im Leben nicht selten begegnet, für eine höchst verwerfliche, dem innersten Wesen des Rechts widerstreitende; wäre es denkbar, dass sie irgendwo die allgemeine würde, es wäre um das Recht selber geschehen, denn während das Recht zu seinem Bestehen den mannhaften Widerstand gegen das Unrecht nöthig hat, predigt sie die feige Flucht vor demselben. Ich stelle ihr den Satz gegenüber: Der Widerstand gegen ein schnödes, die Person selber in die Schranken forderndes Unrecht, d. h. gegen eine Verletzung des Rechts, welche in der Art ihrer Vornahme den Charakter einer Missachtung desselben, einer persönlichen Kränkung an sich trägt, ist Pflicht. Er ist Pflicht des Berechtigten gegen sich selber – denn er ist ein Gebot der moralischen Selbsterhaltung. Er ist Pflicht gegen das Gemeinwesen – denn er ist nöthig, damit das Recht reale Wahrheit sei.


Der Kampf um's Recht ist eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst.

Behauptung der eigenen Existenz ist das höchste Gesetz der ganzen belebten Schöpfung; in dem Triebe der Selbsterhaltung gibt es sich kund in jeder Creatur. Für den Menschen aber handelt es sich nicht bloss um das physische Leben, sondern um seine moralische Existenz, eine der Bedingungen derselben aber ist die Behauptung des Rechts. In dem Recht besitzt und vertheidigt der Mensch seine moralische Daseinsbedingung – ohne das Recht sinkt er auf die Stufe des Thieres herab,In der Novelle: Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist, auf die ich unten noch des Nähern zurückkommen werde, lässt der Dichter seinen Helden sagen: Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füssen getreten werden soll, als ein Mensch! wie denn ja die Römer ganz consequenterweise die Sklaven vom Standpunkt des abstracten Rechts aus auf Eine Stufe mit den Thieren stellten. Behauptung des Rechts ist demnach eine Pflicht der moralischen Selbsterhaltung – gänzliche Aufgabe desselben, jetzt zwar unmöglich, einst aber möglich, moralischer Selbstmord. Das Recht aber ist nur die Summe seiner einzelnen Institute, jedes derselben enthält eine eigenthümliche physische oder moralische Daseinsbedingung:Den Nachweis habe ich in meinem Werke über den Zweck im Recht gegeben (B. 1, S. 434 flg., Leipz. 1877), und ich habe dementsprechend das Recht definirt als die in Form des Zwanges durch die Staatsgewalt verwirklichte Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft. das Eigenthum so gut wie die Ehe, der Vertrag so gut wie die Ehre – ein Verzicht auf eine einzelne derselben ist daher rechtlich ebenso unmöglich wie ein Verzicht auf das gesammte Recht. Aber was allerdings möglich ist, das ist der Angriff eines Andern auf eine dieser Bedingungen, und diesen Angriff zurückzuschlagen hat das Subject die Pflicht. Denn mit der blossen abstracten Gewährung dieser Lebensbedingungen von Seiten des Rechts ist es nicht gethan, sie müssen concret vom Subject behauptet werden; den Anlass dazu aber gibt die Willkür, wenn sie es wagt, dieselben anzutasten.

