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Eine Begegnung

Die Subway in Neuyork!

Mir gegenüber auf der Bank in der Ecke sitzen zwei Menschen, die meine Aufmerksamkeit fesseln; der Wagen ist vollgestopft, sowohl die Bänke wie der Mittelgang, die Leute stehen und halten sich an den Strippen fest, wie eine kompakte Masse zusammengepfercht. Die beiden sitzen in ihrer Ecke, unter den Armen einiger anderer Fahrgäste halb verborgen, wie in einer Höhle, in der sie sich zusammenkauern, ganz und gar mit sich selbst beschäftigt und anscheinend so allein in dem überfüllten Wagen, als ob sie unter einem Busch auf dem Lande kauerten; sie sind in einen Liebeshandel vertieft, der offenbar vor wenigen Minuten begonnen hat. Es ist die erste frische Begegnung zwischen zwei Menschen, die sich noch nie gesehen haben und alle Formalitäten zu überspringen scheinen – Liebe auf den ersten Blick. Kein Mensch im ganzen Wagen beachtet das Paar, nur ich, der ich ihnen gegenübersitze, kann sie nicht übersehen. Es ist ein Arbeitsmann und ein kleines Fabrikmädchen von der Ostseite.

Es ist um sechs Uhr herum, die rush-hours, wo die Millionen von Neuyork, die den Kontoren und Läden entschlüpft sind, Straßenbahnen und Züge über und unter der Erde stürmen, um nach Hause zu kommen, eine allgemeine Flucht von den Arbeitsplätzen; die Stadt entleert sich an dem einen Ende und füllt sich an dem andern; alle sind in die Abendausgabe der Zeitungen vertieft, mit den großen, feuerroten Buchstaben auf der ersten Seite und den humoristischen Serien auf der letzten, man steht, hängt an den Strippen mit schlaffen, leeren Physiognomien, zu müde, um sich für einander zu interessieren oder sich überhaupt zu sehen. Es ist eigentlich unheimlich, wie so ein von einem langen Arbeitstag ausgelöschter Blick auf einem ruhen und wahrscheinlich sehen kann, ohne daß man dem Betreffenden ins Bewußtsein dringt, man ist hier tatsächlich Luft für einander. Die ganze Masse von stehenden Menschen schwankt nach vorn, wenn der Wagen hält, und taumelt nach rückwärts, wenn er sich wieder in Bewegung setzt. Das Reiben der Räder gegen die Schienen in dem unterirdischen, engen Tunnel füllt den Wagen mit einem nicht sonderlich lauten, aber durchdringenden, zerreißenden Lärm, in dem jeder andere Laut ertrinkt, man hört nicht einmal, wenn die Passagiere ihre Zeitungen wenden und zusammenlegen. Die Menschen sehen wie Taubstumme aus, merkwürdig bitter, als ob die Subway ihnen nicht schmeckt.

Nur die beiden, die unbemerkt in ihrer Ecke kauern, sind vergnügt, jedenfalls der Mann, er hat dem Mädchen eine Menge zu erzählen und muß ihr ins Ohr hineinsprechen, um verstanden zu werden, muß sein Mienenspiel verdoppeln, aber nicht ein Wort von dem, was er sagt, wird von Unbefugten gehört, es ertrinkt alles in dem ohrenbetäubenden Mahlen und Knirschen der Subway. Es ist wie eine ganze Pantomime, die Vertraulichkeit zwischen den beiden wachsen zu sehen, obgleich kein Laut von dem Auftritt ausgeht. Das Gedicht von Rückert kommt mir in den Sinn, wo der Mann Beeren in einem Brunnen pflückt, mit einem wütenden Kamel über sich und einem Krokodil in der Tiefe.

