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VI.

Der Frühling war gekommen, und er schritt weiter vor. Nach seiner Weise im nordischen Land leisen Ganges, kaum merkbar, oft wie zögernd und anhaltend. Seine Zeit war's, und er kam als Gebieter, der keine Auflehnung wider sein Geheiß zuließ. Doch nicht herrisch trat er auf, sondern sich sanft einschmeichelnd, nirgendwo ein Gefühl weckend, daß er sich Gehorsam erzwinge. Halme und Blätter schimmerten in lichterem Grün, in verborgenem Kelchschoß bildeten sich Ansätze von Knospen; jeder Lebenstrieb war dem großen Willen Untertan. Dem eigenen Drang dabei folgend, aber unbewußt; alles geschah wie in einem Traum, dessen Vorgänge ohne Zusammenhang mit der hellen Tageswirklichkeit erschienen. Da und dort am Strand und auf der Heide hob sich aus dem sandigen Boden eine Pflanze wie trotzig abgekehrt auf, als wolle sie im winterlichen Stande verharren. Doch lächelnd sah der Frühling mit dem goldenen Sonnenauge auf sie nieder; er wußte, wie sie sich auch weigere, zuletzt müsse sie ihm doch gehorchen.

So schwand Tag um Tag die leblos braune Farbe mehr von der Heide ab, daß diese aus der Weite leicht einer von grünen Wellen überkräuselten Wasserfläche zu gleichen begann, und so bedeckte sich an ihrem Ostrand der Buchenwald mit jungem Laub. Nur die Eichen standen, von fern gesehen, noch winterlich kahl dazwischen, allein näher kommend, gewahrte man, auch in ihnen rege sich ein frischer Safttrieb, zaudernd, nur langsam sich aufringend, doch Zeugnis von wiederkehrendem Lebensdrang ablegend.

Einer solchen Eiche ähnelte der Freiherr Dietrich von Alfsleben. Auch ihn hatte eine Frühlingskraft gefaßt und im Innern durchdrungen, die entdeckte, lautgewordene Liebe seines Sohnes für ihn. Mit einer Sonnenmacht war sie über ihn gekommen, dunkle Wolken jäh durchbrechend und abscheuchend; wohl nicht aus völlig entschatteten Augen, doch die bisher vorgesenkte Stirn freier hebend, blickte er auf. Er war in dem öden Hause nicht allein mehr, die Stimme Meinolfs klang um ihn, und an der Stelle freudlos-inhaltsleerer Verbringung seiner Tage erwuchs ihm wie aus lange brach gelegenem Acker ein neuer, tätiger Daseinszweck. Seitdem er zum Besitzer Ekenwarts geworden, hatte er sich niemals um die Bewirtschaftung des großen Gutes bekümmert, alles einem Verwalter überlassend; welche jährlichen Einkünfte es ihm brachte, war ihm bedeutungslos gewesen, seine tägliche Lebensführung machte kaum mehr Ansprüche als die des einfachsten Landmannes. Doch jetzt nahm der Besitz ihm plötzlich ein verändertes Gesicht an, gewann einen Wert für ihn als das Erbe, das er seinem Sohn hinterließ. Zum erstenmal sein Augenmerk auf die Zustände des Gutes richtend, sah er, daß sich gewohnheitsmäßige Vernachlässigung, in manchem fast zu einer Verwahrlosung ausartend, eingeschlichen habe, unter seiner eigenen Leitung bei achtsamer Aufsicht der Ertrag sich um das Doppelte steigern könne. Das schloß ihm ein weites Gebiet der Untersuchungen und Beschlußnahmen auf, diente gleichfalls zu einer völligen und günstig auf ihn wirkenden Umwandlung seines früheren zwecklosen Abwartens, daß der Morgen zum Abend werde. Unter Beihilfe des Försters griff er nach der Art lange untätig Gewesener eifrig die Aufgabe an, die er sich vorgesetzt; Dirk Westerholz erwies sich als nicht nur in seinem Fach umsichtig und tüchtig, auch als Landwirt hatte er bei der Urbarmachung seiner Farm in der amerikanischen Wildnis nützlichste Erfahrungen gesammelt. Auf das, was er in der Heidehütte während des Unwetters aus seinem Vorleben hier im Lande kundgegeben, war der Freiherr mit keinem Wort zurückgekommen. Er hatte es damals eine Jagdgeschichte benannt; nicht Zweifel litt's, er sehe die Tat des Försters auch mit dessen Augen an, fühle keine Verpflichtung, sie gerichtlich zur Anzeige zu bringen. Offenbar hatte Westerholz für ihn ein Menschenrecht gehabt, der unablässig an seinem Innern fressenden, ihm den Kopf mit Irrsinn umnebelnden Marter ein Ende zu setzen, und schließlich nichts weiter vollbracht, als ihm Gehöriges, sein Haus, die Stätte seiner Qual, vom Boden weggetilgt. Was aus seiner treubrüchigen Frau und der, die nicht seine Tochter war, geworden, wußte er selbst nicht; die Mutmaßung, daß sie sich trotz den verschlossenen Fenstern und Türen doch aus dem brennenden Gebäude gerettet hatten, lag am nächsten. Doch was immer an dem Maimorgen, über den eine lange Reihe von Jahren hingegangen, sich zugetragen haben mochte, Dietrich von Alfsleben fand in sich keine Nötigung, heute noch dafür eine Ahndung zu veranlassen. Vielmehr lieh sich empfinden, sein Vertrauen zu dem Förster habe sich noch erhöht, mit einer menschlichen Anteilnahme und Zuneigung verbunden; einen Ausdruck dafür lieferte gewissermaßen, daß er ihn unter vier Augen öfter mit seinem ursprünglichen Namen Nordwalt ansprach. Vor den neuen Anforderungen an die Tätigkeit Alfslebens trat jetzt die Jagd zurück, doch viele Stunden des Tages sahen ihn, stets von Dirk Westerholz begleitet, seinen Grund und Boden bald hier, bald dort in Augenschein nehmen, um Mißstände zu beseitigen.

Auf solchem Weg schreitend, der ziemlich weit nach Norden bis an die Grenze der Güter Ekenwart und Helgerslund führte, trafen die beiden eines Morgens in einem Gehölz unvorhergesehen mit einer alleingehenden Dame zusammen. Gertrud von Brookwald war's; um eine Wegkrümmung kommend, hemmte sie unwillkürlich in einer kleinen Entfernung den Schritt, und das gleiche tat Dietrich Alfsleben. Trotz der Nachbarschaft hatten sie sich seit bald zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen, ungewiß hielten sie die Augen gegeneinander gerichtet. Sichtlich nicht im Zweifel, wer der andere sei, ungeachtet der langen Zeit erkannten sie sich auf den ersten Blick. Doch wußten offenbar beide nicht gleich, wie sie sich bei der unerwarteten Begegnung verhalten sollten; kein Bruch oder Zerwürfnis hatte zwischen ihnen stattgefunden, nichts Feindseliges schied sie, nur war Alfsleben nie mehr nach Helgerslund gekommen. Dem Förster war die nachbarliche Gutsherrin von Angesicht bekannt, und er lüftete zu respektvollem Gruß den Hut.