Aber nicht jedes Unrecht ist Willkür, d. h. eine Auflehnung gegen die Idee des Rechts. Der Besitzer meiner Sache, der sich für den Eigenthümer hält, negirt in meiner Person nicht die Idee des Eigenthums, er ruft sie vielmehr für sich selber an; der Streit zwischen uns Beiden dreht sich bloss darum, wer der Eigenthümer ist. Aber der Dieb und der Räuber stellen sich ausserhalb des Eigenthums, sie negiren in meinem Eigenthum zugleich die Idee desselben und damit eine wesentliche Existenzbedingung meiner Person. Man denke sich ihre Handlungsweise als eine allgemeine, als Maxime des Rechts, und das Eigenthum ist principiell und praktisch negirt. Darum enthält ihre That nicht bloss einen Angriff gegen meine Sache, sondern zugleich gegen meine Person, und wenn es meine Pflicht ist, letztere zu behaupten, so erstreckt sich dieselbe auch auf die Behauptung der Bedingungen, ohne welche die Person nicht existiren kann – in seinem Eigenthum vertheidigt der Angegriffene sich selber, seine Persönlichkeit. Nur der Conflict der Pflicht der Behauptung des Eigenthums mit der höhern der Erhaltung des Lebens, wie er in dem Fall eintritt, wenn dem Bedrohten der Räuber die Alternative zwischen Leben und Geld stellt, kann die Preisgabe des Eigenthums rechtfertigen. Aber abgesehen von diesem Fall ist es Pflicht eines Jeden gegen sich selbst, eine Missachtung des Rechts in seiner Person mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen; durch Duldung derselben statuirt er einen einzelnen Moment der Rechtlosigkeit in seinem Leben. Dazu darf aber Niemand selber die Hand bieten. Ganz anders ist die Lage des Eigenthümers dem gutgläubigen Besitzer seiner Sache gegenüber. Hier ist die Frage, was er zu thun hat, keine Frage seines Rechtsgefühls, seines Charakters, seiner Persönlichkeit, sondern eine reine Interessenfrage, denn hier steht für ihn nichts weiter auf dem Spiel als der Werth der Sache, und da ist es vollkommen gerechtfertigt, dass er Gewinn und Einsatz und die Möglichkeit eines doppelten Ausganges gegen einander abwägt und darnach seinen Entschluss trifft: den Process erhebt, von ihm absteht, sich vergleicht.Die obige Stelle hätte mich gegen die Unterstellung schützen sollen, als ob ich schlechthin den Kampf um's Recht predigte, ohne den Conflict, durch den er hervorgerufen wird, in Betracht zu ziehen. Nur wo die Person selber in ihrem Rechte mit Füssen getreten wird, habe ich die Behauptung des Rechts für eine Selbstbehauptung der Person und damit für eine Ehrensache und moralische Pflicht erklärt. Wenn man über diesen von mir so scharf betonten Unterschied hinwegsehen und mir die absurde Ansicht unterschieben konnte, als ob Zank und Streit etwas Schönes, und als ob Processsucht und Rechthaberei eine Tugend sei, so bleibt mir zur Erklärung dafür nur die Alternative übrig, entweder der Annahme einer Unehrlichkeit, welche eine unbequeme Ansicht entstellt, um sie widerlegen zu können, oder eine Liederlichkeit im Lesen, welche, wenn sie hinten im Buche anlangt, vergessen hat, was sie vorne gelesen hat. Der Vergleich ist der Coincidenzpunkt einer derartigen, von beiden Seiten angestellten Wahrscheinlichkeitsberechnnng, und unter Prämissen, wie ich sie hier voraussetze, nicht bloss ein zulässiges, sondern das richtigste Lösungsmittel des Streites. Wenn er dennoch oft so schwer zu erzielen ist, ja wenn beide Parteien in der Verhandlung mit ihren Rechtsbeiständen vor Gericht nicht selten von vornherein alle Vergleichsunterhandlungen ablehnen, so hat dies nicht bloss darin seinen Grund, dass in Bezug auf den Ausgang des Processes jeder der streitenden Theile an seinen Sieg glaubt, sondern auch darin, dass er bei dem andern bewusstes Unrecht, böse Absicht voraussetzt. Damit nimmt