Der Mann ist nicht mißzuverstehen, er macht dem kleinen Mädchen offenkundig und aufs stürmischste den Hof. Sie mögen nach meiner Schätzung so ungefähr zehn Minuten im Gange sein, irgendwo in der down-town begonnen haben, und jetzt sind wir in der 14 ten Straße. Er ist so weit, daß er Miene macht, seinen Raub zu küssen, was, weiß Gott, auch fast unvermeidlich ist, wenn man sich ins Ohr schreien muß und dem roten Mund so nahe kommt; aber das wäre ja schrecklich, hier, wo alle Menschen es sehen können, und das kleine Mädchen weicht jedesmal rechtzeitig zurück, mit einem sprachlosen Blick, den üppigen Mund aufgesperrt, wie bei einem Lamm Gottes – was fällt dem schrecklichen, großen, ruchlosen Mann ein? Und jedesmal, wenn er es nicht darf, bricht es wie ein Feuer der Verzückung aus ihm heraus, es überkommt ihn in Anfällen, er lacht inwendig furchtbar und krümmt sich wie unter einem seligen Sturzbad, er verzehrt mit einer Gebärde das kleine Weib, das noch ganz starr vom Erlebnis ist, schüttelt den Kopf, den Blick auf die Erde geheftet, im intimen, bodenlosen Entzücken, seufzt, scheint sich zu fassen und fängt wieder von vorn an – und wenn es sein Leben gälte, er kann sie nicht lassen. Er faßt irgendeinen Entschluß, schiebt den Hut aus der Stirn mit seiner großen, mißhandelten Hand, an der die Finger sich nicht einzeln bewegen, und tastet sich über die Stirn – er hat einige Glas Bier getrunken, ist aber nicht berauscht – ein paar Augenblicke versinkt er in Gedanken und sieht todmüde aus, dann bricht etwas Unwiderstehliches durch sein Mienenspiel, und er lehnt sich wieder über das kleine Ohr, während das Herz ihm sichtbarlich im Leibe hüpft ...

Er ist offenbar bis ins Innerste getroffen, so wie man es nicht oft im Leben wird, viele werden es nie, er glüht durch und durch, hält das Glück in seiner hohlen Hand, das Glück – und ich sehe ihm an, daß er es nötig hat, die letzte Zeit hat ihm gewiß reichlich viel Nieten gebracht, er glüht auf wie ein Spieler, etwas geradezu Strahlendes ist über ihm, er knistert vor Verlangen und Dankbarkeit, beugt sich übers Opferlamm, das plötzlich das große Los geworden ist, wie um sie zu verstecken, sie einzuhüllen, sie ganz zu umschließen und mit Haut und Haaren an sich zu nehmen.

Plötzlich bricht er sein Werben ab und wirft mir einen Blick zu, aus dem ein gut Teil Kampf ums Dasein spricht, er ist nicht ungefährlich in diesem Augenblick: was soll das heißen, daß ich dort sitze und ihn und sein Mädchen betrachte – nach dem gültigen Personenrecht in Englisch sprechenden Ländern kann ich darauf gefaßt sein, daß er aufsteht und mir eine Ohrfeige gibt, ohne daß ich imstande wäre, etwas dagegen zu sagen. Ich entfalte darum mit unerhörter Gleichgültigkeit meine Zeitung und ziehe mich dahinter zurück; das kühlt, es geht eine Hitze wie von einem Schmelzofen von den beiden aus, gegen die man sich durch eine Glasscheibe vorm Gesicht schützen muß. Aber man kann viel über den Rand einer Zeitung hinweg beobachten, wenn man nur die Augen immer rechtzeitig hinter den Spalten begräbt. Verstohlen folge ich der Entwicklung und sehe, daß es ungefähr bei der 40 ten Straße zwischen den beiden klappt.

 

Die Natur hat sie übrigens nicht unmittelbar für einander bestimmt, er ist ein großer, grober Arbeiter, über seine besten Jahre hinaus, und sie ein kleines, schmächtiges Polackenmädchen, blutjung, mit einer Gesichtsfarbe wie Champignons; sie ist in einem Keller aufgewachsen und scheint das Tageslicht heute zum erstenmal zu sehen, wenn man das aschweiße, künstliche Licht in der Subway Tag nennen kann. Sie sind weit verschieden voneinander, aber gerade darin liegt wohl das Abenteuer, die Tollheit, die Süße. Auf jeden Fall: so ist Neuyork. Hier begegnet sich das Ferne. Die Subway führt die Menschen zusammen. Es gibt Menschen in Neuyork, die viele lange Jahre hindurch nichts anderes vom Leben sehen als die Subway morgens und abends, zum und vom Arbeitsplatz, wo sie jahraus jahrein ihren Tag verbringen.

