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IV.

Letzter Wochentag war's gewesen, und als der Morgen anbrach, kündete die Kirchenglocke von Loagger den Sonntag über Land und Wasser. Weitum ging ihr Ruf durch stille Luft; nicht ein Sonntag nur war's, auch ein Sonnentag, erfüllend, was die weiche Regennacht verheißen. Dem Schiffer, der, sich über die Planke lehnend, draußen unter kaum gebauschtem Segel auf kleinem Deckboot langsam dem Ufer entlang zog, klang's wie ein singender Ton aus den leis' dünenden Wellen. Den Strand lief's entlang, wie ein Wettspiel mit den huschenden Vögeln. Fern auf die Heide hinaus ging's eilend und bleibend, allgegenwärtig, ihr noch schmuckloses Gesträuch wie jeden grünknospenden Birkenzweig umsummend; aufhorchend da und dort hoben die Eidechsen ihre Köpfe ins freudige Licht. Nach dem Waldrand im Osten schien der Schall hinüberzutrachten, doch bis dahin gelangte er nicht; kaum zu empfinden zwar, stand die Luftbewegung ihm entgegen, seine Schwingungen lähmend, wie Schwingen eines sich ermüdet zum Boden herabsenkenden Vogels. Sonntagsgeläut, seine Mahnung zur Abwendung vom Irdischen war's, aber im Ohr tönte sie wie ein lieblicher Gruß des Frühlings, ein holder Weckruf zum Erblühen und zur Freude.

Und auf die Kanzel stieg der Pastor Christian Hollesen und verkündigte das Evangelium, die Botschaft des Himmels an die Menschen, daß alle Herzen bereit seien, mit freudigem Dankgefühl sich der einigen Güte und Liebe zu öffnen. »Sehet, sie schreitet draußen über Feld und See im goldenen Gewand. Zu jedem tritt sie heran, denn keiner achtet sie gering. Ob die Lippe schweigt, ihr gilt als Gebet der Glückstrahl eines Auges, das Klopfen eines Herzens. In ihm tragt ihr den Wahrspruch, euch selbst zu kennen, ob ihr der Gaben wert seid, die euch zugemessen, euch ihrer zu erfreuen oder vor ihnen zu erschrecken. Denn es leuchtet gleicherweise der Sonne Licht über Gerechte und Ungerechte, die unser Blick oftmals nicht scheiden kann im Dunkel ihrer Brust, doch in ihr fället jeglicher sich sein Gericht.«

So sanft die Stimme Christian Hollesens klingen konnte, so mächtig auch vermochte sie das Kirchengewölbe zu durchhalten und tat dies gegenwärtig bei dem letzten Satz. Allerdings zur Hebung des Tones auch durch einen äußeren Anlaß genötigt, um sich bei einem vom Fliesenboden aufdröhnenden Geräusch von Fußtritten vernehmbar zu machen. Ein Wagen war draußen vorgefahren, aus dem die Gutsherrschaft von Helgerslund, Herr Friedrich von Brookwald, seine Frau und seine Tochter gestiegen. Sie fehlten niemals beim sonntäglichen Gottesdienst, stellten sich gewöhnlich noch vor seinem Beginn ein. Doch heut' hatten sie sich verspätet; im Vorschreiten das Gesicht dem Prediger zuwendend, ließ der Schloßherr einen Ausdruck des Bedauerns darüber aus seiner gutmütig jovialen Miene sprechen. Er war nicht eigentlicher, wenigstens nicht alleiniger Patronatsherr der Kirche, deren Verhältnisse nach dieser Richtung von alter Zeit her nicht recht klar gelegen, bis sie einmal von seiten des Staates dahin fester geordnet worden, daß dieser sich mit den Gütern Helgerslund und Ekenwart in das Patronat geteilt. Doch bekümmerte er sich kaum um Zustände und Bedürfnisse der abgelegenen Pfarre und noch minder der jetzige Freiherr von Alfsleben, der seit bald zwei Jahrzehnten den Fuß nicht hierhergesetzt. So war Fritz Brookwald – mit dem Namen ward er in der Gegend zumeist von seinen Standesgenossen benannt – der einzige, an den sich der Pastor in äußeren Angelegenheiten der Kirche mit Erfolg zu wenden vermochte, und es hatte sich daraus zwischen ihnen ein Verkehr gestaltet oder richtiger der fortgesetzt, welcher vorher zwischen dem Pfarrhaus und dem verstorbenen Besitzer von Helgerslund, dem Schwiegervater Brookwalds, bestanden. Christian Hollesen hatte die Frau des letzteren noch als Kind gekannt, sie wie ihren in der Nordsee ertrunkenen Bruder konfirmiert und die Trauer über diesen jähen, erschütternden Unglücksfall mit ihr und ihrem Vater geteilt. Dann war die Trauung Gertruds von ihm vollzogen worden, so verknüpften ihn langjährige Beziehungen mit ihr. Nun war die Zeit weitergeschritten, eine neue Geschlechtsfolge heranreifend, denn Unna Brookwald stand bereits nah davor, ihr siebzehntes Jahr zu erreichen.

Die zu spät Gekommenen nahmen ihren besonderen Stuhl ein, mit Ausnahme Unnas, die sich an die Seite Zea Hollesens setzte, von dieser durch eine etwas fortrückende Bewegung dazu aufgefordert. Es ließ Neigung und Befreundung zwischen den beiden jungen Mädchen erkennen; die erst jetzt Eingetroffene faßte unter dem überspringenden Tischrand zu einer stummen Begrüßung nach der Hand ihrer Nachbarin und behielt sie in der ihrigen, während ihr Vater zu einem kurzen Gebet vor sich nieder sah und dann andächtig aufmerksam der Predigt zuhörte. Frau Gertrud von Brookwald tat das gleiche, doch lag in dem Falten ihrer Hände etwas von Gewöhnung Ausgeübtes, bei dem ihr Denken nicht anwesend sei. Sie zeigte in den Gesichtszügen Ähnlichkeit mit ihrer Tochter, natürlich dem Unterschied der Jahre gemäß. Indes war sie, wenn auch von mehr als doppeltem Alter, keineswegs eine alte Frau, hätte, kaum über die Mitte der Dreißiger hinaus, fast noch zu den jungen gezählt werden können. Doch sie sah älter aus, wenigstens überwogen auf den ersten Blick das schon leicht ergrauende Haar und leis' die Stirn durchziehende Schattenstriche das Jugendliche, das ihren Zügen noch geblieben und erst bei genauerer Betrachtung hervortrat. Aus ihren blauen, großen Augen sprach Milde; sie hingen am Munde des Predigers, doch nicht eigentlich mit einem Ausdruck kirchlicher Andacht. Ohne Zweifel kam sie willig, von eigenem Trieb geführt, hierher, den Worten Hollesens zuzuhören. Aber nicht der Pastor war's, der vor ihr von der Kanzel redete, sondern ein Mensch, mit dem sie lange Freundschaft, Verehrung und Vertrauen von Kindheit auf und Übereinstimmung der Gedanken verband. Zuweilen erschien's, als nehme ihr auf sein Gesicht hin gerichteter Blick auch ihn nicht gewahr, sondern sehe durch ihn hin in eine Weite.

Wie immer stillten die zur Gemeinde Gehörigen den kleinen Kirchenraum dicht an, auch Henning Wittkop befand sich in sonntäglichem Anzug drin. An einem Pfeiler stehend, hörte er sichtlich der Predigt, sowohl mit schuldiger Achtsamkeit, wie auch gern zu, doch hielt diese kirchliche Pflichterfüllung ihn nicht ab, in jeder Minute nach den nebeneinander sitzenden jungen Mädchen zu schauen und einmal sogar wohl ohne Selbstwissen halb- oder viertelslaut in seinen Bart hinein zu reden: »Sie sind richtig als wie ein Seeschwalbenpaar, bloß daß die Witta noch weißer von Federn ist.« Unweit von dem Strandvogt stand auch Tilmar Hellbeck; sein Blick hatte nichts stetig Verbleibendes, ging durch die Kirche umher, hob sich nach den von Sonnenstrahlen glitzernden Fenstern und schweifte wieder abwärts. Er schien an Pflanzen und Blumen draußen auf der Heide am Seestrand zu denken, wenigstens deutete Zea Hollesen sich es so, die aufschauend einmal seinen Augen begegnete und den Anflug eines Lächelns um ihre Lippen spielen ließ. Manchmal nahm sie am sonntäglichen Gottesdienst teil, manchmal versäumte sie ihn, blieb draußen in der Sonne. Ihr Vater verlangte nicht, daß sie zugegen sei, hatte nie ein Wort der Mißbilligung, wenn sie nicht gekommen. Doch wußte sie, ihre Gegenwart erfreue ihn, und ihr bereitete es gleichfalls Freude, dem, was er von der Kanzel sprach, zuzuhören, so war sie heute hier anwesend. Wohl aber begriff und fühlte sie auch, daß man sich trotzdem aus dem engen Kirchenraum fortsehnen könne, in die Weite, unter das blaue Himmelsdach hinaus, und dies Verständnis geheimen Wunsches Tilmar Hellbecks drückte das leise Lächeln ihres Mundes aus. Doch der junge Lehrer faßte es kaum auf, sein Blick ging rasch nur an ihr vorüber. Ein einziges Mal waren seine Augen in die Richtung ihres Platzes geraten und zufällig gerade die ihrigen mit ihnen zusammengetroffen. Es wiederholte sich nicht, denn sein Gesicht kehrte nicht mehr nach ihrer Seite zurück.