die Frage, wenn sie sich processualisch auch in den Formen des objectiven Unrechts bewegt (reivindicatio), dennoch psychologisch für die Partei ganz dieselbe Gestalt an, wie in dem obigen Fall: die einer bewussten Rechtskränkung, und vom Standpunkt des Subjects aus ist die Hartnäckigkeit, mit der dasselbe hier den Angriff auf sein Recht zurückweist, ganz so motivirt und sittlich gerechtfertigt wie dem Diebe gegenüber. In einem solchen Fall die Partei durch Hinweisung auf die Kosten und sonstigen Folgen des Processes und die Unsicherheit des Ausganges von demselben abschrecken zu wollen, ist ein psychologischer Missgriff, denn die Frage ist für sie keine Frage des Interesses, sondern des verletzten Rechtsgefühls; der einzige Punkt, bei dem sich mit Erfolg der Hebel ansetzen lässt, ist die Voraussetzung der schlechten Absicht des Gegners, durch welche die Partei sich leiten lässt; gelingt es, sie zu widerlegen, so ist der eigentliche Nerv des Widerstandes durchschnitten, und die Partei der Betrachtung der Sache unter dem Gesichtspunkt des Interesses und damit dem Vergleich zugänglich gemacht. Welchen hartnäckigen Widerstand die Voreingenommenheit der Partei oft allen solchen Versuchen entgegenstellt, ist jedem praktischen Juristen nur zu bekannt, und ich glaube von dieser Seite auf keinen Widerstand zu stossen, wenn ich behaupte, dass diese psychologische Unzugänglichkeit, diese Zähigkeit des Misstrauens nicht etwas rein Individuelles, durch den zufälligen Charakter der Person Bedingtes ist, sondern dass dafür die allgemeinen Gegensätze der Bildung und des Berufs in hohem Grade massgebend sind. Am unüberwindlichsten ist dies Misstrauen beim Bauer. Die sog. Processsucht, deren man ihn beschuldigt, ist nichts als das Product zweier gerade ihm vorzugsweise eigenthümlicher Factoren: eines starken Eigenthumssinnes, um nicht zu sagen des Geizes, und des Misstrauens. Kein Anderer versteht sich so gut auf sein Interesse und hält das, was er hat, so fest wie der Bauer, und doch opfert bekanntlich Niemand so oft Hab und Gut einem Processe wie er. Scheinbar ein Widerspruch, in Wirklichkeit ganz erklärlich. Denn gerade sein stark entwickelter Eigenthumssinn macht den Schmerz einer Verletzung desselben für ihn nur um so empfindlicher und damit die Reaction um so heftiger. Die Processsucht des Bauern ist nichts als die durch das Misstrauen bewirkte Verirrung des Eigenthumssinnes, eine Verirrung, die wie die analoge Erscheinung in der Liebe, die Eifersucht, schliesslich ihre Spitze gegen sich selber kehrt, indem sie zerstört, was sie zu retten sucht.

Eine interessante Bestätigung zu dem, was ich soeben gesagt habe, bietet das altrömische Recht. Da hat jenes Misstrauen des Bauern, welches bei jedem Rechtsconflict böse Absicht des Gegners wittert, geradezu die Form von Rechtssätzen angenommen. Ueberall, auch in solchen Fällen, wo es sich um einen Rechtsconflict handelt, bei dem jeder der streitenden Theile in gutem Glauben sein kann, muss der unterliegende Theil den Widerstand, den er dem Recht des Gegners entgegengesetzt hat, durch Strafe büssen. Dem gereizten Rechtsgefühl geschieht durch die einfache Wiederherstellung des Rechts kein Genüge, es verlangt noch eine besondere Genugthuung dafür, dass der Gegner, schuldig oder unschuldig, das Recht bestritten hat (s. u.). Hätten unsere heutigen Bauern das Recht zu machen, es würde muthmasslich ebenso lauten wie das ihrer altrömischen Standesgenossen. Aber schon in Rom ist das Misstrauen im Recht durch die Cultur mittelst der genauen Unterscheidung von zwei Arten des Unrechts: des verschuldeten und unverschuldeten oder des subjectiven und objectiven (in Hegel'scher Sprache des unbefangenen Unrechts) principiell überwunden worden.