Und so kreischt sie vorwärts, vollgepackt mit Menschen in ihrem unterirdischen Gang unter den Wurzeln der Stadt, wie durch einen Wald von Eisen, mit einem elektrischen, brenzligen Zugwind, es kreischt, kreischt, bis sie hält und der Körper bei der plötzlich aufhörenden Geschwindigkeit einen Stoß bekommt; der Schaffner schneidet mit den scharfen Türen, schneidet auf und schneidet zu, jedesmal ein Ende des Gedränges abschneidend, die Leute, die herein oder hinaus wollen. Und wieder kreischt es, hui – und husch: ein Flimmern, das wehtut, es ist der Erpreßzug, der schneller fährt als wir und nach einem kurzen, schwindelnden Wettlauf mit seinen Wagen vorbei ist, angefüllt mit andern Menschen, die ruhig in dem Glaskasten sitzen oder an den Strippen hängen und mit der andern Hand die Zeitung vor die Augen halten – von neuem Dunkelheit und Kreischen, eine vereinzelte Birne leuchtet draußen durch die Dämmerung, und in ihrem Lichtkreis sieht man rohes Gestein auf dem Felsengrunde, von dem Wasser und Öl herabtriefen. Ein feiner, heißer Gasgeruch füllt den Wagen und erinnert seltsam an Sonnenschein, ja, so riecht die Sonne, hui – eine Wand, aus Ziegelsteinen gemauert, gleitet vorbei, Licht, Säulen, Plakate, und man sieht tiefe, beleuchtete Höhlen unter der Erde, wo schwarze Menschenmengen sich drängen ... die Unterwelt, das heißt, eine Station, die 50 te Straße, nicht mehr und nicht weniger, und mit einem Seufzer, der einem die Übelkeit erleichtert, sagt man sich, daß dies natürlich nur ein schwaches Abbild von der Zukunft ist, wenn erst aller Verkehr und ein ganz Teil mehr von dem täglichen Leben der Menschen unter die Erde verlegt worden ist.

Indessen hat es gottlob den Anschein, als ob die an einen andern und höhern Planeten gemahnende Technik das Allerursprünglichste und Einfachste in den Menschenkindern hervorlockt. Neuyork brüllt mit wolkenkratzenden Wundern und beherbergt Individuen, die auf der primitivsten Urstufe stehen, von der die Biologie weiß; Leute, nackend in der Seele wie am Morgen der Zeiten, finden hier einen Unterschlupf. Mitten im Schlund der Unterwelt sitzen nun die beiden, die sich in der Subway gefunden haben, ungestört, wie zwei Vögel, und bereiten sich zu der ältesten und unschuldigsten von allen Geschichten.

Es ist ganz natürlich gekommen, keiner von ihnen braucht sich durch viele gesellschaftliche Schichten hindurchzuarbeiten, sie haben sich seit Hunderten von Jahren gekannt, er ist ein Arbeitsmann und sie ein Polackenmädchen oder etwas dergleichen, ein kleiner Kartoffelesser aus dem Armenviertel, mit leckerer Haut, wie ein Kind, obgleich sie einem Champignon gleicht, solch kleinem eßbaren Pilz – ein junger Champignon kann ja gerade so etwas Abgerundetes und Appetitliches haben. Sie sieht wie eine kleine Mutter aus, so ernsthaft, nichtsahnend und entzückend wie all die kleinen dunklen Frauen, die aus dem innern slawischen Europa kommen und die Ostseite von Neuyork übervölkern, allesamt geborene Mütter, zeitig gestählt in Philosophie und mit einem unerschöpflichen Schatz von natürlicher, schöner Torheit in der Seele, mit unbeweglichen Zügen und stumm wie die Engel Gottes, und mit einem Abgrund von Liebe, einfacher Liebe und nichts weiter wie Liebe und abermals Liebe, die sich im Ausdruck, in der Bewegung, im Handrücken, ganz bis in die kleinen, runden und stumpfen Fingerspitzen hinein äußert. Das Fehlen von allem außer eben dem Weiblichen macht sie begehrenswerter für Männer als alle Millionärstöchter der Welt.