Dann hob Gertrud Brookwald zuerst das befangene Zaudern auf, tat das Einfache, Natürliche. Sie ging auf den Jugendfreund zu, und ihre Anrede an ihn drückte aus, daß nichts zwischen ihnen sei, sondern sie alt-unveränderte Gesinnung in sich trage. Wie ehemals den unzertrennlichen Genossen ihres Bruders sprach sie ihn an, sagte freundlich, fast herzlichen Tones: »Das war eine gute Fügung, die mich hierher gehen ließ, dich zu treffen, Dietrich.« Nicht anders klang's, als ob sie ihn vor kurzen Tagen zuletzt gesehen, und sie hielt ihm die Hand entgegengeboten.

Er mußte antworten, und ihr Vorgang gab ihm auch die Fähigkeit dazu; wenngleich etwas stockend, erwiderte er: »Ja, Gertrud, ich freue mich, dir zu begegnen.« Doch seine Hand blieb regungslos niederhängend, er schien die Absicht der ihrigen nicht wahrzunehmen. Nochmals die wieder geschlossenen Lippen öffnend, fügte er nach: »Wir haben uns lange nicht gesehen; mir war nicht danach, das Haus zu verlassen, ich suchte niemand auf.«

Keine Begründung gab's, doch ward daraus die Absicht vernehmlich, nicht mit Stillschweigen über sein Fortbleiben wegzugehen. Als ob ihr die Erklärung genügte, rührte auch Gertrud nicht weiter daran, sondern versetzte nur: »Dein Sohn, hab' ich gehört, ist zurückgekommen.«

Die Züge Alfslebens überhellten sich, rasch entgegnete er jetzt: »Ja, zu meiner Freude – er kam früher manchmal zu euch hinüber, ich hoffe, das wird er nun wieder tun. Du warst immer nachsichtig und gütig gegen ihn, ich weiß, er erzählte mir's zuweilen, dafür hätte ich dir gern gedankt. Verzeih', ich war – unser Zusammentreffen war so unvermutet – du wolltest mir die Hand geben, kommt mir jetzt erst. Wenn du es noch willst –«

Sie hatte den Arm langsam zurücksinken lassen, doch hob ihn nun wieder. »Du sahst es nicht«, antwortete sie, und mit den Worten: »Ich danke dir heut' dafür«, faßte er jetzt ihre Hand. Doch nur einen Augenblick lang, denn wahrend sie erwiderte: »Ob er auch manchmal ungebärdig herumtollte, freute ich mich immer, wenn Meinolf zu uns kam«, ließ er schnell ihre Hand wieder aus der seinigen und versetzte dazu:

»Ich kannte ihn kaum so, in meiner Gegenwart war er immer still, dafür tobte er sich Wohl bei euch aus. Jetzt ist's anders geworden, ich habe auch kennen gelernt, daß er ungestüm sein kann und heftig Aufstürmendes ihm im Blut ist. Wohin gehst du?«

Die letzte Frage fügte Dietrich Alfsleben, von dem ihr Vorausgegangenen kurz abbrechend, eilig nach und schloß gleich daran: »Wenn du nicht lieber allein gehst, so begleite ich dich ein Wegstück.«

Ein Nicken Gertruds gab nicht zu mißdeutende Antwort; der Förster, der sich etwas zurückgehalten, trat heran und fragte, ob er die beabsichtigte Anordnung des Freiherrn zur Ausführung bringen lassen solle. Doch der letztere entgegnete rasch: »Nein, bleibt, Dirk, folgt uns nach; ich gehe nachher mit Euch weiter.« So hielt Westerholz sich nur etwa zehn Schritte hinter den miteinander durch das Gehölz Fortschreitenden; Gertrud Brookwald erwiderte jetzt auf eine vorherige Äußerung ihres Begleiters:

»Ja, er erinnerte mich öfter an dich, wie du in seinem Alter warst; ich fand's auch, dasselbe Blut war's in ihm. Dir konnte ebenso plötzlich etwas durch den Kopf schießen, daß du es tatest und ausführtest, fast eh's dir bewußt ward. Später verändertest du dich – mein Bruder sagte mir's, ich sah dich nicht viel mehr, du kamst nur nach Helgerslund, ihn abzuholen und mit ihm auszureiten. Doch als dann dein Meinolf zu uns kam, hätte ich ihn gleich erkannt nicht am Gesicht allein, auch am Wesen. Sein Name zog mich zuerst zu ihm hin, daß ich den wieder sprechen, ihn damit rufen konnte.«

Fühlen ließ sich's, die Sprecherin befliß sich, kein Schweigen eintreten zu lassen, sondern suchte von dem, womit sie begonnen, fortzureden. Zu sonderbar war's, wie sie hier nebeneinander gingen und nicht an dem rührten, was sie beide gleicherweise stumm in sich tragen mußten; an dem Unerklärten des jähen Abbruchs ihrer Kindheits- und Jugendfreundschaft, daß sie seit so unendlicher Zeit nie mehr zusammengekommen. Von Dietrich Alfsleben war es ausgegangen; man sprach, er habe die Schwester seines Freundes geliebt und Helgerslund nicht mehr betreten, weil sie die Braut Fritz Brookwalds geworden. Doch sie wußte, ein leeres Gerede sei's; nicht er, sie hatte ihn schon von früh auf geliebt und lange auf seine Wiederkehr gehofft, auch noch, am meisten, als der Tod die ihm von seinem Vater aufgezwungene Ehe gelöst, und auch ihres Bruders stiller, höchster Wunsch war's gewesen, daß sie seine Frau werde. Hatte er diese stumme Hoffnung in ihren Augen gelesen und, da er die Liebe nicht erwiderte, nach dein schreckvollen Tode seines Freundes den Entschluß gefaßt und ausgeführt, ihr nicht mehr zu begegnen? Wie sie's eben gesagt, in seiner Jugend konnte ein Augenblick ihm Plötzliches, Unberechenbares eingeben, ihn damit überwältigen; der Schlüssel zu dem Rätsel seiner Abkehrung von ihr mußte darin verborgen liegen. Nun ging sie zum erstenmal wieder neben ihm, wie in einem anderen Leben, und doch war es noch das nämliche. Sie trug ihn noch im Herzen wie damals; hätte sie's nicht getan, wäre sie seit langem schon einmal in Ekenwart eingekehrt, ihm die Hand der alten Kinderfreundschaft entgegenzureichen. Sie hätte dabei lächeln, vielleicht von dem, was in ihr gewesen und vergangen, sprechen können, aber es war nicht ausgelöscht; wann sie seinen Knaben gesehen, hatte sie's gefühlt, und heut' bei seinem ersten Erblicken mit alter Kraft und altem Leid. Und so ging sie jetzt wieder an seiner Seite, glücklich und angstvoll zugleich. Wenn er auch damals von ihrer Liebe gewußt; daß diese noch ebenso in ihr lebe, mußte sie verbergen, im Blick der Augen und im Klang der Stimme, Und sie redete, selbst nicht das Klopfen in ihrer Brust zu hören, was in ihr war, sich und ihn mit Worten zu übertönen. Unverkennbar war's gewesen, daß er nicht allein mit ihr gehen gewollt, deshalb dem Förster mitzukommen geboten habe. Er hätte es auf andere Art vermeiden, sich von ihr verabschieden können, ohne sie zu begleiten. Aber das hatte er ebenfalls nicht gewollt; fühlen ließ sich, er griff danach, festzuhalten, was der Zufall heut' gefügt, die alte, durch nichts zerrissene und doch so sonderbar sich fremd gewordene Freundschaft neu wieder zu beleben. Nur ihre Hand zu fassen, hatte er gezögert, und das klopfende Herz sagte ihr, warum. Er wußte, die Hand war's, die sie ehemals fürs Leben in die seinige zu legen bereit gewesen wäre, und die er nicht gewollt. Das ließ ihn ungewiß zaudern, denn in ihm lang begrabene Erinnerung ward von der Hand belebt.