Christian Hollesen aber nahm am Schluß seiner Predigt noch einmal den Gedanken auf, dem er gerade bei der Ankunft der Helgerslunder Gutsherrschaft Ausdruck gegeben. In seiner Art, sich gerne der Bilder zu bedienen, welche die Natur um Loagger darbot, tat er's und sprach:

»Es hält sich oft verborgen des Menschen Trachten und Tun gleich dem Grunde des Meeres, wohin nicht Auge und Ohr reicht, daß er es wohl verdeckt wähnt und nicht sorgt, das Licht des Tages könne drauf fallen. Aber ein Wind braust daher, den er nicht vorgesehen, und läßt die Welle aus der Tiefe aufrauschen, daß sie Verschwiegenes emporhebt und dem Blick ans Ufer trägt. Sei es eine Sünde des Gedankens, sei es eine Missetat, sie werden zeugen gegen den, der sie gehegt oder begangen, denn Gerechtigkeit hält die Schalen der Wage, jeglichen zu wägen nach seiner Gebühr. Ob auch die Zeit über eine Schuld sich legen mag gleich dem Flugsand, es wandert doch die Düne wieder ab von ihr, und entblößt liegt sie vor der Sonne für die Stunde des Gerichts. Ist einer unter eurer Zahl, dem vor solchem bangt, da kehre er in Reue sein Herz, abzulassen vom bösen Trieb, In sich, als sein eigener Richter, spreche er sein Urteil und finde Vergebung, wenn er sie in sich selbst zu finden vermag.«

Der christliche Pastor hatte das nämliche Gleichnis von dem alles überdeckenden Sand gebraucht, wie gestern der Jude Aronsohn, es lag gleichsam draußen vor der Kirchentür, und für die Strandanwohner konnte kaum ein Bild etwas deutlicher bezeichnen. Auch Henning Wittkop nickte mit dem Kopf und nach seiner Gewohnheit murmelte er, als Tonlaut halbverständlich für das Gehör der ihm zunächst Stehenden vor sich hin: »Ja, Sand in die Augen.« Doch was er mit dieser an sich selbst gerichteten Bemerkung besagen wollte, war nicht zu entnehmen; seine Stirn hob sich dabei zu einem kurzen, durch die Kirche hin über die Gankreihen der Dorfeinwohner weggehenden Aufblick, dann verwandte er seine Achtsamkeit auf die Predigt zurück. Sie war nicht lang mehr, das Schlußgebet klang bald von der Kanzel, der Gesang hob wieder an, verhallte, und die Kirche leerte sich. Sehr schön war's, aus dem kalten Licht des kühlen Raums in den warmüberfließenden Sonnenglanz hinauszutreten; Unna hielt den Arm in den Zeas gelegt, so gingen sie miteinander, die junge Brust beider atmete wie wetteifernd in unbewußter Freudigkeit die kräftige Frühlingsluft ein. Sie kamen nicht oft, nur am Sonntagvormittag und auch dann meistens nur für kurze Zeit zusammen, doch unverkennbar hing Unna Brookwald mit dem Herzen an ihrer Begleiterin. Sie war ungefähr nur ein Jahr jünger, schlank und schön aufgewachsen, aber ein Kind noch an Leib und Gemüt, fröhlich wie ein Falter in der Sonne. Ihre Augen gingen über den Friedhof, doch sahen nur das Flimmern und Spielen der Lichter auf den Kränzen und Grabsteinen, die Schatten, die von ihnen über den Boden hinfielen, rührten sie nicht an. Den leichten Fuß einmal haltend, sagte sie mit heiterer Stimme: »Da ist Onkel Meinolfs Stein; es sieht aus, als wäre der Efeu im Winter noch gewachsen, man kann kaum mehr die Inschrift lesen.«

Die Leiche Meinolfs von Rhade hatte das Meer nicht herausgegeben, doch seine Schwester ihm auf dem Kirchhof von Loagger ein Gedächtnismal gesetzt, als liege er darunter bestattet. Eine weiße Marmorplatte war in den Granitblock eingelassen, auf ihr stand der Name des Toten und ein Grabspruch, den Christian Hollesen hinzugefügt. Der Efeu hing verdeckend darüber, nicht, weil er sich zu stark verdichtet, der Wind hatte lose Ranken herabgedrückt. Die Hand Zeas schob sie jetzt beiseite und sie sprach dazu: »Für mich ist's' nicht nötig, ich weiß von Kindheit auf auswendig, was darauf steht. Aber der Spruch meines Vaters ist schön und gehört in die Sonne.«

Sie stand zwischen dieser und dem Stein, so daß ihr Schatten auf ihn fiel, doch die Inschrift trat jetzt deutlich hervor:

»In Jugend, sprachen die Alten, gehen dahin, die von den Göttern geliebt werden: Leidlos aus der Sonne entrafft jäh sie der Blitzstrahl. So leben sie immer jung dem Gedenken.«

»Mich deucht's doch besser, älter zu werden,« sagte Unna Brookwald, »ich möchte noch nicht sterben. Oder du?«

Sie mußte zu der letzten Frage lachen, und Zea antwortete frohsinnig: »Glaubst du, ich habe die Sonne weniger gern?« Der Grabstein warf für sie beide keinen Schatten, verknüpfte ihnen keine Vorstellung. Sie hatten den, dessen Gedächtnis er erhielt, nicht gekannt.

Doch Unnas Mutter, die jetzt auch herzukam, sah man an, sie trage die Erinnerung in sich. Wie immer, wenn sie die Kirche verließ, nahm sie den Weg hier vorüber, den Stein mit einem mitgebrachten Gedenkzeichen zu schmücken; heut waren es erste Veilchen, die ihr Bruder besonders geliebt. In ihren Augen stand, wahrend sie die kleinen Duftblüten schweigend zwischen den Efeuranken befestigte, sie bringe die Gabe ihm, doch auch sich selbst, einer Vergangenheit, in der sie noch lebe, die sie an dieser Stelle wie noch seiend vor sich gewahre. Dann wandte sie sich, Zea freundlich zu begrüßen; aus der Art, wie sie dem Mädchen die Hand reichte, sprach, daß sie die Zuneigung ihrer Tochter teile.

Ihr Mann war zurückgeblieben, auf das Herauskommen des Pastors aus der Kirche zu warten, mit dem er eine Pfarreiangelegenheit zu besprechen hatte. Christian Hollesen trug die vorgeschriebene geistliche Summartracht nur auf der Kanzel, legte sie stets erst in der Sakristei an und wechselte sie dort wieder gegen seine gewöhnliche Kleidung um. Nun näherte er sich in dieser im Gespräch mit Herrn von Brookwald gleichfalls heran; der letztere blickte den Weg vorauf, brach von der Unterredung ab und sagte, sich die auf die beiden Mädchen vorgerichteten Augen mit der Hand beschattend: »Dort, glaube ich, stehen meine und Ihre Tochter, man kann sie bei der Sonnenblendung kaum voneinander unterscheiden, ihre Größe ist fast gleich, Unna muß im letzten Jahre stark gewachsen sein.«

Der Pastor ordnete noch etwas an seinem umgetauschten Rock, ehe er antwortete: »Ja, auch ihre Gesichter haben etwas Ähnlichkeit miteinander.«

»Finden Sie? Das ist mir noch nicht aufgefallen; freilich bei meiner Kurzsichtigkeit kann's mir begegnen, daß ich eine Holztaube für eine Elster ansehe und darauf losknalle.«