Dieser Gegensatz des subjectiven und objectiven Unrechts ist in legislativer und wissenschaftlicher Beziehung ein ausserordentlich wichtiger. Er drückt die Art aus, wie das Recht vom Standpunkt der Gerechtigkeit die Sache ansieht, und dementsprechend die Folgen des Unrechts je nach Verschiedenheit desselben verschieden bemisst. Aber für die Auffassung des Subjects, für die Art, wie dessen Rechtsgefühl, das nicht nach den abstracten Begriffen des Systems pulsirt, durch ein ihm widerfahrenes Unrecht erregt wird, ist derselbe in keiner Weise massgebend. Die Umstände des besonderen Falls können der Art sein, dass der Berechtigte allen Grund hat, bei einem Rechtsconflict, der dem Gesetz zufolge unter den Gesichtspunkt der blossen objectiven Rechtsverletzung fällt, von der Unterstellung böser Absicht, bewussten Unrechts auf Seiten seines Gegners auszugehen, und für sein Verhalten ihm gegenüber wird dieses sein Urtheil mit vollem Recht den Ausschlag geben. Dass das Recht mir gegen den Erben meines Schuldners, der um die Schuld nicht weiss und seine Zahlung von dem Beweise derselben abhängig macht, ganz dieselbe condictio ex mutuo gibt, wie gegen den Schuldner selber, der schamloser Weise das gegebene Darlehen in Abrede stellt oder grundlos die Rückgabe verweigert, wird mich nicht abhalten, die Handlungsweise Beider in ganz verschiedenem Licht zu erblicken und darnach die meinige einzurichten. Der Schuldner steht für mich auf Einer Linie mit dem Diebe, er versucht, mich wissentlich um das Meinige zu bringen, in seiner Person ist es das bewusste Unrecht, das sich gegen das Recht auflehnt. Der Erbe des Schuldners dagegen steht dem gutgläubigen Besitzer meiner Sache gleich, er negirt nicht den Satz, dass ein Schuldner zahlen muss, sondern meine Behauptung, dass er selber Schuldner sei, und Alles, was ich oben von dem gutgläubigen Besitzer gesagt habe, gilt auch von ihm. Mit ihm mag ich mich vergleichen oder von der Erhebung des Processes, wenn ich des Erfolges nicht sicher zu sein glaube, ganz absehen, aber dem Schuldner gegenüber, der mich um mein gutes Recht zu bringen sucht, der auf meine Scheu vor einem Process, meine Bequemlichkeit, Indolenz, Schwäche speculirt, soll und muss ich mein Recht verfolgen, es koste, was es wolle; thue ich es nicht, so gebe ich nicht bloss dieses Recht, sondern das Recht preis.

Ich erwarte auf meine bisherigen Ausführungen den Einwand: was weiss das Volk von dem Rechte des Eigenthums, der Obligation als sittlicher Daseinsbedingungen der Person? Wissen? – nein! aber ob es sie als solche nicht fühlt, ist eine andere Frage, und ich hoffe, zeigen zu können, dass dem so ist. Was weiss das Volk von der Niere, Lunge, Leber als Bedingungen des physischen Lebens? Aber den Stich in der Lunge, den Schmerz in der Niere oder Leber empfindet Jeder und versteht die Mahnung, die er an ihn richtet. Der physische Schmerz ist das Signal einer Störung im Organismus, der Anwesenheit eines demselben feindlichen Einflusses; er öffnet uns die Augen über eine uns drohende Gefahr und richtet durch das Leiden, das er uns bereitet, an uns die Mahnung, uns vorzusehen. Ganz dasselbe gilt von dem moralischen Schmerz, den das absichtliche Unrecht, die Willkür verursacht. Von verschiedener Intensität, ganz wie der physische, je nach der Verschiedenheit der subjectiven Empfindlichkeit, der Form und des Gegenstandes der Rechtsverletzung, worüber nachher das Nähere, kündigt er sich gleichwohl in jedem Menschen, der nicht bereits völlig abgestumpft ist, d. h. sich an thatsächliche Rechtlosigkeit gewöhnt hat, als moralischer Schmerz an und richtet an ihn dieselbe Mahnung wie der physische, d. h. nicht sowohl die, dem Gefühl des Schmerzes ein Ende zu machen, als vielmehr die, die Gesundheit, die durch das unthätige Erdulden desselben untergraben wird, zu erhalten – in dem einen Fall die Mahnung an die Pflicht der physischen, in dem andern an die der moralischen Selbsterhaltung. Nehmen wir den zweifellosesten Fall, den der Ehrverletzung, und den Stand, in dem das Gefühl für Ehre am empfindlichsten ausgebildet ist, den Officiersstand. Ein Officier, der eine Ehrenbeleidigung geduldig ertragen hat, ist als solcher unmöglich geworden. Warum? Die Behauptung der Ehre ist Pflicht eines Jeden, warum accentuirt denn der Officiersstand in gesteigerter Weise die Erfüllung dieser Pflicht? Weil er das richtige Gefühl hat, dass die muthige Behauptung der Persönlichkeit gerade für ihn eine unerlässliche Bedingung seiner ganzen Stellung ist, dass ein Stand, der seiner Natur nach die Verkörperung des persönlichen Muthes sein soll, Feigheit seiner Mitglieder nicht dulden kann, ohne sich selbst herabzusetzen.Von mir weiter ausgeführt in meinem »Zweck im Recht« B. 2, S. 302‑304, Leipzig 1883.