Nun gingen sie nebeneinander, und mit ihnen ging Ungesprochenes, von dessen schweigsamem Druck sie sich durch wechselnd lautes Reden zu entlasten suchten. Über ihnen am Waldweg flimmerte das junge Frühlingslaub, dann traten sie in die Sonne, und ihre Schatten kamen, sie zu begleiten. So waren sie einst oftmals zusammen gegangen, als heranwachsende Kinder, nur fehlte der dritte, der immer mit ihnen gewesen, der Bruder Gertruds. Nicht wie Gegenwart und Wirklichkeit lag der Apriltag um sie, sondern traumhaft, und so auch klangen ihnen gegenseitig ihre Stimmen, wie aus einer weiten, schönen Ferne her. Einen altvertrauten Ton hatten sie, und unvermerkt alte Vertraulichkeit gewannen sie zurück. Dietrich Alfsleben hielt einmal an und sagte, nach dem niedrig dicht über dem Boden breithin gestreckten, seltsam verflochtenen Geäst einer Buche deutend: »Dort hatten wir uns eine Sommerhütte eingerichtet – ich wollte, sie wäre noch, Gertrud.«

»Aber ihr Dach hielt nicht dicht, das Gewitter brach los und wir wurden durch und durch naß. Doch als wir am anderen Tag wiederkamen, war eine große Matte durch die Äste geflochten, in der Nacht hatte Meinolf sie mühsam hergeschleppt und empfing uns lachend – was willst du?«

Er hatte nach seiner Uhr gegriffen. »Es ist spät – ich muß nach –«

Noch sie fiel ein: »Heut' ist ein Tag, wie er lang nicht mehr gewesen; mich deucht, er liegt außer der Zeit und dem, was sie von anderen fordert. Zum erstenmal sah ich's, daß man von hier unser Dach über den Erlenbusch hin wahrnimmt; mir scheint, es hat sich aufgereckt, nach dir auszublicken, und wäre enttäuscht, wenn es dich vor ihm umkehren sähe.«

Die erste Äußerung Gertruds war's, die sich in eine scherzende Form kleidete, und ein leichtes Lächeln begleitete sie. Noch die Stimme vermochte keinen Klang des Scherzes in die Worte hineinzulegen; sie kamen ernsthaft von den Lippen und sprachen mit einem verhaltenen Ton innerer Bewegung eine Bitte. Alfsleben erwiderte nichts, aber sein Fuß hob sich zum Weitergehen auf; was ihn überkommen haben mochte, das ihn zur Umkehr veranlassen gewollt, er hatte es von sich getan, folgte der Aufforderung der Jugendgespielin, nach unendlicher Zeit wieder unter das von drüben herblickende Dach zu treten. Obwohl sie zusammen fortgeschritten, war's im Anfang gewesen, wie wenn ein trennender Wasserlauf sich zwischen ihnen hinziehe, an dessen Rändern sie hüben und drüben gegangen. Doch nun waren sie hinüber und zueinander gekommen; Dietrich Alfsleben hatte stumm den Schritt drübergesetzt, indem er den Entschluß kundgab, mit bis zum Hause zu gehen. Die ferne Vergangenheit hatte sich wieder mit der Gegenwart zusammengeknüpft, die das fremd dazwischen Hingedehnte gleich nicht Gewesenem vergessen wollte, in seinem Dunkel ließ, wie die Sonne jetzt neben ihnen das wirkliche Gewässer eines Baches, der in gewundenem Lauf hier und dort hell im Licht spiegelnd hinzog, doch dazwischen unter dem übergebogenen, tiefverschattenden Erlenbusch dem Blick entschwand.

Bald trat nun das Helgerslunder Herrenhaus offen hervor, heller und heiterer als das von Elenwart, obwohl der Bauart nach aus der nämlichen Zeit stammend. Doch verschieden gealtert erschienen sie; dies hier hatte sich jünger erhalten, oder zeigte wenigstens nach außen einen durch bessere Pflege jugendlich bewahrten Anstrich. Zwei efeuumwachsene, oben umzinnte Flankentürme hielten das Schloßgebäude zwischen sich, das nirgendwo von Vernachlässigung redete; ein Bild heutigen Lebens bot es im Gegensatz zu dem Eindruck halber Abgestorbenheit, den der Alfslebensche Wohnsitz verursachte. So zog sich auch wohlgeordnet der Park drumher, überall von ihm auferlegter Vorschrift zeugend; sichtlich steuerten der Eigenwilligkeit jungen Wachstums Messer und Schere des Gärtners, dem aus den Schrankentreiben alter Bäume Säge und Beil. Alles stand in einer gewissen Paradehaltung; im Einklang dazu sahen von genau abgezirkelten Beeten nach der Schnur gereihte Krokos und Hyazinthen auf. Aber sie blühten und durchdufteten die Luft, und bunte Schmetterlinge fragten nicht, ob sie von Menschenhand hierher gepflanzt und gezüchtet seien. Was freudig aus ihnen trieb, war doch dieselbe Naturkraft, der gleiche Frühlingsweckruf, der draußen in Feld und Wald allem Leuen aufzuwachen gebot. Dies anders zu gestalten, als es ihm im Keime vorgebildet worden, lag nicht in Menschenmacht, und die Falter, in der Sonne sich auf den Bluten wiegend, sahen in ihnen kein zum Prunk hingestelltes Erzeugnis der Gärtnerkunst, sondern die freie, nur ihrem Gesetz folgende Entfaltung jedes Kelches. Und ebenso erfreute sich an ihnen auch, als an einer Gabe aus der Hand der Natur und des Frühlings, Anna Brookwald, augenblicklich vor einem der Beete niedergekniet; die Schönheit und der Duft einer lichtblauen Hyazinthe hielten ihr die Augen und den Geruchsinn gefangen.

Jetzt rief ihre Mutter sie an, daß sie aufstand und herzukam. Gertruds Begleiter war ihr fremd, sie begrüßte ihn stumm, nicht in damenhafter, sondern noch in halb kindlicher Weise; ihm kam fragend vom Mund: »Ist das deine Tochter?« Doch er beantwortete es selbst sich gleich danach: »Ja, deine Tochter ist's.«

Gertrud nickte. »Man sieht's ihr wohl an. Aber wenn sie Knabenkleider trüge, glaub' ich, würde sie dich mehr noch an Meinolf erinnern, als stände er wieder da, wie vor einem Vierteljahrhundert.«

»Du meinst – ich finde, sie gleicht dir – ganz wie du warst«, versetzte Dietrich Alfsleben, doch sein Blick betrachtete das Mädchen nicht näher, ging während des Sprechens am Gesicht Annas vorbei und heftete sich auf das Haus. Dazu fügte er rasch drein:

»Ein Vierteljahrhundert – man sieht's dem Efeu da am Turm an. habt ihr ihn drinnen ausgebessert? Weißt du's noch, wir kletterten einmal die alte Wendeltreppe hinauf, unter dem Fuß krachte es uns und brach, und ein Wunder war's, daß wir lebendig wieder zurückkamen.«