Fritz Brookwald erwiderte es in seiner, den ersten besten ihm auf die Zunge kommenden Ausdruck nicht abwägenden, halb derben, halb saloppen Sprechweise; sie gab ihm etwas offen Natürliches, dem gesuchte Worte fremd und ungelegen seien. Er fügte nach: »Da muß ich sie mir einmal betrachten«, und gegen Zea hinantretend, redete er sie an: »Laß dich einmal unter die Lupe nehmen, Kind – oder mir gehen heute wohl die Augen auf, daß es an der Zeit geworden ist, ›Fräulein‹ zu sagen und sich dahinter mit der dritten Person zu inkommodieren. Nein, lieber Pastor, allen Respekt vor Ihren guten Augen, aber weiter als im Längenmaß kann ich nichts Ähnliches bei den zwei ins Kraut geschossenen Pflanzen ausfinden. Die Sorten kommen mir doch ganz verschieden vor.«

Vielleicht klang aus dem letzten ein bißchen aristokratischer Hochmut, der von vornherein eine Artverschiedenheit zwischen der Tochter des Sprechers und dem bürgerlichen Adoptivkind des Geistlichen als selbstverständlich betrachtete, und Hollesen beeilte sich, zu entgegnen: »Natürlich, mir konnte nicht einfallen, beide weiter als in der oberflächlichen Erscheinung vergleichen zu wollen,« Brookwald versetzte lachenden Mundes:

»Ich glaube, ich habe einmal wieder Zeug geschwatzt, verstehen Sie's nicht falsch, lieber Freund, Sie kennen meine schlechte Gewohnheit, nicht lange nachzudenken, was mir herausfährt. Übermäßig zartfühlend bin ich ja nicht zur Welt gekommen, aber ich hoffe, für so geschmacklos halten Sie mich nicht, daß ich –«

Eine launige Miene ergänzte den Schluß und der Sprecher fuhr fort: »Übrigens hat mir heute Ihre Predigt ganz besonders zugesagt. Unsereins weiß leider Gotts, wie not es tut, den Leuten manchmal ordentlich ins Gewissen zu reden. Wenn's Ihnen recht ist, gehe ich mit in Ihre Studierstube, daß wir die Patronatssache dort besprechen. Ich bleibe ja doch einmal vor dem Rest damit, der Staat läßt sich den Schlaf nicht dadurch verderben und mein Nachbar auf Ekenwart noch weniger. Sein Sohn, der Meinolf, hör ich, hat sich einmal wieder eingefunden, da kriegt er vermutlich einen Kumpan für sein herumknallen und seine Schrullen; die Äpfel Pflegen nicht weit vom Stamm zu fallen.«

»Ihre Anerkennung ist ehrend und erfreuend für mich, Herr Baron. Wenn es Ihnen beliebt, ich stehe zu Dienst.«

Christian Hollesen beobachtete dem Patronatsherrn gegenüber einem seinem Munde fremdstehenden förmlichen Ton, der die joviale Weise nicht erwiderte, sondern sich merkbar mit Zurückhaltung unterordnete. Fritz Brookwald war nicht freiherrlichen Standes, doch der ihm von dem Pastor gegebene Titel warb ihm allgemein gebräuchlich beigelegt; die Besitzer von Helgerslund waren seit Menschengedenken Barone gewesen. Seine Kurzsichtigkeit mußte nicht so hochgradig sein, wie er sie dargestellt, denn er hatte bemerkt, daß bei einem der von ihm lachend gesprochenen Worte seine Frau leicht gezuckt und ein schmerzlicher Zug über ihr Gesicht hingegangen. Er wandte sich jetzt zu ihr: »Was hast du? Ach so, der Name deines Bruders war. Entschuldige, aber ich bin nicht sentimental veranlagt, und mich dünkt, du könntest nach so langer Zeit dies empfindsame Gefühl auch einmal ablegen, liebe Gertrud. Wir müssen alle sterben, und wäre er nicht –«

Brookwald führte den Satz nicht zu Ende. Das Ungesprochene ließ verschiedene Deutungen zu, doch als die wahrscheinlichste, daß ihm auf der Zunge gelegen, fortzufahren: »Wäre er nicht gestorben, so würdest du nicht die Erbin von Helgerslund gewesen sein.« Gertrud entgegnete nichts, aber ihr stand im Gesicht zu lesen, sie habe es so verstanden. Ein Antlitzausdruck war's, der in seiner Schweigsamkeit noch mehr redete, zwischen ihr und ihrem Manne bestehe kein innerliches Verhältnis, die früheren Schattenstriche auf ihrer Stirn und das graudurchspielte Haar seien nicht in einem Widerspruch mit ihrer Lebensführung. Allein sichtlich war sie gewöhnt, sich zu beherrschen, keinen Laut ihres Inneren offenbar werden zu lassen. Mit einem blassen, freundlichen Lächeln wendete sie sich jetzt Mathilde Hollesen, der Frau des Pastors, entgegen, die, nach ihr suchend, um die Kirche herzukam. Die beiden Frauen begrüßten sich, freundschaftliche Beziehung an den Tag legend, und schlugen miteinander den Weg nach dem Pfarrhofe ein, wohin Herr von Brookwald und der Pastor schon vorausgegangen. So blieben die beiden jungen Mädchen wieder allein, standen nach wie zuvor beisammen, und Zea sagte: »Deine Mutter war traurig.«

Unna Brookwald antwortete, der Genannten nachsehend: »Ja, Mama ist manchmal empfindlich und verträgt dann das Spaßen meines Vaters nicht.« Es lag ein Unterschied in ihrer Bezeichnung der beiden; sie fuhr fort: »Mir tut's weh, wenn ich dabei bin; so wie ihr kann's mir ja nicht sein, aber ich fühl's doch mit, der Onkel Meinolf muß ein prächtiger Mensch gewesen sein, ganz anders als – als sonst viele und jedenfalls auch als der, der nach ihm den Namen bekommen hat. Daß der wieder da ist, meinetwegen hätt' er's nicht nötig gehabt. Kannst du dich noch an ihn erinnern?«

»An wen?«

»Meinolf Alfsleben; mein Vater sagte ja, er wäre wiedergekommen. Da kann man sich in acht nehmen, daß einem die Glieder heil bleiben; wo er dabei ist, riskiert man immer geradezu sein Leben, Man kriegt etwas an den Kopf geworfen oder er stößt einen blindlings in den Teich.«

Zea Hollesen fiel ein: »Ach der, ja, mir fällt's ein, es muß lange her sein. Aber er holte dich auch wieder heraus, ist's mir.«

»Natürlich, sonst könnt ich mich heut wohl nicht daran erinnern.« Unna lachte fröhlich, sie war ein Kind, dem einen Augenblick der schmerzliche Zug im Gesicht ihrer Mutter nah' gegangen, aber der Frohsinn brach rasch wieder in ihr durch. »Mama kam, wie er mich, von oben bis unten triefend, ins Haus trug, er selbst war natürlich ebenso pudelnaß, und sie litt nicht, daß er so wegging, sondern er mußte sich auch erst bei uns trocken umziehen. Das weiß ich noch gut, denn ich hoffte, Mama würde ihn gehörig ausschelten und heruntermachen für seine Fahrigkeit, aber statt dessen war sie nur dankbar und zärtlich gegen ihn, daß er mich herausgezogen und mir das Leben gerettet hatte, und er bekam ein großes Glas voll von einem schönen, warmen Getränk, von dem ich nur ein kleines abbekam.«

»Ja, gesehen hab' ich ihn wohl auch ein paarmal, aber bis hier heraus ist er vermutlich selten gekommen; wie er aussieht, weiß ich nicht mehr,«

Zea drehte sich halb und erwiderte auf einen Gruß: »Guten Morgen, Tilmar. Dir ward es heut bei der Sonne zu eng in der Kirche.«

Der junge Lehrer war, da und dort eine Grabinschrift lesend, der letzte auf dem leergewordenen Kirchhof geblieben, jetzt den Weg entlang geschritten und hatte vor den beiden Mädchen den Hut gelüftet. Es schien in seiner Absicht gelegen zu haben, vorüberzugehen, doch die Anrede ließ ihn stehenbleiben und entgegnen:

»Guten Morgen, Anna. Weshalb meinst du's?«

»Ich las dir's in den Augen. Worüber lachst du, Unna?«

Die Befragte drückte sich die Zähne auf die Lippe. »Mir kommt's so komisch vor, daß jemand dich Anna nennt. Warum sagen Sie denn nicht Zea?«