Ganze Ladungen davon kommen mit jedem Dampfer herüber, wo sie das Zwischendeck füllen mit der Geduld von Schafen, meistens mit einem kleinen Champignonkopf in Tücher gewickelt an der Brust und ein paar an der Schürze, oder unterwegs Knospen treibend. Wenn der Atlantische Ozean von einem Sonnenstrahl belebt wird, sieht man sie auf Deck kommen und ihren Staat lüften, frisch aus dem Dorf in Bosnien oder der Ukraine, eine anilinfarbene Jacke, die geradezu ein Loch in die Landschaft brennt, einen abstehenden, saftfarbigen Rock und dazu langschaftige Männerstiefel! Jetzt aber ist sie Amerikanerin, Mitglied der Subway, bei einer Fabrik angestellt und trägt einen Mantel von städtischem Schnitt, kein Kopftuch mehr, sondern eine Art Hut, von Nadeln durchstochen, wie Mariä Herz. Sie hat die merkwürdige Atmosphäre der Ostseite über sich, die Bodenlosigkeit Neuyorks, die Ostseite, die der Sonnenplatz für alle möglichen Tragödien und Hoffnungen ist. Und gerade wie die Ostseite sieht sie aus, tragisch, aber mit einem neuen Licht über sich – denn ist es nicht Amerika, die Neue Welt, die sich ihr in Gestalt eines großen lachlustigen Kriegers, der ihr die seltsamsten Dinge sagt, zu erschließen beginnt! Sie ist schon lange geblendet, er benimmt ihr den Atem mit seiner brutalen Innigkeit, der Sonne und dem Gesang kann sie nicht widerstehen, und jetzt sitzt sie da mit ihren unbeweglichen Zügen, die offenbar nie gelächelt haben, und hört ihm zu, natürlich ohne das geringste zu begreifen, aber bis ins Innerste ihrer Seele mit fortgerissen.

 

Was ihn betrifft, so wünschte ich, daß er etwas mehr von dem reichen, zukunftsblendenden Amerika an sich hätte. Er ist natürlich unwiderstehlich, aber ein ganz wenig angestrengt. All die verschwenderischen Künste, mit denen er um sich wirft, können seine Armut nicht recht verbergen. Er besitzt kaum mehr als das, was er am Leibe hat, doch ist das nicht das Schlimmste, aber er ist nicht mehr jung. In Kleidung, Haltung, Ausdruck sieht er aus wie ein Mensch ohne Alter, aber Amerika ist hart gegen ihn gewesen. Noch ist er ein gewaltiger Arbeiter, mit eichenen Schultern, die in einen Staatsanzug hineingepreßt sind, der zu eng für ihn ist, der Hals aber ist mager, ein Bündel von Sehnen und Adern, und er hat hohle, gleichsam ausgebrannte Augen, der Ausdruck ist gleichzeitig sanguinisch und vergrämt; er weiß es selbst nicht, aber er ist nah daran, ein alter Mann zu sein. Merkwürdig ist seine Gesichtsfarbe, er ist nicht sonnverbrannt, aber kupferfarben von allem möglichen Wetter, einfarbig kirschrot bis an die Zähne, wie hellblonde Menschen es oft werden, der Typ, den man auf Schiffen, in Minen und überall dort in der Welt findet, wo Mannsleute unter freiem Himmel leben und Männerarbeit verrichten, spielen, sich berauschen und balgen und nie etwas anderes werden als todesverachtende Mannsleute und erstklassige Arbeiter. Er hat strammgeschnürte Lederriemen um die mageren Handgelenke, wie Heizer und Eisenarbeiter in Amerika, deren Sehnen überanstrengt werden, sie zu tragen pflegen; das sieht so nervös aus, als ob er nach einem Aderlaß verbunden wäre; es erinnert an einen Mann in Fesseln. Die feinen Risse und Spalten an seinen Händen sind mit Mennig-Farbe eingerieben; ich denke mir, daß er Arbeiter auf einem der großen Neubauten in der Stadt ist.