Der Sprecher hatte es schnell vorgebracht, seine Augen hafteten auf dem Turm, als ob dieser ihn am meisten durch Wachrufen der Erinnerung fessele. Im Klang seiner Stimme jedoch lag dabei völlig Gleichgültiges; Gertrud fühlte, er habe nur nach etwas gegriffen, um von einem Weiterreden über die Ähnlichkeit zwischen ihr und Anna abzulenken, und sie erwiderte im gleichen anteillosen Ton: »Es ist drinnen noch ebenso, glaub' ich, mein Mann hat deshalb die Zugangstür verschlossen.«

Der, von dem sie sprach, Herr von Brookwald, trat in diesem Augenblick unter dem Schloßportal hervor und ging, den Hut lüftend und schwenkend, auf die Ankömmlinge zu. »Das ist seltene Ehre, Herr Nachbar, da muß ich mir rote Farbe für den Kalender suchen. Aber willkommen! willkommen! Gute Nachbarschaft kommt nie zu spät, nicht zu spät und nicht zu früh! Mich freut's, wie Sie aussehen! Vortrefflich, als ob Sie im Jungbrunnen herumgesprattelt hätten. Nehmen Sie's nicht krumm, ein Bauer hat nicht gleich die richtig gewählten Worte auf der Zunge. Die Gesinnung bleibt die Hauptsache, Freut mich außerordentlich, Sie hier zu sehen.«

Fritz Brookwald und Alfsleben kannten sich kaum, nicht weiter als vom Ansehen und dann und wann einmal im Gang der Jahre vorgekommenem kurzem Grußaustausch bei zufälligen Begegnungen im Freien. Doch wußte der Helgerslunder Gutsherr von dem früheren Gerede, seine Heirat habe den Anlaß gegeben, daß der ehemalige Jugendfreund der Geschwister im Rhadeschen Hause nie mehr den Fuß hierhergesetzt, und ihm die Hand bietend, fügte er seiner Begrüßung hinzu:

»Hat meine Frau Sie eingefangen? Das war vernünftig von ihr und von Ihnen, alte Freundschaft macht's wie guter Wein, wird mit der Zeit immer besser. Im Leben kommt allerhand anders, als man denkt, aber dafür kriegt man ja in unseren Jahren die Vernünftigkeit in die Kopfscheune eingefahren und hat's im August nicht mehr auf Maitrank stehen. Bitte, einzutreten, Herr Nachbar, ich lasse ein anderes, gutes Glas aus dem Keller holen; um die Jahreszeit macht das Gehen am Trockensten in der Kehle. Sie haben ja meinen verstorbenen Schwager noch gekannt und können sich mit meiner Frau von ihm unterhalten. Damit tun Sie ihr ein bene an, ich kann's nicht, denn als ich zuerst hier ins Haus kam, lag er schon unter der Erde oder eigentlich unterm Wasser. Entschuldigen Sie, ich dachte nicht daran, Sie wissen das ja besser als ich, und Ihnen ist's auch nah gegangen. Natürlich, einen Freund so jung verunglücken sehen und ihm nicht helfen können, das gehört nicht zum besten im Leben. Ich höre gern mit zu, wenn Sie zusammen von ihm sprechen; ist Fritz Brookwald wohl auch ein bißchen verbauert und hat Anlage dazu mit auf die Welt gebracht, ganz von der Sorte, wie das liebe Vieh auf der Weidekoppel ist er doch noch nicht geworden.«

In seiner offen-treuherzigen, etwas unbedacht und derb herausfahrenden Manier hatte er gesprochen, im Anfang zu einem Ausdruck gebracht, daß ebensowenig bei ihm die Unvernunft einer Eifersuchtsregung zu besorgen sei, als ihm ein noch heutiges Fortbestehen eines ehemaligen Wunsches bei seinem Ekenwarter Nachbarn möglich vorkomme. Gertrud hatte ihr sich mit einer Röte bedeckendes Gesicht abgekehrt, doch auch die Züge Ulfslebens zeigten eine verworrene Unschlüssigkeit, ob er der Einladung Folge leisten solle. Der bis hierher mitgekommene Förster war in einiger Entfernung zurückgeblieben, Brookwald nahm ihn jetzt gewahr und fragte: »Ist's Ihr Begleiter, so bitte ich ihn auch, uns drinnen bei einem Trunk Gesellschaft zu leisten.«

»Ja, mein neuer Förster Dirk Nordwalt –«

Die Augen des Helgerslunder Gutsherrn waren gegen die Sonne gerichtet und offenbar geblendet, denn er schlug einmal mit kurz-unwillkürlichem Jucken die Wimpern zusammen und erwiderte: »Wer? Ich sehe nicht recht.«

Aus der Frage kam Dietrich Alfsleben erst zum Bewußtwerden, daß er mit abwesenden Gedanken geantwortet, statt des gegenwärtigen Namens des Försters seinen früheren genannt habe. So verbesserte er: »Ich versprach mich, er ist noch nicht lange bei mir und sein Name mir noch nicht im Mund geläufig, daß ich ihn leicht verwechsle. Er heißt Westerholz.«

Nun lachte Fritz Brookwald: »Ja, damit kann's einem komisch gehen, die Zunge ist manchmal wie ein Pferd, der Kutscher will rechts und der Gaul bockt und geht links. Ihren alten Förster kannte ich ganz gut, aber den neuen hab' ich noch nirgends getroffen. Na, Namen machen die Menschen ja nicht anders und ihren Durst auch nicht. Also, lieber Westerholz, kommen Sie dem Herrn Baron und mir nach!«

Gertrud Brookwald hatte die ihr noch einmal wiedergekehrte Befangenheit überwunden, sie trat zu dem Jugendfreund hinan und sagte: »Wie schade, daß dein Meinolf nicht bei uns ist, in meinem Gefühl gehört er mit hierher. Heiß' ihn recht bald kommen, die Tante zu begrüßen!«

Sie lächelte zu den letzten Worten, und kurz begegneten ihre Augen sich mit denen Dietrich Alfslebens. Der Blick sprach noch etwas von den Lippen nicht Gesagtes, ließ jenen unwillkürlich den Kopf nach der Seite, wo Unna stand, hinwerfen. Dann nickte er: »Ja, ich will ihn veranlassen, daß er morgen sich euch vorstellt; ich wußte ihn bei dir immer gut aufgehoben, Gertrud, und es wäre mir lieb, wenn er den alten Platz bei dir neu einnähme.«

Etwas nur von den beiden Verstandenes lag darin, eine Kundgabe der Übereinstimmung mit dem, was die Augen derjenigen, die sich lächelnd die Tante Meinolfs benannt, gesprochen. Mit einer raschen Bewegung bot Dietrich Alfsleben ihr seinen Arm, sie durch die Tür des Hauses zu führen, das er nach bald zwanzig Jahren zum erstenmal wieder betrat. Eine Vertraulichkeit war zwischen ihnen zurückgekehrt, die den Blick vom Vergangenen abwendete, auf die Gegenwart, in die Zukunft richtete. Im großen Schloßflur drehte Alfsleben umschauend den Kopf: »Deine Tochter kommt doch mit uns?« Und das gleiche tat und sagte hinter ihnen Fritz Brookwald: »Sie kommen doch mit, lieber Westerholz?«

Etwa eine Stunde ging hin, bis Alfsleben und der Förster wieder aus der Tür hervortraten, um den Rückweg einzuschlagen. Der Hausherr geleitete sie hinaus und verabschiedete sich draußen von seinen vormittägigen Gästen.