Tilmar Hellbeck stieg ein leichtes Rot ins Gesicht. »Was kommt mir nicht – kommt mir nicht auf die Zunge. Ich habe Fräulein Hollesen Anna genannt, als sie noch meine Schülerin war –«

Das ließ auch ihr ein Lachen um den Mund spielen. »So hast du mich noch nie genannt. Liegt's heute in der Luft, auch Unnas Vater wollte mich so neu anreden.« Er stand etwas ungewiß, ob er noch bleiben oder weitergehen sollte; sie setzte hinzu:

»Was hast du heut morgen vor? Der Sonntag ist dir der beste Tag.«

»Ich dachte, nach Herdsand zu rudern, nachzusehen, ob dort schon etwas zu finden ist.«

Nicht die Worte, doch ihr Ton regte das Gefühl, eine Antwort zu erwarten; Zea fiel ein:

»Dahin möcht ich mit dir, es muß heute schön drüben sein. Kannst du nicht mit, Unna?«

Die Befragte schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, meine Eltern werden bald zurückfahren.«

»Wir wollen uns erkundigen. Sieh dich nach mir am Strande um, Tilmar; wenn's geht, komme ich.«

Der junge Lehrer lüftete den Hut wieder und ging; die Verabschiedungsart galt dem adeligen Fräulein, Zea hätte solche Grußweise von ihm nicht verstanden. Die Mädchen wandten sich jetzt nach dem Pfarrhause; wie er aus der Hörweite gekommen, sagte Anna Brookwald:

»Mich reizt es auch schon zum Lachen, wenn ich Tilmar Hellbeck sehe. Ich weiß nicht warum, er ist so komisch,«

»Er ist der beste, außer meinem Vater, mein liebster und einziger Freund; wenn ich ohne ihn sein sollte, das könnte ich mir nicht denken. Was du sagst und tust, ist kindisch, Unna, und steht dir schlecht an. Du kennst ihn nicht, nichts weiter, als daß er bei dir, wenn er dich mit mir trifft, etwas verlegen ist. Du kommst ihm vermutlich wie etwas anderes vor als ich.«

Unwillig, beinahe hastig war's Zea Hollesen vom Mund gekommen. Unna Brookwald erschrak und griff rasch nach ihrer Hand.

»Sei mir nicht böse, ich bin ja einfältig. Was du lieb hast, ist gewiß gut, ich lache nur gern, und zu Hause ist's mir selten recht danach. Hast du mich auch wieder lieb?«

Sie streichelte zärtlich die langbefingerte seine Hand Zeas, die ihren Unmut schnell wieder ausglich. Den Kopf der Reumütigen an sich ziehend, küßte sie Unna rasch einmal auf die Lippen; für einen Zuschauer war's in diesem Augenblick täuschend gewesen, als biege sich ein junges Gesicht seinem eigenen, aus einer Spiegelfläche zurückkommenden Bild entgegen. Merklich war's ein Kuß von nicht an solches Tun gewöhnten Lippen, auch die Empfängerin schien davon überrascht, doch mehr noch beglückt. Ihren erschreckten, bittenden Augen gegenüber hatte Zea ein plötzlicher Antrieb gefaßt, die erzürnt ihr entfahrenen Worte so wieder gutzumachen; nun fügte sie nach:

»Ich weiß ja, daß du nichts böse meinen kannst. Warum ist's dir denn zu Hause nicht zum Lachen?«

»Mir wär's immer, wenn ich dich bei mir hätte.« Die Antwortende griff wieder nach der Hand der Freundin. »Komme heute mit! Wir haben genug Platz im Wagen. Seit wie lange bist du nicht bei uns gewesen! Tu's!«

»Wenn mein Vater mich wieder einmal zu euch mitnimmt. Allein darf ich den weiten Weg nicht gehen, er hat's mir verboten,«

»Sonst verbietet er dir doch nichts.« Über die Freudigkeit Unnas war ein Schatten gefallen, »Hin führest du ja mit uns, mehr Schutz brauchst du doch nicht. Und was sollte dir denn unterwegs zustoßen?«

»Mein Vater sagt, auf den Koppeln bei euch vorm Wald ist zuweilen ein böser Stier los, der könnt auf mich zustoßen mit den Hörnern. Ich habe keine Furcht davor, aber meine Eltern würden sich ängstigen. Sonst ginge ich gern mit dir, auch auf der Heide muß es heut schön sein.«

»Du, warum sind die Stiere eigentlich im Frühling oft so bös, viel ärger als sonst? Das kommt mir ganz unnatürlich vor, grad um diese Zeit, wenn alles so schön wird, könnt ich's doch am wenigsten sein.«

Darauf wußte Zea keine Antwort, aber sie mußte lachen. Wohl hauptsächlich über die Vorstellung, Unna solle sich wie ein bösartiges Tier behaben, indes auch über die Frage; die hätte sie nicht getan, sie war doch um ein Jahr älter. Nun erreichten die Mädchen das Pfarrhaus, vor dem der Helgerslunder Wagen schon zur Rückfahrt bereithielt. Die beiden Frauen saßen beisammen im Gärtchen, sie hatten miteinander gesprochen oder eigentlich Mathilde Hollesen allein. Wie ihr Mann, wenn er den Summar abgelegt, nichts von einem Geistlichen an sich trug, so hatten auch ihr Gesicht und Wesen nichts von dem, ziemlich allgemein im Lande ähnlich Wiederkehrenden der Frau eines Pastors. Sie war Frau von Brookwald um zehn Jahre voraus, ungefähr in gleichem Altersverhältnis, wie es zwischen den Männern bestand, doch in ihrem Verhalten der adligen Dame gegenüber lag nichts von Steifheit, vielmehr ein völliger Gegensatz. Sie hatte eine kleine Weile mit ihren freundlich-stillen, doch von innerer Teilnahme zeugenden Augen schweigend in den Sonnenglanz umhergeblickt und sagte gegenwärtig etwas gedämpften, aber zum Herzen gehenden Tons:

»Ich sah Ihnen an, Gertrud, daß es schmerzend in Ihnen aufgewacht sei. Wenn der Tag so schön ist, bringt er's wohl mit sich, die Sonne ruft den Schatten. Daß die Haare grau werden, ändert's nicht – bei Ihnen freilich ist's zu früh – aber in sich, deucht mich, wird man dadurch nicht älter. Ich wenigstens bin's noch nicht geworden und fühle mit Ihnen wie an dem Tag, als Sie zu mir kamen und bei mir weinten, wie bei einer Mutter. Damals suchte ich Sie zu trösten, und glaubte selbst noch daran, an sein Wiederkommen. Das ist nicht geschehen, und heut glaube ich, es war besser so für Sie, Mein Mann hat es auf den Stein geschrieben: ›So leben sie jung dem Gedenken‹; das gilt nicht für die Toten allein. Ein ungelöstes Rätsel ist mir's auch, aber es ist manch Dunkles um uns auch im hellsten Licht. Ich meine – da kommen die Kinder, Ihre eigene Tochter, liebe Gertrud. Die meinige macht mich gewiß so glücklich, wie ich es wünsche, doch das Schicksal war Ihnen gütiger gesinnt. Ich mußte mir erst aneignen, erobern, was es Ihnen freiwillig gab.«

Die Absicht eines Trostes klang nicht gerade aus den letzten Worten hervor, aber der freudige Augenausdruck der Sprecherin konnte nicht fehlen, in ihrer Herzensempfindung sei kein solcher Unterschied vorhanden. Einfallend wiederholte Gertrud von Brookwald: »Gütiger! Gab es Ihnen nicht, Ihren – ?«

Sie sprach nicht aus, es schien, daß sie um der in den Garten eintretenden Mädchen willen abbrach, doch ein Zucken der Lippe lieh ihrem Innehalten andere Deutung. Im Studierzimmer des Pastors endeten die beiden Männer ihre Besprechung; Hollesen hatte nach herkömmlicher Weise eine Portweinflasche auf den Tisch stellen lassen, von deren Inhalt der Patronatsherr mit Wohlgefallen getrunken. Nun ordnete der Pastor, ihm kurz den Rücken wendend, einige benutzte Papiere in sein Schrankfach zurück; er nahm dabei eigentlich unnötig eine schräge, etwas unbequeme Stellung ein, die Fritz Brookwald äußern ließ: »Als Praktikus sind Sie nicht auf die Welt gekommen, lieber Pastor, das hätten Sie mit weniger Inkommodität zuwege bringen können.« Er streckte die Hand nach dem Tisch, sein Glas zu fassen, wie Christian Hollesen es trotz seiner Abkehrung wahrnehmen konnte, denn er stand gerade so, daß ihm ein in halbdunkler Ecke hängender kleiner Wandspiegel ein Widerbild seines Gastes zurückgab. Den Blick darauf hingerichtet haltend, beendete er sein Tun; wie er den Kopf danach wieder umdrehte, sagte Brookwald lachend: »Man muß sich bei Ihnen einladen, um etwas Gutes zu kriegen, neben der Kanzel wachsen die besten Reben. Das ist alter Brauch und vermutlich der Weinberg des Herrn, von dem die Schrift redet. Aus meinem Mund werden Sie's nicht als Blasphemie nehmen, lieber Freund, es gehört sich, daß die göttliche Weltordnung auch ordentlich für ihre Diener sorgt. Aber ich denke, Sie werden mit mir, als Ihrer Handhabe für die Kirche in Loagger, gleichfalls zufrieden sein; wo geistlich und weltlich Regiment einträchtig Hand in Hand gehen, kann gute Ernte nicht ausbleiben. Also auf Ihr Wohl den Rest des ausgezeichneten Trunks!«

