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Die chinesische Frau

Neulich morgens erwachte ich davon, daß der Wind in den Türen heulte, und dabei mußte ich an die kleinen chinesischen Mädchen denken, wenn sie sich unter Schmerzen winden und untröstlich über ihre mißhandelten Füße weinen.

An stillen Abenden im Frühjahr, wenn es in der Chinesenstadt hellhörig geworden ist, das Licht schon länger bleibt und dieser und jener Chinese vor seiner Tür sitzt und Katzenmusik aus seiner zweisaitigen Violine lockt, kann man, wenn man dicht an die Häuser herangeht, ersticktes Weinen hinter den Mauern hören: das sind die armen, kleinen chinesischen Mädchen, die in den Frauenkammern eingesperrt sind und hoffnungslos über die Schmerzen in ihren Füßen klagen, ein langgezogenes, kraftloses Heulen wie von unglücklichen Tieren, und es hört nicht auf, sie weinen, weinen solange man sie hören kann. Sie weinen während langer, langer Jahre.

Die Füße der Chinesin werden mit einer Binde umwickelt, wenn sie fünf bis sieben Jahre alt ist, und der Prozeß dauert drei Jahre; sie weinen drei Jahre, ihre ganze Kindheit, eine andere haben sie nicht; und wenn sie es überstanden, wenn sie eine Tonne Tränen geweint haben, soviel kosten »die Lilienfüße«, wie man sagt, dann sind die Füße schließlich zu einem toten Klumpen zusammengewachsen, Hacke und Zehen in eins, und wenn die Jugend der jungen Mädchen beginnt, dann können sie nicht gehen.

Woher stammt denn diese unmenschliche Härte? Von keiner andern als der chinesischen Mutter, sie ist es, die die Binde anlegt und von Woche zu Woche strammt. Sie hat selbst die Qualen durchgelitten als sie ein kleines Mädchen war, und ist dadurch hart genug geworden, um auch andere leiden sehen zu können. Wenn man jahrelang eine Summe von Leiden in sich gesammelt hat, kommt schließlich eine Zeit, wo man sie wieder in der Form von sich gibt, daß man andere martert; so ist auch die chinesische Frau. Die Rücksicht auf das, was Sitte und Brauch ist, bestimmt die Moral der Frau in der ganzen Welt, in China aber ist es ein Gesetz von Eisen; Schmerz und Gefühllosigkeit wie etwas Notwendiges, wie das tägliche Leben selbst, wird in China von Geschlecht zu Geschlecht überliefert, ist die eigentliche innerste Tradition der »weiblichen Linie«.

Nirgends sieht man so unheimliche alte Frauen wie in China, es ist ein besonders dunkler Erinnerungsstoff, den man von dort mitbringt. Junge oder jüngere Frauen sieht man selten, sie dürfen die Häuser nicht verlassen, darum bekommt man auf der Straße nur den Eindruck von uralten, eingeschrumpften und verhärmten Chinesinnen, die mühselig auf ihren winzigkleinen, verkrüppelten und mit Tüchern umwickelten Füßen herumstolpern. Das Gesicht ist eine Maske, in der sich der Gram und die Unbarmherzigkeit der ganzen Welt gesammelt hat, eine stumme, teuflische Bitterkeit, unheimlich, fast übernatürlich versteinert. Wenn die Chinesin nach einem langen Leben des Leidens für ihren eigenen Teil, und einer ähnlichen Summe von Leiden, die sie auf andere gehäuft hat, endlich reift, wie eine bittere und steinharte Frucht, die ohne Nährwert ist, wenn Jahre und Alter vollendet haben, was eine grausame Jugend begann, dann sieht sie aus, daß man sich vor ihr fürchtet, daß man in einem großen Bogen um sie herumgeht, wie ein häßliches Gespenst, das einem übel macht. Und dennoch ist auch sie einmal ein Weib gewesen.