»Auf ein baldiges Wiedersehen, Herr Nachbar! Sie wissen jetzt den Weg hierher und daß er nicht saurer zu gehen ist als früher. Das heißt, so verbauert bin ich doch noch nicht, daß ich Ihnen nicht erst pflichtschuldig meinen Gegenbesuch mache. Nächster Tage, wenn Ihr Sohn zu uns kommt, kann er mir vielleicht Nachricht mitbringen, wann ich Sie zu Haus treffe. Wir sind ja als Kirchenpatrone so was wie geistliche Gevattern; freilich, Sie machen keinen Gebrauch davon, natürlich, jeder nach seinem Gusto! De gustibus non est disputandum! So viel, Latein kann ich auch noch, und wo's fehlt, müssen Sie christlich mit mir vorlieb nehmen. Also guten Heimweg – Wiedersehen, mein lieber Förster!«

Mit der Hand schwenkend, sah Fritz Brookwald den Fortschreitenden noch ein paar Augenblicke nach, dann kehrte er in das Zimmer, aus dem er gekommen, zurück. Unna war davongegangen, seine Frau befand sich allein darin. Er leerte einen noch in seinem Glas verbliebenen Weinrest aus und sagte danach:

»Ich bin ganz deiner Meinung, der Gedanke war mir noch nicht gekommen, aber er ist gut, euch steckt eben der Kuppelpelz von Haus im Kopf. Hypotheken sind nicht auf Ekenwart, und bei besserer Wirtschaft kann's das Doppelte einbringen. Zeit, daran zu denken, ist's ja auch; du warst klüger als ich und hast's vermutlich schon vorgehabt, als du den Jungen manchmal kajoliertest; angemerkt hab' ich's dir heut' zuerst, aber, item, ich bin's zufrieden, und du wirst schon richtig weiter machen, daß die beiden auch nichts davon merken, der Junge und der Alte. Ich glaube wahrhaftig, du sitzt ihm noch im Kopf und er kam, um wieder mit dir zusammen zu sein. Das ist Eisen, was sich leicht schmieden läßt und vorteilhafter nicht zu wünschen. Tu' nur nicht spröd', wenn er einmal die alte Liebhaberei aufs Tapet bringt, dann könnt'st du's verderben. Daß er ein verrückter Kauz ist, hat er genug bewiesen – ich meine nicht, weil er noch ein Auge auf dich hat, wenn's auch komisch ist – aber er muß vorsichtig angefaßt werden, auf das Wie wirst du dich selbst verstehen. Eurer Eitelkeit oder Weiblichkeit, wie ihr's nennen wollt, ist's am Ende doch nicht zuwider, wenn ein verschmähter Liebhaber nach zwanzig Jahren noch im Netz zappelt, und so kann's einmal heißen: ›den Schwiegersohn mein' ich, den Schwiegervater streichl ich‹. Unna ist noch ein einfältiges Ding; sag' ihr, wenn der junge Alfsleben kommt, so soll sie sich nicht zieren und ihn ›Sie‹ anreden, sondern mit Vornamen und ›Du‹, wie sie's früher getan. Das bringt leichter zusammen; du hast's vernünftigerweise mit dem Alten ja auch beibehalten und kannst das als Grund angeben. Ich habe in meiner Stube etwas nachzusehen.«

Brookwald verließ das Zimmer; er hatte gezeigt, daß er gut zu beobachten verstehe, einen verschwiegenen Wunsch und eine Absicht seiner Frau erkannt habe. Nur täuschte seine Scharfsichtigkeit sich in dem Verhältnis zwischen ihr und Dietrich Alfsleben, maß diesem zu, was sich in ihrem Innern barg. Er hatte nie in einem Gemütszusammenhang mit ihr gestanden, um sie bei ihrem Vater geworben, weil sie die Erbin von Helgerslund geworden, und wußte nichts von dem geheimen Leben ihres Herzens. Doch wenn er hineinzublicken vermocht hätte, wäre die Entdeckung ihm jedenfalls durchaus gleichgültig gewesen, er würde darüber nur gelacht haben. Sie gingen nebeneinander hin, gewohnheitsmäßig auch Gertrud so neben ihm, aber sie kannte ihn im Innern gleichfalls nicht, nur daß sein Gesicht und Wesen im Verkehr mit anderen eine Maske von Treuherzigkeit und derber Biederkeit trug, unter der sich rechnende Vorteilssucht verbarg. Seiner Frau gegenüber hielt er jenen Anschein nicht aufrecht, zeigte sich, wenigstens in dieser Richtung, unverhohlen; wie sie über ihn denken mochte, galt ihm auch gleich, er trachtete weder nach ihrer Liebe, noch nach ihrer Achtung. In noch einer Hinsicht aber kannte sie ihn ebenfalls als von durchaus kaltem, leidenschaftlicher Wallung unfähigem Blute, und wenn sie bei dem Gespräch Christian Hollesens mit seiner Frau zugegen gewesen wäre, würde sie unbedingt erklärt haben, die Annähme desselben, daß Zea einem früheren Liebesverhältnis Brookwalds entstamme, beruhe auf einer Täuschung. Sie hätte wahrscheinlich überhaupt nicht recht zu begreifen vermocht, warum und wie der sonst alles mit ruhig-verständigem Blick bemessende Pastor lediglich durch eine allgemeine Ähnlichkeit seiner Pflegetochter mit Unna zu solcher sonderbaren, phantastischen Vermutung gelangt sei.

So hatte Gertrud den Äußerungen ihres Mannes schweigend zugehört, wohl von seiner Erkenntnis ihres geheimen Wünschens und Trachtens überrascht, doch sonst ohne Befremden, da sie im voraus gewußt, daß bei ihm nur ein rechnender Beweggrund für das Erstrebenswerte einer Verbindung zwischen seiner Tochter und Meinolf Alfsleben ausschlaggebend sein könne. Wie verschieden davon der ihrige war, fühlte sie sich durch die unerwartete Kundgabe seines Einverständnisses erleichtert und freudig erregt; ihr Leben gewann noch einmal einen Zweck und Inhalt, der ihr die Empfindung mit der Schönheit eines Traumes anrührte. Nur hatten die letzten, fast unbemäntelt zynischen Andeutungen und Ratschläge ihres Mannes ihr ein Rot in die Schläfen getrieben, und sie blieb nach seinem Weggang noch sitzen, mit den Händen sich das Blut aus dem Gesicht zurückdrückend. Es gab ihr eine jugendlich blühende Färbung; sie mußte nicht nur überaus anmutig und lieblich gewesen sein, sondern war es so noch, und es legte ein sprechendes Zeugnis der Unempfänglichkeit Dietrich Alfslebens für weiblichen Schönheitsreiz ab, daß er von dem der Schwester seines unzertrennlichen Jugendfreundes nicht erfaßt worden, ihre Liebe zu ihm nicht erwidert hatte.