Der Pastor verneigte sich. »Ich freue mich für unsere Kirche, daß die Angelegenheit durch Ihre Zustimmung erledigt worden, Herr Baron, Darf ich Ihnen das Glas noch einmal füllen?«

»Nein, danke, danke! Sie wissen, ich habe leider Gotts mancherlei Untugenden, aber von der über den Durst lasse ich mich nicht an der Kehle fassen. Im Grund ist's haarsträubend, daß ich Ihnen oft Sonntags Ihren guten Wein austrinke und Sie mir nie Gelegenheit geben, mich zu revanchieren. Na, ich hoffe doch bald mal! Jetzt heißt's, den Gäulen ein Paar überziehen, daß wir nach Haus kommen. Ich habe vor Tisch noch allerlei zwischen die Finger zu nehmen, es ist immer dafür gesorgt, daß es was gibt, Wochentag und Sonntag, Dabei läuft einem dann das Leben auch durch die Finger.«

Hollesen geleitete den Helgerslunder Schloßherrn hinaus, der, seine Frau und seine Tochter herbeirufend, den Wagen bestieg, auf dem er die Zügel ergriff, während der Kutscher einen Hintersitz einnahm. Die Pastorin und Zea winkten den Abfahrenden Grüße nach; es waren zwei Familien, deren weibliche Angehörigen in freundschaftlichem Verhältnis zueinander standen. Ebenso verhielt sich Fritz Brookwald in seiner treuherzig-biedern Art gegen den Pastor, und nur dieser wich nicht von den gemessenen Formen ab, die er sich in seiner Stellung dem adligen Patronatsherrn gegenüber vorgeschrieben. Seit mehreren Jahren schon beobachtete er sie in immer gleichbleibender Weise.

Das elegante Jagdfuhrwerk rollte ostwärts über die Heide fort; aufgeräumt sprach Brookwald zu den hinter ihm sitzenden Frauen zurück. »Ein närr'scher Kauz, der Hollesen mit seiner Steifheit! Ich glaube, er tut sich was auf die seine Manier zugut, Leute aus seinem Stand haben's manchmal so an sich. Na, jedem sein Vergnügen! Nur, ich sagt's ihm auch, es ist mir nachgrabe nicht angenehm, daß ich Sonntags immer seinen schlechten Portwein heruntertrinke und ihm fast nie etwas wieder vorsetzen kann, Hast du deine Freundin eingeladen, Unna, daß man sich wenigstens auf diese Art etwas revanchiert? Sie könnte ja mal ein paar Wochen bei uns bleiben.«

Die Befragte antwortete: »Ja, aber sie darf nicht, ihr Vater hat's ihr verboten.«

Durch die Wimpern Fritz Brookwalds ging ein kurzes Jucken, er wiederholte: »Verboten? Wer? Ihr Vater? Ihr Adoptivvater meinst du! Dummes Zeug! Du muht dich verhört haben. Warum sollte er's ihr verbieten?«

»Es war' ein böser Stier bei uns auf der Koppel, über die der Weg geht,«

»So, darum. Da soll man den Bullen einsperren, ich will dafür sorgen. Sag's ihr am nächsten Sonntag; zu albern, was die Leute sich oft für überflüssige Hirngespinste machen. Also vergiß es nicht, der Pastoralwein kratzt mir sonst noch mehr in der Kehle. Na, macht mal Beine!«

Die trotz dem sandigen Weg rasch forttrabenden Pferde gaben eigentlich nicht Anlaß zu den heftigen Peitschenhieben, die Fritz Brookwald ihnen überzog. Ihn mußte etwas verdrossen haben, und er gab zu erkennen, daß seine spaßlustige Laune dadurch jäh ins Gegenteil umschlagen könne, wie's das Bein Nathan Aronsohns vor Jahren zu bleibendem Gedächtnis erfahren. Christian Hollesen war, dem Wagen nachblickend, noch vorm Pfarrhause stehengeblieben; des Wegs vorbeikommend, trat jetzt grüßend Henning Wittkop an ihn heran. »Das waren wohl die Helgerslunder, Herr Pastor?«

»Ja.« Der Angesprochene erwiderte es kurz, sichtlich mit einem Nachdenken beschäftigt. Dann hob er den Kopf.

»Macht die Luft heut trocken, Henning?«

»Na, so'n bißchen was davon ist ja bei Sonnenschein immer drin.«

»Da könnt' ein bißchen Feuchtigkeit ja nicht schaden. Ihr habt's hier näher als im ›Krug‹, Herr von Brookwald hat einen Rest in der Flasche gelassen.«

Eine Einladung war's, die nicht in Zweifel ließ, daß Hollesen die Gesellschaft des Strandvogts augenblicklich erwünscht falle. Dieser machte halb komisch etwas wie an einem Glas kostende Lippenbewegung und fragte dann:

»Ist die Flasche gut, Herr Pastor?«

Doch offenbar kam ihm das Unangemessene der, als spreche er mit dem Krugwirt, herausgeflogenen Frage zum Bewußtsein, denn er fügte gleich drein: »Wenn die vornehme Herrschaft draus getrunken, ist sie freilich für mich eher zu gut. Aber wenn Sie mich dazu einladen –«

Die beiden gingen in die Stube, wo Christian Hollesen ein Glas vollschenkte, das Henning Wittkop zum Mund führte. Doch nippte er vorerst nur dran, setzte es ab und sagte:

»Ja, das ist gut, bloß was kräftig, zu viel darf einer nicht davon trinken, wenn er seine Zunge noch gut festhalten will; das hat der Herr Baron ja auch nicht getan, Auf'm Schiff kriegt man so was nicht; was es da gibt, is freilich noch was deftiger, daß einer sich davor noch besser in acht haben muß, wenn nicht alles klare Sicht auf der See ist. Vorkommen tut's ja freilich wohl mal, aber dafür hatten wir an Bord ein altes Sprichwort, das einem dann wieder Trost machte: »En ehrlichen Kerl süppt sick wol mal dun, en Schalk awer höd't sick davor.«

Der Pastor nickte: »Ja, an Bord – setzt Euch doch, Henning. Ihr habt mir öfter erzählt, wie's an Bord und unterm Deck auf dem Schiff ausgesehn, das Ihr damals ohne Mannschaft auf der Nordsee traft. Aber einiges davon ist mir doch aus dem Gedächtnis geraten, und Ihr habt's wohl auch nicht mehr so deutlich vor Augen. Doch vielleicht kommt's Euch in Erinnerung, wenn ich danach frage. Ihr kamt also von Eurer ›Providentia‹ auf die ›Thetis‹ hinüber und die Treppe hinunter in die kleine Koje, wo die tote Frau auf dem Bett lag, mit dem Kinde neben sich. Dachtet Ihr Euch – oder brachte irgend etwas um sie her Euch darauf, zu denken – sie sei vielleicht keine verheiratete Frau gewesen?. Ich hörte Euch gern noch einmal alles recht genau beschreiben, was Ihr im Gedächtnis behalten habt.«

Sonntag war's, zur Kirche war Zea Hollesen heut nicht barfüßig gegangen, und so ging sie auch jetzt in Schuhen an den Strand hinunter. Sie suchte nach Tilmar Hellbeck, sah ihn indes nirgendwo; so wanderte sie nordwärts einem Dünenvorsprung zu, ob er an einer kleinen Einbucht hinter diesem warte. Auch dort war er nicht, doch sie begab sich nicht zurück, sondern blieb stehen. Summend liefen die Wellen ihr zu den Füßen hin, sonnenglimmernd, in beweglichem Spiel, immer gleichkommend und umkehrend. Sie blickte darauf nieder, dann in die Seeweite und vergaß darüber ihre Absicht, bis nach einer Weile hinter ihr die Frage klang: »Glaubtest du mich hier?« Den Kopf drehend, sah sie den jungen Lehrer einen Augenblick etwas abwesend an, eh' sie antwortete:

»Ja, weil du drüben nicht warst. Ich habe dich nicht kommen gehört, das Wasser fingt heut so. Konntest du mich hier sehen?«

»Nein, aber ich sah deine Fußspur im feuchten Sand.«

»Die hätten dich leicht täuschen können, es sind viele.«

»Ich kenne sie draus hervor.«

»Ja so.« Das Mädchen blickte vor sich nieder. »Weil ich Schuhe heut trage. Hast du ein Boot?«

»Ich fand's nicht gleich, aber jetzt hab' ich eins. Du fährst also mit?«

»Ja, mir ist die Welt noch nie so schön vorgekommen wie heute.«

»Mir ist's auch so. Der Frühling tut's wohl.«

Sie gingen an den Platz zurück, wo das Fischerboot lag und stiegen hinein. Zea nahm eines der Ruder, er wollte ihr's wehren und sagte: »Nein, laß mich allein, es strengt dich an.« Doch sie versetzte: »Tu' ich's nicht immer? Warum sollt's mich heut anstrengen? Glaubst du, meine Arme werden schwächer?«

Sie schlug das Ruder ein, unter dem Kleid bog sich ihre kräftige Brust vor, im Rhythmus mit der Armbewegung tief einatmend. Ein kleines Fahrzeug mit nur einer Bank war's, sie mußten nebeneinander sitzen; Tilmar rückte, so weit er konnte, nach seiner Seite, um mit dem Arm nicht den des Mädchens zu behindern, das dagegen ab und zu an seine Schulter traf. Dann sagte sie lachend: »Ich bin ungeschickter als du und muß noch wieder bei dir in die Schule gehen.« Sie wiederholte es mehrfach mit etwas anderen Worten; das Zusammenstoßen der Schultern hatte Spaßhaftes für sie, fast schien's, sie führe es manchmal absichtlich herbei.

Das leichte Boot flog rasch und die Entfernung nach Herdsand war nicht groß; in einem halben Stündchen erreichten sie das kleine Eiland. Doch die Flut befand sich nicht mehr auf der Höhe, hatte schon so weit abgenommen, daß sie nicht am trockenen Ufer landen konnten; der Kiel stieß vorher auf den Schlickboden, und Wasser, wenn auch seicht, umgab das Fahrzeug, Zea sah darauf und sagte:

»Die dummen Schuhe! Wozu hab' ich sie angezogen, nun kann ich sie wieder ausziehen.«

Sie bückte sich, dies zu tun, ließ jedoch davon ab. »Nein, besser ist's, du trägst mich hinüber, da geht's schneller, wir haben nicht viel Zeit bis Mittag. Und klüger ist's für mich auch, da hast du die Müh' und ich keine.«

Tilmar stand, sie anblickend, ohne sich zu regen. Einen Atemzug lang auch ohne zu erwidern, dann fragte er:

»Erlaubst du's mir?«

»Was?«

»Dich hinüberzutragen.«

Nun fiel sie ein: »Das war recht und gehörte mir drauf. Ich hätte sagen sollen: ›Bitte, trag' mich.‹ Aber du hast mich verwöhnt, daß ich mich vor keinem Klaps bei dir fürchte.«

Sie stieg auf die Ruderbank und legte, wie er zu ihr hintrat, den Arm um seinen Nacken; so hob er sie auf, vorsichtig dann über die Bootplanke mit ihr fortschreitend. Das Wasser reichte ihm kaum zu den Knöcheln, und er brauchte nur wenige Schritte zu machen, sie niederlassen zu können. Doch er ging um das Doppelte weiter, so daß ihr vom Mund kam: »Wohin willst du denn mit mir? Wir sind ja schon lange auf dem Trocknen.«

Das ließ ihn stillstehen, und sie glitt von ihm herunter. Ihr Blick fiel auf seine Schuhe und sie sagte: »Verzeih' mir, ich war unbedacht und selbstsüchtig, nun hast du nasse Füße. Du bist zu gut gegen mich.«

Er schüttelte nur den Kopf, sie fuhr fort: »Doch! Und so schwer war ich dir auch, ich seh's dir an.«

Sein Gesicht hatte sich in der Tat beinah' weißgefärbt, wie nach einer zu großen körperlichen Anstrengung. Abermals mit einer kurzen verneinenden Kopfbewegung entgegnete er indes: »Gar nicht – du bist leicht.«

Sie wiederholte: »Doch! Ich hör's sogar, es muß dein Herz sein, was so klopft.«

Völlig lautlos war's umher, und der leise hastige Ton, der bis zu ihr hinklang, konnte von nichts anderem herrühren. Tilmar Hellbeck schien ein »Nein« antworten zu wollen, aber er schloß die Lippen wieder. Und für einen Augenblick, wie in einem Schwindelgefühl, auch die Lider, dann fragte er:

»Klopft dein Herz nicht?«

»Wie käm's dazu, ich habe ja nichts Schweres getragen. Nun kommt das Blut dir ins Gesicht zurück; wir wollen langsam gehen, das tut am besten. Ich kenne es bei mir auch, wenn ich zu stark gelaufen bin.«

Still und leer lag die kleine Insel vor ihnen, auf der noch kein Vieh weidete, man sah kaum, daß der Boden später ausreichenden Graswuchs dafür aufschießen lassen werde. Nur da und dort schimmerten aus der Einfarbigkeit kleine gelbe, blaue und rötliche Blüten, kurzgestielt, und eine Lerche trillerte drüber. Doch das Auge nahm nichts von ihr gewahr, sie stand zu hoch, oder das Blau um sie leuchtete zu hell.

Die beiden gingen über das Eiland hin, der junge Lehrer bückte sich ab und zu, um zu pflücken, dabei sprach er botanische Namen, meistens lateinische. Zea hörte zu, doch sagte einmal: »Mir ist's heute, als wär' es eigentlich gleichgültig, wie sie heißen, und komme nur darauf an, daß man sich daran freut. Die Namen hat ihnen jemand gegeben, sie selbst, glaub' ich, wissen's gar nicht, und wollte man sie anders nennen, blieben sie doch ebenso.«

»Ja, wie du auch,«

»Ich? Was meinst du?«

»Du wirst auch so verschieden genannt, nach dem Kirchenbuch Anna, und Henning Wittkop heißt dich Witta.«

Das Mädchen stand still und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich wollt's dir schon öfter sagen, Tilmar, mir klingt's auch komisch, sonderbar meine ich, wie Unna Brookwald aus deinem Mund, Warum nennst du mich nicht Zea? Anna sagt doch niemand sonst zu mir. Gefällt dir das besser?«

»Nein – ja – daß es niemand sonst sagt. Aber Zea klingt hübscher.«

»Daraus werd' ich nicht klug,«

»Anna heißen viele, aber Zea bist du, beides zusammen – Ozeana.«

»So wollte mein Vater mich nennen.«

»Ich tät's auch am liebsten.«

»Nein, das ist zu lang, und man kann's nicht rufen. Aber sag' künftig Zea, Anna klingt mir immer fremd.«

»Ich habe dich immer so genannt.«

»Aus deinem Mund auch nicht, aber ich höre auch von dir lieber Zea. Komm, laß uns auf die Düne.«

Nah vor ihnen schloß nach Westen die Insel ein niedriger Dünenwall, als ihr Beschirmer gegen die Flut, ab. Auf dem Sandlücken wuchs nichts als der grasgrün flimmernde Halm, fast stets vom Wind leis' bewegt, heut standen die schmalen Blätter in seltener Ausnahme regungslos aufrecht. Zea stieg voran und setzte sich auf den warmen, weich unter ihr fließenden Körnerboden; sie sagte: »Ich wußte, es müsse heute so schön hier sein, wie noch nie, darum wollte ich gern mit dir. Fühlst du's nicht auch so? Wir tun's gewöhnlich beide gleich.«

»Ja, schöner als je noch – so fühl' ich's auch.« Er ließ sich neben ihr auf den Sand nieder; unter ihnen dehnte sich die offene See uferlos an den Horizont. Nur ein weißer Schein kam und ging auf und über ihr, näher oder weiter manchmal eine kleine Schaumwelle und in der Luft eine schneehelle Möwenbrust. Über die endlose Fläche hinschauend, sprach das Mädchen:

»Wie sanft sie daliegt, kaum zu denken scheint's, daß die Sturmflut in ihr schläft, und ich glaube, wie die Blumen ihre Namen nicht kennen, so weiß sie es selbst auch nicht. Eigentlich bin ich ihr Kind, du sagtest es vorhin mit dem Namen, den du mir gabst, aber sie ist eine Mutter, die sich nicht um ihr Kind bekümmert. Nu hast eine wirkliche Mutter, hast du sie sehr lieb?«

Ein ganz leiser schwermütiger Hauch schwebte über den Worten, wie die leicht zitternde Sonnenluft über dem Wasser; hin und wieder einmal, von jeher, konnte es so aus der Stimme Zea Hollesens aufklingen. Der junge Lehrer antwortete:

»Ja, sehr.«

»Ist sie dir das Liebste auf der Welt?«

»Nein.« Ihm entflog's; halb erschreckt fügte er rasch nach: »Sie hat so viel für mich getan und entbehrt, wie's eines Menschen Liebe auf der Erde kann. Undankbar und unrecht ist's von mir, wie ein Stich tut's mir im Herzen weh. Aber ich habe mir mein Herz nicht gegeben –«

Seine Zuhörerin nickte: »Nein, das hat man und weiß nicht woher. Ich fühl' es mit dir.«

Er versetzte hastig: »Du hast ja beides, Mutter und Vater –«

»Ja, sie sind so gut, ich habe sie sehr lieb.«

Einen Augenblick, langsam Atem schöpfend, schwieg Tilmar Hellbeck, dann brachte er mit beklommener Stimme die Frage hervor:

»Hast du denn etwas noch lieber als sie?«

Lea schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber ich möcht's, mir ist, als könnt' es sein. Mich müßte jemand noch lieber haben, dann glaub' ich, wüßt' ich's auch. Mir tut's weh, wie dir, und doch wär's so schön, schön wie die Sonne. Zuweilen ist's mir – heute nacht wachte ich auf, da war's mir so – meine Mutter hätte mich so lieb gehabt, meine wirkliche – da –«

Sie hob die Hand und deutete über die See hinaus, es schien, die leis' dünenden Wellen trügen ihr das sehnsüchtig schwermütige Gefühl heran, Tilmar antwortete nichts und sie sprach weiter:

»Auf dem Stein ist geschrieben: ›Sie leben immer jung dem Gedenken.‹ Der, von dem der Spruch redet, liegt auch da vor uns, irgendwo, wie meine Mutter. Vielleicht sind sie nah' beieinander, aber sie wissen's nicht. Das dachte ich öfter als Kind schon, darum behielt ich die Inschrift; mir war's, als gelte sie meiner Mutter. Nur lebt sie mir nicht, wenn ich an sie denke, denn ich kann sie mir nicht vorstellen; der Onkel Henning allein kann's, sonst hat sie niemand mit den Augen gesehen. Doch er spricht mir nicht von ihr, und zu Hause tun sie's auch nicht; ich glaube, sie halten's besser für mich. Aber das ist's nicht, sie sehen mir nicht in die Brust hinein; auf die kommt's mir manchmal wie die Wellen, so weich, und so schwer wie sie, daß ich nicht Atem mehr habe. Nur in deinem Buch von Simmerlund steht's; als du mir zuerst davon gesprochen, zog's mich zu dir, wie zu keinem anderen. Nachher las ich's selbst bei dir, aber Geschriebenes auf dem Blatt ist nicht eine Sprache von den Lippen, die Augen hören nicht. Im Ohr klingt's so traurig-schön, wenn du es sagst, denn ich höre draus, du fühlst es mit, wie ich, das tut sonst keiner. Mir war's lieb, daß du noch einmal wieder sprächest, wie es dir aus dem Buch im Gedächtnis ist – heute – hier – da wird's mir sein, als sagten's die Wellen selbst.«

Der nämliche Wunsch war's, den drüben im Pfarrhaus Christian Hollesen gegen Henning Wittkop geäußert, und wie dieser dort, so kam auch Tilmar Hellbeck ihm nach. Fast ebenso genau vermochte er's, denn jedes Wort der Niederschrift Jasper Simmerlunds stand ihm ins Gedächtnis eingeprägt, und Leas Empfindung hatte unfraglich recht, aus seiner Stimme klang innerste Teilnahme hervor. Sie saß, den Kopf auf die schmale Hand stützend, so blickte sie unbeweglich auf die See hinaus und hörte zu, nur selten atmend. Geraume Zeit verging, ehe der junge Lehrer zum Ende kam; als er dann innehielt, sah sie ihn groß mit den blauleuchtenden Augen an und sagte: »Ich danke dir – wenn du nicht wärst, müßt' ich's allein tragen. Aber du hilfst mir und verstehst, was ich –«

Sie saßen so nah nebeneinander, daß sie ihre Hand ausstrecken und auf die seinige legen konnte. Ihr Mund war, das Begonnene unvollendet lassend, verstummt. Nach einem kurzen Schweigen fragte sie:

»Glaubst du, daß die Toten noch sprechen können?«

Er brachte stockend mühsam hervor: »Ich weiß nicht – was meinst du?«

»Ob sie noch einmal zu mir sprechen wird.«

Es ließ nicht Zweifel, wer damit gemeint sei. Tilmar verneinte mit einer Kopfregung. »Zu lange ist's – achtzehn Jahre fast – da kommt nicht Kunde mehr aus der Tiefe.«

Er brach ab, seine letzten Worte weckten eine Vorstellung, die er schnell wieder auszulöschen trachtete, und er fügte rasch nach: »Nu allein bist gekommen und sie sagen's, woher.«

Sein Blick hatte sich, in den ihrigen gerichtet, fortgehalten, doch sie verstand jetzt nicht, wovon er sprach und sagte: »Wer sagt?«

»Deine Augen, daß sie dorther aus der See gekommen, denn sie sind wie ein Stück von ihr.«

Das Mädchen nickte ernst. »Sie ist meine Mutter. Ich will zu ihr, sie soll mich in ihre Arme nehmen.«

Die Sprecherin machte eine Bewegung aufzustehen, er fiel ein: »Was – wohin willst du?«

»Bleib' du hier, ich gehe dort hinunter an den Dünenrand. Hab' keine Sorge um mich, du weißt, ich schwimme gut.«

»Du willst dich in der See baden – drüben?« Ein Schreck ging durch Tilmar Hellbecks Augen, er stieß hastig hinterdrein: »Nein, das sollst du nicht – das Wasser ist noch zu kalt. Ich darf's nicht leiden – dein Vater würde dir's verbieten, und ich muß es für ihn tun!«

Seine Hand hatte sich um ihren Arm gelegt und hielt ihn. Es war mit einem plötzlichen Antrieb über sie gekommen, nun besann sie sich und versetzte: »Du hast recht, es ist noch zu früh. Mir kam's nur und war's, als würde ich sie in den Armen halten. Ja, es wäre kalt gewesen –«

Mit einem fröstelnden Schauer überlief sie's, ihre Hand griff wieder nach der ihres Gefährten, und sie wiederholte: »Du hast recht, in der Sonne ist's besser und bei dir, deine Hand ist warm. Der Himmel hat es gut für mich bedacht, als er dich zu mir hierher brachte,«

Sie stutzte beim letzten Wort, sichtlich kam ihr etwas Beunruhigendes, und rasch sprach sie's aus: »Aber er kann dich auch wieder von mir nehmen, gestern sagte es jemand, man wolle dich anderswohin und dort hättest du's besser, könntest mehr für deine Mutter sorgen. Willst du fort von hier? Nein, geh' nicht – bleib' bei mir!«

»Nein,« antwortete er verhaltenen Tons, die eine Hand auf die Brust drückend, als dränge sie dort etwas zurück: »Nein, ich gehe nicht fort, Zea – ich kann es nirgendwo besser haben, als hier.«

Zum erstenmal war's, daß er sie so genannt, doch hatte seine Zusicherung ihre aufgewachte Furcht noch nicht völlig beschwichtigt. Sie fiel ein: »Aber deine Mutter kann's, die du so lieb hast.«

»Ich sagte dir vorhin, sie ist mir nicht das Liebste auf der Welt. Sie war's, aber ist's nicht mehr.«

»Was ist dir denn noch lieber?«

»Mit dir hier zu sein – wie heut – und zu denken, es bliebe immer so, mein Leben lang.«