Während sechzig, siebzig Jahren, wo jeder Schritt auf den mit Kunst verkrüppelten Füßen eine Qual war, hat sie sich durchs Leben bewegt; in den Hauptzügen, die bei den meisten chinesischen Frauen dieselben sind, sah ihr Leben so aus:

Bei der Geburt wurde sie mit Bedauern begrüßt, weil sie kein Junge war, und selbst wenn es ihr erspart blieb, ertränkt oder verkauft zu werden, wurde ihr Schicksal doch schon früh besiegelt, bereits in der Wiege wurde sie mit irgendeinem Knaben verlobt, der sie besitzen sollte, wenn sie beide erwachsen waren. Dann wurden ihre Füße gewickelt, und sie machte die Hölle durch, die kleine Mädchen durchmachen müssen. Neben dem Bett der Hausmutter steht ein Knüppel, womit sie ihre Töchter züchtigt, wenn sie nachts zu laut weinen und den Schlaf der Erwachsenen stören. Die kleinen Mädchen pflegen die Füße auf die harte Bettkante zu legen oder sich auf andere Weise Schmerzen zuzufügen, um die Wehen in den gebundenen Füßen zu betäuben. Viele sterben an kaltem Brand oder Entzündungen, bevor die Verkrüppelung der Füße vollbracht ist. Nicht in allen Provinzen Chinas werden die Füße der Mädchen gebunden; dafür gibt es andere, wo sogar die niedrigen, arbeitenden Klassen nicht verschont werden, in Nordchina kann man Frauen aus dem Volke sehen, die ihre Feldarbeit auf den Knien kriechend verrichten. Alles in allem rechnet man, daß es augenblicklich in China ungefähr siebzig Millionen Frauen mit verstümmelten Füßen gibt.

Wenn die Chinesin fertig ist von der Hand ihrer Mutter, mit künstlichen Füßen, die kaum vier Zoll lang, und mit Beinen, die bis ans Knie abgestorben sind, wird sie ihrem Verlobten übergeben, der sie zum erstenmal sieht, wenn sie, verschleiert und mit Perlen, aus dem Hochzeitstragstuhl steigt, um in das einzutreten, was man in der chinesischen Blumensprache die »glückliche Unterwerfung« nennt, die Ehe; praktisch gesehen, besteht sie hauptsächlich darin, daß sie aus dem Frauengefängnis ihres Vaterhauses in das einer andern Familie einzieht, wo sie während der nächsten zwanzig Jahre ihre Zeit darin teilt, Kinder zu gebären und ihrer Schwiegermutter als Dienstmädchen zur Hand zu gehen. Sie zeigt sich nicht auf der Straße, darf kein Wort mit einem Mann wechseln, nicht einmal mit ihrem eigenen in Gegenwart anderer, man ißt sogar in chinesischen Familien nicht zusammen, jeder frißt seinen Reis und seine Einsamkeit in seiner Ecke des Hauses; sie wird wie das Vieh in Unwissenheit gehalten und sieht nicht einmal die Sonne oder eine Wiese, was das Vieh doch tut, sie lebt in der ununterbrochenen Finsternis der Sklaverei, und so vergehen ihre Jahre als Mutter und Frau.

Bei einem amerikanischen Reisenden, Roß, lese ich, ich habe es selbst nicht gehört, daß Frauen in chinesischen Dörfern nachts auf Felder oder hochgelegene einsame Plätze gehen und stundenlang stehen und heulen, ganz allein, wie Werwölfe, sie heulen ihr Elend in die Nacht und zu den Sternen hinaus, oder nein, sie heulen nur, denn sie haben ja weder Religion noch sonst eine geistige Vorstellung; solch unglückliches Wesen ist die Chinesin als Sklavin und Ehefrau.

Dann aber fängt es an heller für sie zu werden. Sie hat Söhne bekommen und sich insofern als produktiv erwiesen; wenn die Söhne heranwachsen und die Majestät ihres Geschlechts entfalten, fällt ein Abglanz von Ehre auf die Mutter, und sobald die Söhne geheiratet haben, wird sie Schwiegermutter! Jetzt ist sie an der Reihe, Macht und unumschränkte Bosheit auszuüben, nicht wie früher sie zu erleiden; mit dem Alter wächst sie an Würde, jetzt steht der Knüppel neben ihrem Bett, wahrscheinlich derselbe, mit dem sie Schläge bekam, als sie jung war, denn in China ist man konservativ und hat Sinn für Antiquitäten; und so ist der Kreislauf beendet, die Chinesin ist fertig, die arme, unergründliche, boshafte und verhärmte Alte, die man auf den Straßen trifft und der man ausweicht aus Furcht, daß sie einen mit ihrem zahnlosen Gaumen beißen könnte.