Fritz Brookwald war in seine Stube gegangen, deren Türschlüssel er eintretend rasch umdrehte. Seine Augen ließen erkennen, daß die Gedanken hinter ihnen sich gespannt auf etwas gerichtet hatten; er öffnete ein verschlossenes Schrankfach, dem er einen ziemlich umfänglichen Quartband entnahm. Das Buch besaß eine Geschichte, die im Zusammenhang mit dem nachschleppenden Bein Aronsohns stand, der eines Tags, vor mehr als zehn Jahren, gekommen, um Brookwald eine alte, mit Bildern durchschossene Hausbibel zum Kauf anzutragen. Er hatte gesagt: »Warum soll ich nicht handeln damit, was ist durch Zufall geraten in meine Hand, und es bringen dem Herrn Baron, der ist ein fromm-gläubiger Herr und zu sehen jeden Sonntag in der Christenkirche; wird ihm das heilige Buch nicht geworden sein weniger achtungswert, weil ich es habe aufgefunden, und was ich nicht kann gebrauchen für mich, gebe ich fort um billigen Preis.« Das war in der Tat der Fall gewesen, so daß der Hausherr die Bibel dafür genommen, doch um einige Wochen später einen Diener zur Stadt geschickt, um Nathan nach Helgerslund herauszubestellen, und als dieser in Erwartung eines Geschäfts eingetroffen, ihn empfangen: »Du hast mich betrogen, in der Bibel lag ein beschriebenes Blatt, das zu ihr gehörte, aber nur eins; ein anderes noch muß dabei gewesen sein, wo hast du's?« Davon hatte der Befragte nichts gewußt und geantwortet: »Hab' ich doch nicht gelesen in dem Buch, Herr Baron, für das sind meine Augen zu schlecht, und nicht umgeschlagen die vielen Blätter, daß ich könnt' wissen, was drin ist gewesen hochheiliges gedruckt oder geschrieben.« Weiteren Aufschluß hatte Brookwald nicht erlangen können und war darüber in so besinnungslosen Grimm geraten, daß er dem zur Tür hinausflüchtenden Juden wie einem Hunde den dicken Eichenknüppel nachgeworfen, von dem Nathan Aronsohn der linke Unterschenkel zerschlagen worden. Seit dem Tag hatte er oft bei verriegelter Tür die alte Bibel aus dem Fach geholt, nicht um in ihr, sondern um das wieder zu lesen, was auf dem zwischen den Blättern von ihm zufällig aufgefundenen Blatte stand, und von irgendeinem Anlaß dazu bewogen, las er es heut' abermals:

»Wenn ich morgen nicht komme, so wird dies statt meiner zu dir gelangen. Ich schreibe nach Mitternacht, die Zeit ist kurz. Und auch nur kurz darum kann ich dir sagen, was du nicht weißt. Daß ich's muß, wirst du nachher verstehen, erst den Anfang.

»Wir, D. und ich, hatten uns ein weites Ziel vorgenommen und ritten ohne Anhalt eine Mondnacht im letzten Mai durch, weit ostwärts. Als der Morgen kam, sahen wir plötzlich aus einem Wald hohen Rauch aufsteigen, hielten darauf zu und fanden ein einsam belegenes Haus, aus dessen Dach Flammen schlugen. Ein sonderbarer, halb wie gespenstischer Anblick war's in der ersten Frühlingssonne; ganz ohne Leben lag's, niemand schien drin zu wohnen. Aber dann scholl ein Hilferuf und zwei Frauen wurden an einem oberen Fenster sichtbar. Wir begriffen nicht, warum sie sich nicht durch die Haustür retteten, und riefen's ihnen zu, doch sie machten Zeichen, die wir erst verstanden, als wir ihnen durch die Tür zu Hilfe kommen wollten, denn sie war verschlossen und ebenso alle Läden unten an den Fenstern. Zeit aber gab's nicht mehr zu verlieren; die beiden oben, eine ältere und eine junge, drohten vor Rauch, der hinter ihnen quoll, zu ersticken, und die erstere sprang in der Atemnot herunter. Sehr hoch war's nicht, doch sie fiel unglücklich; ich wollte sie auffangen, kam aber zu spät, konnte sie nur noch rasch wegtragen, damit sie nicht von niederstürzendem Balkenwerk getroffen würde. Wie D, währenddessen die andere rettete, sah ich nicht, blitzschnell jedenfalls. Du weißt, wie gewandt er ist; er sagte mir nachher, daß er eine Möglichkeit entdeckt, bis nah unter das Fenster hinaufzuklettern; auf sein Geheiß hatte sie sich gleiten lassen, er sie glücklich gefaßt, und ich nahm sie erst gewahr, wie er sie auf den Armen neben ihre Mutter hintrug. Frau und Tochter eines Försters waren es, der hier in der Waldeinsamkeit wohnte. Von ihm bekamen wir nichts zu sehen, erfuhren überhaupt nichts, als daß er Dirk Nordwalt hieß.«

Fritz Brookwald hielt kurz an und ließ die Augen durchs Fenster hinausgehen, dann las er weiter:

»Ich habe nicht Zeit, mehr als das Nötigste zu schreiben. Die Mutter hatte sich bei dem Sturz wahrscheinlich innerlich verletzt, kam kaum mehr zum Bewußtsein und starb noch am selben Tage, eh' ein Arzt geholt werden konnte, in dem nächsten Heidehof, den wir auffanden. Eduv, die Tochter, nahmen wir mit und brachten sie, halbwegs bis zu uns her, in einem vereinzelten Gehöft unter. Sie war von allem wie betäubt, wußte über nichts Aufschluß zu geben, weder wo ihr Vater sei, noch wie das Feuer entstanden, das sie im Schlaf überrascht hatte. Noch von weitem sahen wir, daß der Wald mit in Brand geraten war.

Ich habe, als ich an dem Abend heimkam, nichts davon erzählt, dir und den Eltern nicht. Ein unbestimmtes Gefühl hielt mich ab und ebenso D. bei sich zu Haus. Bald, nach wenig Tagen schon, blieb mir kein Zweifel über den Grund meines Geheimhaltens; ich wußte, daß unser Vater sich nicht bewegen lassen würde, mir seine Einwilligung zur Heirat mit der Tochter eines Försters zu geben. Und so verschwieg ich auch dir, zum erstenmal in meinem Leben, etwas, um dich nicht zu erschrecken und zu ängstigen. Denn ich fühlte, es könne nicht anders geschehen, so sei Liebe. Meine erste war's und ist's und meine einzige wird es sein.

Mir schneidet ins Herz, was ich schreiben muß. D. und ich litten in den ersten Tagen zusammen nach dem Gehöft, um nach Eduv zu sehen; wir betrachteten sie wie vom Himmel unter unseren Schutz gegeben. Dann – ich brauche nicht mehr zu sagen, warum – begab ich mich allein zu ihr; was ich vorschützen wollte, fiel unnötig, D. schien keine weitere Obhut über sie erforderlich zu halten, nicht mehr an sie zu denken; er unterließ es, mich wie vorher abzuholen. Wohl zwei Wochen dauerte es, in denen ich ihn kaum flüchtig sah, er sagte, eine Erbschaftssache seiner verstorbenen Frau nähme ihn sehr in Anspruch. So befand ich mich täglich des Morgens mehrere Stunden lang allein mit Eduv; sie war schüchtern, sprach wenig, doch in ihre wunderbaren Augen kam nach und nach Helleres, ein Glanz, wenn ich hereintrat. Einmal ward ich verhindert, daß ich sie erst am Nachmittag, gegen Abend aufsuchen konnte. Wir saßen in dem kleinen Garten unter einem blühenden Busch, es fing an zu dämmern, und beim Sprechen faßte ich zum erstenmal ihre Hand, die sie mir stumm ließ. Da tönte ein hastiger Fußtritt heran, und plötzlich stand D. vor uns. Auch er war, ohne daß ich es ahnte, täglich um diese Zeit wiedergekehrt, und Eduv hatte keinem von dem Kommen des anderen gesprochen. Sie wußte nichts von Liebe in sich, doch da er und ich nicht mehr miteinander kamen, hatte ein dunkles Empfinden ihr mit einer Ungewissen Scheu den Mund geschlossen.