Ein Wolkenkratzer wird wie ein modernes Schiff gebaut, zusammengenietet aus Stahlbalken, genau derselbe Lärm wie von einer Schiffswerft geht davon aus; die schweren Eisenbalken werden mit einem Kran hinaufgehißt, und bisweilen kann man sehen, wie zwei, drei Arbeiter damit in die Höhe steigen, auf den Balken stehend und durch den leeren Raum schwankend, große vollkommen ruhige Kerle mit hellgrauen Fehdehandschuhen, den Niethammer über der Schulter – eines Tages liest man, daß so ein Balken bei einem Neubau auf der Broadway bei der Trinity Church, mitsamt der Mannschaft, die an Bord war, quer durch das Gerüst herabgestürzt ist – die Zeitung bringt die Namen der Verunglückten, und das ist alles, was von ihnen übrig ist.

Solch ein Desperado der Arbeit ist es wahrscheinlich, der mir in der Subway gegenübersitzt und das Mädchen bezaubert. Für gewöhnlich hängt er mehrere hundert Fuß hoch frei in der Luft am Ende eines Stahlbalkens und nietet Nägel und spuckt mehrere hundert Fuß in die Tiefe, sieht Menschen wie Feilspäne auf der Straße krabbeln und die großen Auswandererschiffe im Sonnenstrahl auf Sandy Hook zustreben. Er, der sein ganzes Leben in der Luft gehangen hat, betrachtete Eisenbahnbrücken, betrachtete Schiffe und betrachtete Wolkenkratzer. Jetzt aber ist Feierabend, und es existiert niemand anders für ihn als das kleine, blasse Mädchen, das zufällig neben ihm im Wagen sitzt.

 

Sie sind sich näher gerückt, so nah, wie sie sich kommen können, und er zeigt ihr Stück für Stück sein Eigentum mit kolossal sanguinischen Gebärden. Da ist natürlich seine Uhr, die beste Dollaruhr in Amerika, aus Kanonenmetall, garantiert, eine bessere Uhr gibt es nicht; man beachte die Kette, sie ist hochmodern, mit einem blanken Metallknopf am Knopfloch festzumachen, wie beliebt, keine altmodische Stange und kein Ring, man trägt die Uhr nicht mehr in der Westentasche, sondern in der obersten Jackentasche! Er öffnet die Uhr mit einem stumpfen Nagel und hält sie dem Mädchen unter die Augen, und obgleich sie atemlos dasitzt, zieht er sie gleich wieder zurück, damit sie nicht auf das Werk atmet. Darauf zeigt er seine Shagpfeife, schraubt sie auseinander und erklärt auch ihre inwendigen Teile, macht sie mit einer delikaten Handbewegung auf das »Patent« aufmerksam, und als sie mit dem Kopf näherkommt, um zu sehen, will er sie küssen, sie aber weicht rechtzeitig zurück, mit demselben sprachlosen Ausdruck wie ein paarmal früher, und dem kindlich offenstehenden Mund, er ist entsetzlich! Er lacht, wie vorhin, kopfschüttelnd, den Blick zur Erde gerichtet, mit dem Gefühl, ein Wunder zu erleben, das über seinen Verstand geht und fast nicht zu ertragen ist, er versucht sie wieder zu küssen, und sie weicht mit einem sprachlosen Blick zurück, den jungen, ausdruckslosen Mund weit offen – er lacht tief in der Brust und fächelt sachte mit seiner Tatze, nein, er bittet um Schonung, es sind zu viele Wunder auf einmal! Er sucht in der Tasche nach neuen Dingen, mit denen er sie blenden kann, und zieht eine Brieftasche hervor, aus der er ein Stück Papier nimmt, das er entfaltet und in das er mit dem Nagel Zeichen macht: sie könne selbst sehen, wie beliebt, und sie sieht das Papier und ihn an, ohne daß etwas in dem kleinen Kopf vorgeht; er sperrt mit zwei Fingern einen Raum in der Brieftasche auf, den allerinnersten Geheimraum, und läßt sie hineinsehen; sie guckt hinein, wie ein Kind in eine Tüte, und von dem, was sie gesehen hat, wieder zu ihm auf, noch ebenso unwissend, ohne durch ihr Mienenspiel den geringsten Schlüssel zu dem zu verraten, in was sie eingeweiht wurde. Er blinzelt gewichtig, klappt die Brieftasche zusammen, macht das Gummiband darum und steckt sie wieder an ihren Platz in die Brusttasche. Er lehnt sich zurück, lächelt einsam und sieht einen Augenblick wie ein alter Mann aus. Etwas in dem mageren Hals bewegt sich beschwerlich, der struppige, graue Schnurrbart bebt seltsam an den Spitzen. Was ist es für ein Feuer, das ihn verbrüht und ausgetrocknet und seine Adern so gespannt gemacht hat? Ist ein langer und lustiger Kampf zum Anfang alles, ist das Leben dann schon zu Ende? Wie wohl wird es ihm tun, seine ausgebrannten Augen in diesen bodenlosen See von Jugend zu kühlen.