Die alte berüchtigte Kaiserinwitwe, die im Jahre 1908 starb, mit den bekannten, von Leiden und Grausamkeit gefurchten Zügen, die personifizierte skelettierte Abscheulichkeit, der Tod in weiblicher Ausgabe, war eine echte Chinesin, ein Kind ihres Volkes. Und wie die einfachste Chinesin war auch sie nicht ohne eine gewisse Majestät, sie besaß die rohe Charakterstärke der weiblichen Seele, wie sie durch ein langes, freudloses Leben in Formen und Strapazen entwickelt wird. Sie hatte ihren Adel, die äußerste Abgehärtetheit, die sie auch von andern verlangte. Man erzählte mir in Peking, daß eine ihrer Hofdamen, auf der Flucht aus dem Winterpalast, als der alte Drache im Jahre 1900 vertrieben wurde, geklagt hatte und beschwerlich geworden war; man kam an einem Brunnen vorbei, und die Kaiserinwitwe, die über die Klagen des Mädchens gereizt war, befahl jemandem aus ihrem Gefolge, das winselnde Individuum hineinzuwerfen, damit ihr Mund geschlossen würde; sie wurde hineingeworfen und der Deckel wieder draufgelegt. In den guten Tagen der Kaiserin, wenn eine der Frauen ihrer Umgebung ihr mißfiel, befahl sie ihnen zu sterben, und da sie Prinzessinnen waren, atmeten sie Blattgold ein, ein weniger edles Metall paßte sich nicht, und litten den Erstickungstod. Die alte Kaiserinwitwe würde Ibsen in seiner Forderung, etwas ganz zu tun, zufriedengestellt haben.

Ob sie nicht auch eine geheime Kammer, in einem Garten irgendeinen entlegenen Pavillon oder einen Keller hatte, zu dem sie einige Male in ihrem Leben ihre Zuflucht nahm, um allein zu sein und zu schreien?

Mit der Kaiserinwitwe ist etwas von der Härte von der chinesischen Frau gewichen, sie war der letzte große weibliche Teufel, ein anderer milderer Genius ist vorgetreten und zeigt seine Züge, noch furchtsam und bescheiden, aber er hat die Zukunft vor sich, es ist die von Europa beeinflußte kleine Chinesendame, die auf dem Wege zu Selbständigkeit und Freiheit ist. Es gibt bereits eine Klasse davon in China, man sieht sie in den großen, von der Kultur des Westens berührten Städten, hauptsächlich in Schanghai; dort gibt es eine Reformbewegung, Mädchenschulen, die jungen Frauen weigern sich, ihre Füße binden zu lassen und rotten sich in Selbstmordvereinen zum Schutz gegen die Zwangsehe zusammen; ein ganz neues China dämmert in dieser Bewegung.

Bei einem chinesischen Holzschnitzer, der die in China so beliebten Darstellungen von Torturen verkaufte, die auch von Turisten sehr gesucht sind, eine leichtfaßliche und tatsächlich mitten ins Schwarze treffende Illustration von China, fand ich eine kleine Frauenfigur, sehr verschieden von den übrigen Schrecklichkeiten. Sie stellte eines der modernen chinesischen Reformmädchen dar, und ich denke mir, daß sie wie eine Sehenswürdigkeit von Rang, wenn auch nicht gerade im Torturgenre, zwischen die anderen Sachen geraten war, etwas ganz Neues, was Reisende nicht unterlassen dürften, aus China mitzunehmen. So nahm ich sie denn mit.

Wie sie dort vor mir steht, in Buchsbaum geschnitzt, hat sie vor allen Dingen ihre natürlichen Füße, und sie sind wahrhaftig auch so klein genug; das Haar ist in einem netten Kringel auf dem Vorderkopf aufgesteckt, eine, wenn man China kennt, höchst revolutionäre Frisur, denn sie ist nicht wie die anderer. In der einen Hand hält sie einen Fächer, das Kennzeichen des Ostens, in der andern aber trägt sie, offenbar mit Absicht und noch ungewohnt, ein stattliches Bukett Blumen, ganz unchinesisch, das Zeichen, das eine neue Zeit und eine neue Kultur ihr in die Hand gedrückt hat.