Weiter, weiter. Vor mir steht D., als ob er vom Blitz getroffen und gelähmt sei, wie er mich Hand in Hand mit ihr sitzen sieht. Dann brach jählings ein Sturm aus ihm hervor, wie ich ihn in keines Menschen Brust, am wenigsten aber in seiner für möglich gehalten. Er war sinnberaubt, Tränen entstürzten ihm, fordernd, stehend, jammernd rief er Eduv an, er habe ihr Leben gerettet, sie gehöre ihm. Alles an ihm sprach, er könne es nicht anders glauben, sie müsse ihm in die Arme fliegen, auf denen er sie aus dem brennenden Haus getragen. Lautlos, zitternd stand sie und ich halb wie betäubt, erschüttert von einem inneren Durchriß, von der nie geahnten, übergewaltigen Leidenschaft des Freundes, den ich gleichgültig für allen weiblichen Zauber geglaubt. Endlich, mit Mühe fand ich Worte: ›Sie soll wählen zwischen uns.‹ Da fuhr ein Zucken durch Eduvs Glieder, sie verstand, was in ihrem Herzen zu schlagen angefangen, schluchzte auf und warf ohne Worte ihre Arme um meinen Hals.

Ich begriff's nachher, begreife es in diesem Augenblick mehr denn je, daß er mußte, nicht anders konnte. Sähest du sie, wie sie schlafend wenige Schritte von mir entfernt liegt – im halben Licht der Lampe, die ich verschattet – du hieltest sie nicht für die Tochter eines Försters, sondern für ein Königskind aus einem alten Märchen, zu dem die Sonnenstrahlen und das Himmelsblau, weiße Sommerwolken und die blühende Heide gekommen – jede ihr einen –«

Mit dem letzten Wort endete das auf zwei Seiten eng beschriebene Quartblatt, offenbar fehlte ein zweites, das die Fortsetzung enthalten. Die Handschrift trug ein ihr eigenartiges Gepräge, das sie sofort von anderen unterscheiden ließ, doch sprach von fliegender Hast der Feder. Und mit solcher auch mochte der Schreiber das vollgefüllte Blatt rasch in die neben ihm liegende alte Bibel hineingelegt haben, denn die letzte Zeile, deren Tinte noch nicht trocken gewesen, war halb verwischt.

Oftmals seit zehn Jahren hatte Fritz Brookwald das ihm durch Zufall in die Hand geratene Schriftbruchstück gelesen, den Jähzorn, mit dem er damals Nathan Aronsohn mißhandelt, bereut und, soweit es möglich war, gutzumachen gesucht. Gegen seine Gewohnheit zeigte er sich bald nachher ungemein freigebig, dem Juden ein Pflaster auf die Wunde zu legen, bestellte ihn, als das Bein geheilt worden, durch ein eigenhändiges Schreiben wieder nach Helgerslund heraus, unter Zusicherung, daß ihm keinerlei Schaden, nur Vorteil draus erwachsen solle. Wie Nathan dann angehinkt kam, sah Brookwald ihm schon erwartungsvoll am Parkrand entgegen, fragte eilig, wo der Trödler bei seinem Herumziehen die alte Bibel gekauft habe, nötigte ihn, trotz seinem noch mühseligen Schleppen in geschwindem Schritt mit nach dem meilenweit entlegenen Gehöft zu gehen, aus dem das Buch herstammte. Doch alle Erkundigungen dort blieben fruchtlos; die früheren Insitzer des ärmlichen Hofes waren vor Jahren gestorben und die neuen, auf niedrigster Geistesstufe stehend, wußten nichts, als daß das alte Buch im Haus gewesen und sie es gern für einen Taler weggegeben hatten, weil sie doch nicht drin lesen konnten. Dunkel erinnerten sie sich an ein Hörensagen, oben in der Dachstube, wo die Bibel im Staube auf dem Schranke gelegen, habe einmal eine Zeitlang eine fremde junge Frauensperson gewohnt, die, so wie sie gekommen, eines Tages auch wieder weggelaufen wäre, keiner habe etwas mehr von ihr gesehen und gehört. Weiter vermochte alles Nachfragen und eifrigstes Suchen des Gutsherrn in der Stube nichts herauszubringen; Nathan aber gereichte damals der schmerzhafte Weg keineswegs zu dem verheißenen und erhofften Vorteil. Denn wenn auch Fritz Brookwald ihm nicht aufs neue tätlichen Leibesschaden zufügte, jagte er ihn doch, wieder in Wut versetzt, abermals mit Schimpfworten wie einen räudigen Hund davon und der Jude hütete sich seitdem, in die Nähe von Helgerslund zu geraten.

Nun hatte heut' etwas Brookwald veranlaßt, das beschriebene Blatt aus dem sorgfältig verschlossen gehaltenen Fach zu nehmen und es wieder einmal bis zu dem mitten im Satz abgebrochenen Schluß zu überlesen. Danach wiederholte er, was er im Gang der Zeit wohl schon einhalb dutzendmal getan. Alle Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß der Schreiber das fehlende Stück der Handschrift gleichfalls in das Buch hineingelegt habe, in der Hast, mit der er geschrieben, vielleicht an eine andere Stelle, und der heutige Inhaber der alten Bibel schlug vom Anfang bis zum Ende achtsam Blatt um Blatt um, ob das Gesuchte sich etwa doch noch irgendwo dazwischen verborgen gehalten habe. Aber das Ergebnis blieb wie früher, nichts fand sich, und Fritz Brookwald drückte knirschend die Zähne aufeinander. Ihm mußte außerordentlich viel an dem verlorengegangenen Blatt gelegen sein, doch er konnte es sich nicht herbeischaffen, nur Gedanken darüber im Kopf umwälzen, was es noch enthalten haben möge. Diesem Tun hatte er oftmals nachgehangen, war zu einer Vermutung gelangt, die ihm zur Überzeugung geworden. Nur gebrach's ihm an der Möglichkeit, sich eines aufzuhellen, das für ihn überhaupt dem Schriftstück seine Bedeutung gab, das allein Wichtige daran war. Nach dieser Richtung gewann er aus ihr heute so wenig Aufschluß wie früher; jeder Anhalt, jede Andeutung nur fehlte. Trotzdem drückte seine Miene gegenwärtig anderes, als nach dem sonstigen Überlesen des Blattes aus, er verschloß es zurück, stand auf und trat ans Fenster. Sein Blick richtete sich nach dem Weg hinunter, auf dem Dietrich Alfsleben und der Förster davongegangen waren, und er schien von einem heftigen Antrieb gefaßt, ihnen nachzufolgen. Doch mit besonnener Überlegung stand er von der Ausführung dieses Vorhabens für heute ab, bezwang sich, warf den schon ergriffenen Hut wieder hin und ging pfeifend in seiner Stube auf und ab.