Damit vergleiche man den Bauern. Derselbe Mann, der mit äusserster Hartnäckigkeit sein Eigenthum vertheidigt, beweist in Bezug auf seine Ehre eine auffällige Unempfindlichkeit. Wie erklärt sich dies? Aus demselben richtigen Gefühl der Eigenthümlichkeit seiner Lebensbedingungen, wie beim Officier. Sein Beruf verweist ihn nicht auf den Muth, sondern auf die Arbeit, letztere aber vertheidigt er in seinem Eigenthum. Arbeit und Eigenthumserwerb ist die Ehre des Bauern. Ein fauler Bauer, der seinen Acker nicht in Stand hält oder leichtsinnig das Seinige durchbringt, ist bei seinen Standesgenossen ebenso verachtet, wie ein Officier, der nicht auf seine Ehre hält, bei Seinesgleichen, während kein Bauer dem andern einen Vorwurf daraus macht, dass er wegen einer Beleidigung keine Schlägerei oder keinen Process begonnen hat, sowie kein Officier dem andern daraus, dass er kein guter Wirth ist. Für den Bauern ist das Grundstück, das er bebaut, und das Vieh, das er zieht, die Basis seiner Existenz, und gegen den Nachbarn, der ihm einige Fuss Land abgepflügt hat, oder den Händler, der ihm für seinen Ochsen das Geld vorenthält, beginnt er in seiner Weise, d. h. in Form eines mit erbittertster Leidenschaft geführten Processes ganz denselben Kampf um sein Recht, den der Officier gegen Denjenigen, der seiner Ehre zu nahe getreten ist, mit dem Degen in der Faust ausficht. Beide opfern sich dabei mit voller Rücksichtslosigkeit – die Folgen kommen für sie gar nicht in Betracht. Und sie müssen es thun, denn sie gehorchen damit nur dem eigenthümlichen Gesetz ihrer moralischen Selbsterhaltung. Man setze dieselben Leute auf die Geschwornenbank und lasse das eine Mal Officiere über Eigenthumsverbrechen, Bauern über Ehrverletzungen richten, das andere Mal diese über jene, jene über diese – wie verschieden werden in beiden Fällen die Urtheile ausfallen! Es ist bekannt, dass es keine strengeren Richter über Eigenthumsverbrechen gibt, als die Bauern. Und obschon ich selber darüber keine Erfahrung habe, so möchte ich doch wetten, dass ein Richter in dem seltenen Fall, wo ihm einmal ein Bauer mit einer Injurienklage kommt, mit seinen Vergleichsvorschlägen ein ungleich leichteres Spiel haben wird, als bei einer Klage desselben Mannes um Mein und Dein. Der altrömische Bauer nahm bei einer Ohrfeige mit 25 As vorlieb, und wenn ihm Einer das Auge ausgeschlagen hatte, liess er mit sich reden und handeln und verglich sich, anstatt, wie er gedurft hätte, ihm wieder eins auszuschlagen. Dagegen beanspruchte er vom Gesetz die Befugniss, dass er den Dieb, den er bei der That ertappte, als Sklaven behalten und im Fall des Widerstandes niedermachen dürfe, und das Gesetz bewilligte ihm dies. Dort galt es nur seine Ehre, seinen Leib, hier sein Gut und seine Habe.

Als Dritten im Bunde geselle ich den Kaufmann hinzu. Was dem Officier die Ehre, dem Bauern das Eigenthum, das ist dem Kaufmann der Credit. Die Aufrechthaltung desselben ist für ihn eine Lebensfrage, und wer ihn der Lässigkeit in der Erfüllung seiner Verbindlichkeiten beschuldigt, der trifft ihn empfindlicher, als wer ihn persönlich beleidigt oder ihn bestiehlt. Es entspricht dieser eigenthümlichen Stellung des Kaufmanns, wenn die neueren Gesetzbücher die Bestrafung des leichtsinnigen und betrügerischen Bankbruchs mehr und mehr auf ihn und die ihm gleichstehenden Personen eingeschränkt haben.