So, mit einem Bukett Blumen in der Hand, hat die chinesische Frau sich aufgestellt, um der Zukunft zu begegnen.

Die armen Alten sinken ins Grab, sie folgen den Heerscharen und Heerscharen von Frauen, die der Menschheit Leben gaben und selbst kein menschenwürdiges Dasein führen durften; die Mütter der Menschheit, vom Affenweibchen, das aus dem Grausamkeitsdrang des Männchens Frucht trug, und dem das Junge an der Brust riß, bis zur Australierin, dem Buschmannweib, alle wilden Mütter der Erde, durch die die Geschlechter sich blutig hindurcharbeiteten, sanken ins Grab und vermehrten die Erde, wie die Schalen der Infusorien, wovon es ganze Kreideberge gibt; nur der wilde Wind blieb von ihnen übrig, ein Heulen in den Türen nachts wie von weinenden Seelen.

Das ist jetzt vorbei. Die Frau, auch in China, ist in eine neue Erdperiode getreten; in weiteren zehntausend Jahren werden die Schichten nach ihr eine neue Farbe zeigen, wahrscheinlich mit Petrefakten von den bis dahin sehr veralteten Formen von Männern vermischt. Und wenn der Wind dann in den Türen heult, wird es ein Spuk von dahingegangenen Männergeschlechtern sein, die ihr Leben einzeln in Ställe eingesperrt verbrachten, während die jungen Fohlen sich anmutig und kitzlig auf den Weiden ergingen und mit goldenen Würfeln darum spielten, wer das abscheuliche Tier vom Stallbaum lösen soll.

 

Die Wirklichkeit ist langweilig, darum muß in einer Geschichte etwas Außerordentliches geschehen, sonst finden die Leute sie mit Grund auch langweilig. – Daß sich in dieser Erzählung etwas ereignet, darauf kann man sich verlassen, aber es kommt natürlich erst ganz zuletzt. Es wird indessen ernstlich davor gewarnt, den Schluß zuerst zu lesen, da man die Pointe gar nicht verstehen würde, wenn man die Vorgeschichte nicht kennt. Trotz Gespanntheit muß man sich beherrschen und alle vorbereitenden Akte des Dramas gründlich lesen, bis man schließlich wollüstig den aufsehenerregenden Schluß verschlingt.

Ihren richtigen Namen, zwei chinesische Silben, habe ich nie ganz erfaßt, er klang wie zwei Küsse, oder wie heimliches Vogelgezwitscher, das Hri-Hri des Reisvogels, wenn er sich in dem dichten, reifen Korn versteckt, und wie ein Reisvogellaut ist ihr Name in meiner Erinnerung geblieben. Sie war Violin- und Gesellschaftsmädchen in Schanghai.

Es gibt in China eine Klasse junger Frauen, für die wir keine entsprechende Bezeichnung haben, denn das biblische, an und für sich schöne Wort, Freudenmädchen – wie die japanischen Geishas oder die Hetären der Griechen -, hat als Name einen unschönen Nebenklang bekommen. In China meint man damit die jungen Mädchen außerhalb der Familie, die eine Ausbildung in Musik und Poesie bekommen und durch Geist den Chinesen unterhalten, der in seiner Häuslichkeit jeden Schimmer von weiblicher Verfeinerung entbehren muß. So merkwürdig verdreht ist es in China, daß die freien, legitimen Frauen von jeder Erziehung ausgeschlossen sind, sie gehen in seelischer Unwissenheit und Öde wie Federvieh durchs Leben, wohingegen die Frauen außerhalb der Gesellschaft, die ihrer Stellung und ihrem Rang nach Sklavinnen sind, alle moralischen Freiheiten genießen, die die Aufklärung gewährt, ähnlich wie die gebildeten Frauen des Westens. Durch Beispiele aus diesen Verhältnissen sowie aus entsprechenden in Japan, Hellas und auch anderwärts kann man nachweisen, daß die Freimachung der Frauen überhaupt nicht in der Familie, sondern außerhalb derselben wurzelt. Woher die kleinen weiblichen Schöngeister in China kommen und wer sie unterhält, habe ich nicht erfahren können, wahrscheinlich stammen sie, jedenfalls bis vor kurzem, von der in China herrschenden Sitte, die überflüssigen Töchter zu verkaufen.