Das vornehme Helgerslunder Schloß und das ärmliche Schulhaus von Loagger standen in keinerlei Beziehung zueinander, doch gab sich im letzteren heut' ähnlicher Beschäftigung, wie Herr von Brookwald, auch der junge Lehrer Tilmar Hellbeck hin. Freilich nicht gleichzeitig, sondern erst am Abend; wie er es gleichfalls schon häufig getan, holte er in seiner Kammer die Handschrift Jasper Simmerlunds vom Wandbord, um vor dem Schlafengehen noch wieder die Mitteilungen über das kleine, hilflose Kind zu lesen, das nun zu so wunderbarer Schönheit aufgewachsen war und seine Lebensgenossin hier unter dem vermoosten Dach werden sollte. Oft Wohl waren seine Augen über die Berichte hingegangen, doch noch nie mit so stillem, traumhaft-seligem Glanz. Jedes Wort wie unheimlich ihn anblickendes Glück in sich aufnehmend, las er vom Anfang bis zum Schluß, seine Finger zitterten leicht, wie er das letzte Blatt mit ihnen hielt. Ihm kam bei diesem Gefaßthalten desselben wieder die Empfindung, daß es sich dicker anfühle, als die übrigen, doch deutlicher wie sonst. Die Verschiedenartigst des Papiers in dem Buch war merkwürdig, nicht recht begreiflich, sein Finger spielte am Rand des dicken Blattes, das sich dabei plötzlich an einer Stelle spaltete, und er entdeckte zum erstenmal, daß sich zwei Blätter fest wie zu einem aneinander geheftet hatten. Nun löste er sie und sie trennten sich mit einem leisen Knistern, als ob zwischen die Ränder eine klebrige Flüssigkeit hineingeraten sei, die sie zusammengeleimt habe, und zwar erst nach ihrer Benutzung, denn die beiden Seiten zeigten sich beschrieben. Was auf ihnen stand, gehörte nicht zum weiter Folgenden, sondern noch als ein Nachtrag zum Vorangegangenen, enthielt die Aufzeichnung:

»Es ist die angenommene Tochter des Pastors Hollesen, bald nachdem sie fast der Vergiftung durch Arsenik unterlegen wäre, in ihrem neunten Jahre nochmals einer großen und rätselhaften Lebensgefahr ausgesetzt gewesen. lediglich durch einen glücklichen Zufall ist an einem Sonntag abend die Frau Pastorin noch mit in die Schlafkammer des Mädchens gegangen und hat etwas an dem Bett in Ordnung zu bringen gefunden, wobei ihre Hand, auf etwas Glattes und sich kaltschlüpfrig Anfühlendes gestoßen ist, so daß sie selbige hurtig zurückgezogen. Da auf ihren Ruf der Herr Pastor gekommen, hat sich herausgestellt, daß in dem Bettlinnen eine große Kreuzotter, von denen der schwarzen Hautfarbe, die das Volk ›Höllennatter‹ nennt, verwickelt gelegen, die zischend den Kopf aufgerichtet, jedoch alsbald durch einen wohlgezielten Streich zu Tode unschädlich gemacht worden. Es ist zwar die Stube Anna Hollesens ebenerdig nach dem Garten zu belegen und ein Lattengeländer zum Anhalt für Birnenbäumchen unter dem Fenster durchgezogen, so daß eine Schlange sich wohl daran heraufwinden könne. Aber es hat seit Menschengedenkzeit keiner eine solche jemals im Dorfe angetroffen, noch überhaupt die schwarze Art auch auf unserer Heide gesehen, geschweige denn, daß eine Otter in ein Haus eingedrungen wäre, wie es allerdings in den heißen Ländern von Giftschlangen mannigfach zu schrecklichster Lebensgefährdung der Einwohner geschehen soll, da eine Regung im Schlaf ihnen alsdann leichtlich, bevor sie noch recht erwachen, den Tod bringt. Also hätte es auch dem Kinde geschehen mögen, daß man es am Morgen entseelt im Bette aufgefunden.

Es ist Pastor Hollesen danach, wie es denn Wohl zu begreifen, von einer Besorgnis vor der Wiederkehr solcher Lebensgefahr seiner Tochter befallen worden, daß er sie abgehalten, allein weiter auf die Heide hinauszugehen, wie sie's gern getan, weil er vermutlich dafür hält, es könne grade dort in heimlicher Stille derartiges Unheil wieder auf sie lauern und ihr unvorgesehen zustoßen. Und scheint es auch ratsam, ein Kind, das zweimal so bösem Zufall ausgesetzt gewesen, sorglicher zu behüten, da Wohl in den beiden Fällen über ihm ein besonderer Schutzengel gewacht, doch es darum dem Menschen nach der ihm vom Schöpfer gegebenen Vorschrift und Einsicht nicht zusteht, sich zum Dritten unachtsam auf die gleiche Beihilfe zu verlassen. Wenn wir auch solche immer in die Hand der Vorsehung befehlen müssen, da unsrer Augen Sehkraft nicht ausreicht, was sich im Dunkel verbirgt, zu gewahren.«

Ein Schreck hatte Tilmar Hellbeck beim Lesen der ihm bisher unbekannt gebliebenen Mitteilung, daß nochmals eine derartige Bedrohung über dem Leben Zeas geschwebt, durchfahren, und er verstand jetzt erst die ihm nie recht erklärlich gewesene Furcht des Pastors vor den Ottern auf der Heide. Zugleich indes erkannte er bei einer näheren Besichtigung, daß die beiden Blätter nicht zufällig, sondern zweifellos durch einen an ihren Rändern aufgetragenen Klebestoff zusammengehalten worden seien, Jasper Simmerlund mußte aus irgendeinem Grunde für besser geachtet haben, einem Leser seiner Aufzeichnungen diesen letzten Bericht zu entziehen, und als ein zweites ging aus der nachfolgenden Fortsetzung des Buches hervor, daß der Schreiber ursprünglich die beiden Seiten freigelassen, wie wenn er ein Vorgefühl in sich getragen, ihrer noch zu einer Nachfügung zu bedürfen. Ein doppeltes und gleicherweise nicht verständliches Verfahren Simmerlunds sprach daraus, über das der junge Lehrer einige Augenblicke, doch umsonst, nachdachte. Gestalt und Antlitz derjenigen, von deren Kindheit die Blätter redeten, drängten sich seiner Einbildungskraft dazwischen, standen wie lebend vor ihm. Seine zukünftige Frau war's; seltener als sonst und nur für kurze Dauer hatte er sie im Gang der letzten Woche gesehen; sie kam dem von ihm für ratsam befundenen Verhalten nach, begrüßte ihn nur flüchtig dann und wann, doch ohne ihn aufzufordern, sie zu begleiten. Aber er bedurfte ihrer wirklichen Nähe auch nicht, sie war ihm immer und überall gegenwärtig, wie vor den Augen, so horte er ihre Stimme. Gleich hastig ins Sonnenlicht emporstrebenden Frühlingsblüten rankten sich wunderholde Bilder der Zukunft um ihn her; dann losch einmal plötzlich die Sonne aus, daß er erschreckt auffuhr und sah, der Docht seiner niedergebrannten Talgkerze sei umgefallen. Doch ließ ein letztes Glimmern ihm noch die aufgeschlagenen Seiten der Niederschrift seines Vorgängers entgegenschimmern; ein unwillkürlicher Schauder überlief ihn, das Buch weglegend, begab er sich rasch zu Bett, Aber ein Traum kam über ihn, in dem er auf der Heide stand und eine schwarze Otter sich gegen Zea heraufschnellen sah. Er wollte ihr zu Hilfe eilen, doch war er zu weit entfernt, konnte es nicht mehr und wachte, wie aus der Luft niederfallend, halb auf. Und nicht angstvoll, denn er horte sie fröhlich lachen; eine Hilfe war ihr noch rechtzeitig gekommen, woher und wie wußte er nicht, aber er atmete befreit, sie war gerettet, und eine Stimme, welche die Jasper Simmerlunds sein mußte, sagte: »Es hat wider Verhoffen somit auch zum Dritten ihr Schutzengel doch noch wiederum über ihr die Wache gehalten.«


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