Der Zweck meiner letzten Ausführung bestand nicht darin, die einfache Thatsache zu constatiren, dass das Rechtsgefühl nach Verschiedenheit des Standes und Berufes eine verschiedenartige Reizbarkeit bekundet, indem es den empfindlichen Charakter einer Rechtsverletzung lediglich nach dem Massstab des Standesinteresses abmisst; sondern diese Thatsache selber sollte mir nur dazu dienen, um mittelst ihrer eine Wahrheit von ungleich höherer Bedeutung in's rechte Licht zu setzen, den Satz nämlich, dass jeder Berechtigte in seinem Rechte seine ethischen Lebensbedingungen vertheidigt. Denn der Umstand, dass die höchste Reizbarkeit des Rechtsgefühls bei den drei genannten Ständen sich gerade bei jenen Punkten kundgibt, in denen wir die eigenthümlichen Lebensbedingungen dieser Stände erkannt haben, zeigt uns, dass die Reaction des Rechtsgefühls sich nicht wie ein gewöhnlicher Affect lediglich nach den individuellen Momenten des Temperaments und Charakters bestimmt, sondern dass bei ihr zugleich ein sociales Moment mitwirkt: das Gefühl von der Unentbehrlichkeit gerade dieses bestimmten Rechtsinstituts für den besondern Lebenszweck dieses Standes. Der Grad der Energie, mit dem das Rechtsgefühl gegen eine Rechtsverletzung reagirt, ist in meinen Augen ein sicherer Massstab für den Stärkegrad, in dem ein Individuum, Stand oder Volk die Bedeutung des Rechts, sowohl des Rechts überhaupt als eines einzelnen Instituts, für sich und seine speciellen Lebenszwecke empfindet. Dieser Satz hat für mich eine ganz allgemeine Wahrheit, er gilt eben sowohl für das öffentliche wie für das Privatrecht. Dieselbe Reizbarkeit, welche die verschiedenen Stände in Bezug auf eine Verletzung aller derjenigen Institute bekunden, welche in hervorragender Weise die Basis ihrer Existenz bilden, wiederholt sich nämlich auch bei verschiedenen Staaten in Bezug auf solche Einrichtungen, in denen ihr eigenthümliches Lebensprincip verwirklicht erscheint. Der Gradmesser ihrer Reizbarkeit und damit des Werthes, den sie diesen Institutionen beilegen, ist das Strafrecht. Die überraschende Verschiedenheit, welche innerhalb der Strafgesetzgebungen in Bezug auf Milde und Strenge obwaltet, hat zum grossen Theil in dem obigen Gesichtspunkt der Daseinsbedingungen ihren Grund. Jeder Staat bestraft diejenigen Verbrechen auf's strengste, die sein eigenthümliches Lebensprincip bedrohen, während er bei den übrigen eine damit nicht selten auffallend contrastirende Milde obwalten lässt. Die Theokratie stempelt die Gotteslästerung und Abgötterei zu einem todeswürdigen Verbrechen, während sie in der Grenzverrückung nur ein einfaches Vergehen erblickt (mosaisches Recht). Der Ackerbau treibende Staat dagegen wird umgekehrt letztere mit der ganzen Wucht der Strafe heimsuchen, während er den Gotteslästerer mit mildester Strafe davon lässt (altrömisches Recht). Der Handelsstaat wird Münzfälschung und überhaupt Fälschung, der Militärstaat Insubordination, Dienstvergehen u. s. w., der absolute Staat das Majestätsverbrechen, die Republik das Streben nach königlicher Gewalt an die erste Stelle rücken, und alle werden an dieser Stelle eine Strenge bethätigen, die mit der Art, wie sie andere Verbrechen verfolgen, einen schroffen Gegensatz bildet. Kurz die Reaction des Rechtsgefühls der Staaten und Individuen ist da am heftigsten, wo sie sich in ihren eigenthümlichen Lebensbedingungen unmittelbar bedroht fühlen.Der Kundige weiss, dass ich mit den obigen Bemerkungen nur Ideen verwerthet habe, die zuerst erkannt und gestaltet zu haben das unsterbliche Verdienst von Montesquieu (sur l'esprit des lois) ist.


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