In China herrscht immer Überfluß; es ist ein steter Zustrom von Kindern, und was soll man mit all denen machen, die nicht dazu geboren sind, Herren der Schöpfung zu sein? Man kann sie nicht alle sättigen, bekommt aber eine kleine Summe für sie auf dem Markt. Irgendwo gibt es eine Überschwemmung, der gelbe oder der blaue Fluß tritt über seine Ufer und ertränkt dreißig- bis vierzigtausend Bauern auf ihren Reisfeldern, oder der Regen bleibt ein Jahr aus, und eine Gegend stirbt vor Hungersnot, weil die Ernte fehlschlägt; ich besuchte so einen Distrikt, wo eine Mißernte war; es war im Sommer, und noch war der Bevölkerung nichts Ungewöhnliches anzusehen, die Dörfer waren voll von Menschen, der Mühlstein, wovon es in jedem Dorf einen gibt, stand und wartete auf Korn, aber er würde vergeblich warten. Man erzählte mir, daß die Menschen hier zu Tausenden sterben würden, ganze Dörfer würden leer werden, und es gab noch keine Macht in China, die es verhindern konnte -, in solcher Lage aber verkauft man seine Töchter, die armen, kleinen Dinger kommen in den Handel, aber sie überleben immerhin das Elend, und keiner kann ihnen später ansehen, daß sie die Blüte der großen Volksnot in China sind.

Herrlich, freudenvoll und unschuldig erscheint einem ihr Schicksal, wenn man sieht, wie sie des Abends ungefähr um acht Uhr durch die Foochow Road zu den verschiedenen öffentlichen Lokalen getragen werden, wo reiche Chinesen sich zu Mittagsgesellschaften versammeln und wo die kleinen Chinesinnen mit ihren Musikinstrumenten und Poesiebüchern auftreten oder nur durch ihr Wesen, ihren Liebreiz und kluge Unterhaltung gefallen sollen.

Das Beförderungsmittel ist das primitivste und hübscheste, das ich je gesehen habe, sie werden einfach auf dem Arm getragen wie Kinder, klein und zart wie sie sind, von einem Kuli, einem großen und stummen Arbeitsmann, der nichts weiter an seinem gelben, knochigen Körper hat als ein blaues Lendentuch. Die Kuli bewegen sich in der schnellen, wiegenden Gangart, die dem Chinesen eigentümlich ist, wenn er schwierige Lasten trägt, um das Schwergesetz zu narren, und sie schlagen die Augen nieder, teils, um sich auf der Straße vorzusehen, teils, weil es ihnen ja nicht einfallen könnte, die Augen zu dem kostbaren und überirdisch feinen Geschöpf zu erheben, das sie auf dem Arm tragen.

Und dort sitzt die kleine Dame hoch über dem Tumult der Stadt, in blauer und rosa Seide, mit den winzigkleinen gebundenen Lilienfüßen und für viele Tausende Perlen in dem pechschwarzen, mit Mastix frisierten Haar, die Violine in der Hand, Goldfutterale auf den Nägeln und hält sich sorglos an dem Zopf des Kulis wie an einem Geländer fest, zur heimlichen Ehre und Wonne des Lasttieres, wenn der Engel Gottes auch etwas reichlich an seinem Zopf reißt, der einzige Anteil am Himmelreich, der ihm zuteil wird. Da sitzt sie und schwebt und lächelt üppig mit ihrem Kinderlächeln und den mongolischen Augen, die abgrundschwarz sind wie die sternenlose Stelle am Südhimmel, die die Seeleute the sack of coal nennen, sie blickt triumphierend über die Schulter des Kulis zurück, woher sie kam, und im Triumph vorwärts durch die festlich erleuchtete, dampfende Straße ihrem Bestimmungsort entgegen.

Die ganze Foochow Road ist voll von Kulis, jeder mit einem entzückenden, seltenen Mädchen auf dem Arm; sie halten ihren Einzug mit den Lichtern, die angezündet werden, den Tausenden von bunten Papierlaternen, beim Klang der Gonggongs und hitzigen Violinen, bei einem riesenhaften Eßgeruch und dem Laut von Heerscharen von Chinesen auf Filzschuhen, die herbeigeschlichen kommen, um die Freuden der Foochow Road zu genießen. Die Foochow Road bei Nacht -, aber das ist eine Orgie für sich.