Sie steigen bei der 59 ten Straße aus, und da ich hier auch aussteigen muß, gehe ich hinter ihnen die Treppe zur Straße hinauf, wo eine phosphorblaue Lichtung unter der Decke zeigt, daß es oben in der Stadt noch Tag ist. Als das kleine Polackenmädchen sich erhebt, sehe ich, daß sie kaum erwachsen ist, obgleich sie die ganze Zeit wie eine kleine Mutter ausgesehen hat; sie trägt kurze Röcke und Schnürstiefel wie ein Schulmädchen. Ah! Der Stahlarbeiter beugt sich über sie, während sie nebeneinander gehen, begräbt sie in einem Freierblick. Was hat er für einen gewaltigen Rücken!

Als wir oben sind, wo der Treppenaufgang in die Straße mündet, regnet es, ein Aprilschauer hüllt Columbus Cirkle in weiße, fegende Wirbel und Fahnen ein, der Himmel liegt auf der einen Seite in Dämmerung und auf der andern bereits in dem Frühlingslicht der langen Abende.

Nein, wie es regnet, weißer Schaum wird über die Fliesen gepeitscht, drüben an der Ecke, wo zwei, drei Wolkenkratzer mit dem Fuß in der Erde stehen, fegt der Wind wie ein Wirbel, Hüte und Regenschirme fliegen hoch oben in der Luft, die Leute bleiben stehen, in urkomischen Winkeln zusammengeknickt, der Sturm trägt sie geradezu, andere werden um die Ecke gejagt, wie aus einem Pustrohr geschossen, mit fliegenden Kleidern, die Hände nach den Kopfbedeckungen ausgestreckt, die in der Höhe eines vierten Stockwerkes fliegen, Gekreisch ertönt von jungen Dingern, die sich vom Winde grob geliebkost und geprügelt fühlen und deren Haare sich in Strähnen auflösen, Automobile tuten und schwanken im Unwetter, im Central Park hinter dem Maine-Monument fuchteln die Bäume wild mit den Ästen in einer Atmosphäre, die von Regen und Papierfetzen gestreift ist. Durch ein Loch in der Regenwolke aber sieht man blauen Himmel und einige schwellende Kuppelwolken, die sich im Zenith in blendender Aprilpracht brüsten.

Der Ausgang der Subway ist einen Augenblick von Menschen gesperrt, die sich nicht entschließen können, in den platschenden Regen hinauszugehen. Nach und nach leert er sich. Der Eisenarbeiter mißt das Wetter mit einem Blick, auf der letzten Stufe stehend, und sein Blick erweitert sich, als ob ihm keine angenehmere Überraschung zuteil werden könnte. Mit einer unvergleichlichen Miene schlägt er den Rockkragen hoch, das genügt, um den Elementen Trotz zu bieten, ein großer Junge erwacht in ihm. Dann zieht er das kleine Weib an sich, einen Rockzipfel über ihre Schulter gelegt, und so vereint, er, seinen gewaltigen Rücken gegen das stemmend, was hinter ihm ist, sie, mit den Schulmädchenbeinen unter dem Rock hervor und wie aufgesogen von seiner großen Gestalt, sehe ich sie über den spiegelblanken Asphalt wandern, mitten zwischen den Autos hindurch zum Central Park hinüber.

Eine Begegnung zwischen dem Amerika des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts, deren Zeuge ich geworden war.

 


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