Es fiel in mein Los, bei so einer geschlossenen Mittagsgesellschaft in der Foochow Road Gast zu sein, wo jeder der Anwesenden solch ein kleines Gesellschaftsmädchen zuerteilt bekommt. Während wir dabei waren, uns die Salangansuppe zu Gemüte zu führen (die wie abgekochter Staub schmeckt) und ein Augenblick kam, wo ich nicht gerade kaute, fühlte ich, wie mir von hinten etwas mit sanfter Gewalt in den Mund gesteckt wurde, und begriff, daß es eine Pfeife sei, aus massivem Gold, wie es sich zeigte, und ich tat die paar Züge, die darin sind -, es war Hri-Hri, die hinter meinem Stuhl stand und aufpaßte, wann es mir gelegen sein würde, zu rauchen. Wenn die Fee des Märchens hinter meinem Stuhl erschienen wäre, hätte mir nicht wunderbarer zumute werden können.

Wir bekamen die gewöhnlichen, oft beredeten chinesischen Gerichte, Haifischfinnen und Bambusschößlinge, Trepang und zottige Kohlraupen in Zucker und andere seltsame Dinge, dazu warmen Reiswein, der nicht ganz ohne berauschende Wirkung war, und nach dem Essen wurde das Fingerspiel gespielt, ein Ratspiel, das bei den Chinesen sehr beliebt ist, und unsere kleinen Damen sangen und spielten uns etwas vor; wir amüsierten uns.

Da ich erfahren hatte, daß es zum guten Ton gehört, daß jeder Gast seine kleine Tischdame behält, machte ich Miene, meine einzupacken und mitzunehmen, sie glich einem kleinen, schwarzen Lamm, rund und kerngesund und wog höchstens sechzig Pfund, und es fiel auf guten Boden wie ein Witz, Hri-Hri zwitscherte allerliebst, und die höflichen Chinesen waren lauter himmlisches Lächeln, denn es lag ja auf der Hand, daß selbst ein fremder Barbar verstehen würde, daß Hri-Hri nicht zum Aufessen sei; sie war eine kleine Seele von Musik, die zu und von Festen getragen und in der Zwischenzeit wahrscheinlich zwischen Seidenkissen in einem kleinen Ebenholzbett aufbewahrt wurde.

So setzte ich sie denn wieder auf die Erde, und sie gab uns eine Nummer auf der Violine zum Besten, ein Stück Grashüpfermusik, die man nur mit Hilfe der langhalsigsten und durchstrichensten Noten, die Gondelhälsen gleichen, ausdrücken kann, es war eine gleich zarte wie hohe Musik, die einen in eine Stimmung von entschieden neuer, wenn auch wahrscheinlich uralter Natur versetzte. Darauf sang Hri-Hri. Sie war klein und hatte eine hohe Stimme; da die chinesische Gesangskunst aber noch dazu darin besteht, die Stimme ins Falsett hinauf zu steigern, kann man sich das Resultat bei ihr ungefähr vorstellen. Man singt auf die Weise, daß jeder Ton in einem schnellen Dekreszendo hervorgestoßen wird, ungefähr als ob man die Quinte streicht und gleichzeitig mit der andern Hand schnell von oben abwärts über die Saiten fährt, die Wirkung kann man nur mit gewissen Vogeltönen vergleichen, denen des Reisvogels, so sang Hri-Hri. Es war Chinas unbegreifliche innerste Seele.

 

Da kam das Unglück. Mitten in einem unfaßbar zarten, geheimnisvollen und bezaubernden Gezwitscher bricht Hri-Hri plötzlich ab und macht sich in einem ganz gewöhnlich menschlichen Schrei Luft, einem Wehruf, Agonie malt sich auf ihren Zügen, und alle stürzen entsetzt herbei, um zu sehen, was geschehen ist, um zu helfen, wenn geholfen werden kann ...

Aber hier ist keine Hilfe möglich. Wie vom Tode getroffen zeigt Hri-Hri uns, was geschehen ist, und wir stehen alle machtlos. Sie hat einen Nagel gebrochen! Das Goldfutteral war abgeglitten und der vier Zoll lange, unersetzliche Nagel ist gebrochen.


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