Tilmar Hellbeck hielt kurz an, wie Kraft und Mut sammelnd, dann sprach er weiter. Nicht ungestüm, in der äußeren Art kaum anders als sonst, nur leise Schwingungen eines sehnsüchtigen Verlangens bebten in seiner Stimme. So sagte er:

»Ich gehe nicht fort, weil du hier bist, Zea, denn ich kann nicht von dir. Mir wäre alles nichts, wo du nicht bist; nur wo du bist, ist die Sonne und das Glück. Für mich brachte der Himmel dich hierher; könnt' ich immer mit dir sein, wäre mein Haus ein Palast, und die Schulstube wäre wie ein Königssaal. Aber das kann nicht geschehen, und das höchste Glück meines Lebens kann ich nur draußen finden, am Strand und auf der Heide, dort mit dir zu gehen.«

Das Mädchen hatte ihm, vor sich hinblickend, zugehört und nickte nun, aufstehend. »Ich wußte, daß du mich lieb hast, aber nicht, daß ich dir das Liebste auf der Welt bin, das macht mich froh. Mir wär's auch am schönsten, immer mit dir zu sein; warum sagst du, das kann nicht geschehen? Deine Mutter wird alt und braucht bald eine junge Hilfe; hast du noch nicht daran gedacht, dich zu verheiraten? Wenn du mich zu deiner Frau nähmest, wohnte ich mit dir im Schulhause.«

Ein Ruck durchfuhr Tilmar Hellbeck, er saß wie von einem unsichtbaren Blitzschlag gelähmt, weißentfärbten Gesichts, wie zuvor, als er Zea an den Strand getragen. Zitternd und stotternd brachte er vom Mund:

»Du – ? Du wolltest meine Frau sein?«

Sie erwiderte, ein Helles Lachen bekämpfend: »Unna hat recht, du bist manchmal komisch. Du hast mich lieb und ich dich, das ist doch die Hauptsache, wenn man gut zusammen leben soll. Oder bin ich dir als deine Frau nicht klug genug? Dann gehe ich weiter bei dir in die Schule und du machst mich dazu. Sieh, da kommt die Lerche auf den Boden herunter und setzt sich, ihr Nest muß drüben in dem Heidekraut sein.«

Der junge Lehrer war noch unfähig zu sprechen, stumm folgten nur seine Augen der deutenden Hand Zeas. Dann wiederholte er traumhaften Tones: »Ja, sie kommt vom Himmel herunter –«

Die schwermütige Anwandlung war von Zea abgesunken, fröhlich fiel sie ein: »Dann haben wir auch ein Nest, wie sie, und werden auch Kinder bekommen und deine Mutter wird sich freuen. Und von meiner lesen wir zusammen in dem Buch, immer wird's so schön sein wie heute. Wie gut war's, daß ich mit dir fuhr? Aber dir scheint's – ist's dir doch nicht ganz recht und willst du lieber eine andere Frau?«

Jetzt hatte er so weit Herrschaft über sich gewonnen, daß er zu sagen vermochte:

»Du willst mir deine Hand geben?«

Wer darin liegende Sinn war ihr fremd, sie verstand's anders und entgegnete: »Ja, ich gebe dir die Hand darauf, daß ich zu dir ins Haus komme, wenn du's sagst. Du kannst dich ja noch besinnen, ob du's gern tust.«

Er hielt ihre Hand, aus seinen Augen kam ein Glanz, wie ein jauchzender Klang, doch einst und schüchtern, fast scheu: »Mich besinnen?« sprach er wieder nach – »wenn ich's dir sage?«

Einem Schatten gleich lief ein ängstlicher Zug über sein Gesicht, er setzte schnell hinzu: »Wir wollen es keinem sagen – du auch nicht – laß uns allein davon wissen. Nun ist mein Haus ein Palast geworden und meine Stube ein Königssaal – aber andere sehen's nicht und würden's nicht gut genug für dich halten. Ich muß bessern daran, es so zu machen, das will ich bei Tag und Nacht, nichts anderes denken. Doch vorher darf's niemand merken – und ich will nicht so oft mehr mit dir auf die Heide gehen –«

»Nein, dann würd's ja weniger schön, als bisher.« Das Mädchen dachte einen Augenblick nach. »Aber du hast recht, mein Vater könnte meinen, du wärest nicht reich genug, eine Frau zu haben. Noch ich kann leicht durch mein Fenster hinaus – so geht's gut – da komme ich manchmal bei Nacht zu dir, wenn der Mond scheint. Der ist nicht einmal nötig, ich finde auch im Dunkeln den Weg.«

Ein jähes Erschrecken, wie schon vorher, gab sich in den Zügen Tilmar Hellbecks kund, und wie damals stieß er aus: »Nein, das darfst du nicht, nie, gelob' es mir auch mit deiner Hand! Du mußt bei Nacht schlafen, das ist notwendig für dich. Und krank könntest du dich machen, aus der Wärme des Betts in den kalten Wind, der von der See kommt.«

»Du denkst gleich an alles und bist viel vernünftiger als ich, aber du bist ja auch älter und weißt mehr. Wenn ich so alt werde und immer mit dir zusammen war, da bin ich's gewiß auch. Sei nicht bange drum, ich will mir recht Mühe geben, daß ich eine vernünftige Frau werde. Hör', da schlägt's vom Turm, der Wind steht her. Das ist Mittag, wir müssen hinüber.«

Glockenhall kam luftgetragen verzitternd vom Dorf; der junge Lehrer sagte betroffen: »Schon Mittag? Wie schnell ist die Zeit vergangen – tut's dir auch leid?«

»Ja, aber wir dürfen uns nicht mehr verspäten, sonst warten sie drüben.«

So eilten die beiden über die Insel zurück, halb laufend, Hand in Hand, Das war nichts Besonderes des Tags, hatten sie schon öfter getan; manchmal, wenn er sie an der Hand gefaßt, ihr über etwas fortzuhelfen, gingen sie eine Zeitlang so weiter. Die Ebbe war beträchtlich stärker geworden; als sie wieder an ihr Fahrzeug gelangten, lag es völlig auf dem Trockenen, und sie schoben es miteinander an den Wasserrand vor. Auch das war ihnen gewohntes Tun, nicht viel Anstrengung erfordernd, doch kam's Zea heut nicht so leicht als sonst vor, daß sie fragte: »Wem gehört das Boot? Das ist nicht Brede Rinnings.«

»Nein, der fuhr grad' ab mit seinem, drum bekam ich nicht gleich eins. Paul Dibberns ist's.«

Das Boot war's, dem Pastor Hollesen am Tage vorher während eines Gesprächs mit dem Lehrer nachgesehen und dazu geäußert: »Kleine Böte müssen am Strande bleiben.« Demgemäß erheischte es, wenn auch um etwas schwerer, doch keinen zu großen Kraftaufwand; wie sie's, zum Wasser hingebracht, sagte das junge Mädchen: »Wart' noch, ich will erst hineinsteigen.« Aber Tilmar wehrte ihr: »Nein, dann kommen wir nicht los, ich trage dich wieder.« Sie lachte: »Da bist du wieder vernünftiger als ich,« und er bückte sich rasch, hob sie auf die Arme und ließ sie im Boot nieder. Ihn ansehend, sagte sie: »Diesmal bist du nicht blaß davon geworden, sondern rot, es war nicht so weit, da ging's leichter.« Nun ruderten sie und gelangten schnell zurück; vom Turm schlug's erst halb eins, als sie anlandeten. Der gemeinsame Weg führte sie vom Strand zum Schulhaus, Zea blieb davor stehen, betrachtete es und äußerte:

»Ich freue mich darauf, alles drinnen und außen recht hübsch zu machen. Hier, wohin der Westwind nicht kommt, will ich ein Gärtchen anpflanzen, wir müssen viel miteinander dafür zusammensuchen. Was wächst dort auf unserm Dach? Das habe ich noch nicht gesehen?«

Zea wies zum Strohdach auf, aus dessen dunklem Moosüberzug sich eine kleine rötliche Pflanze mit hellgrünen schuppenartigen Blättern höher heraushob. Der junge Lehrer blickte ebenfalls hin und erwiderte:

»Das ist – ich sah's auch zum erstenmal – der Wind muß den Samen hergetragen haben, in Loagger, glaub' ich, ist's, sonst nirgends – es kann nichts andres sein als die Hauswurz. Auch Donnerkraut heißt's, weil es vor dem Blitzschlag schützt; überhaupt, wo es wachst, bringt's nach dem Glauben alles Gute, Glück und Zufriedenheit. Wie schön, daß es zu uns gekommen und wir es grade heut entdecken! Dein Abbild, du selbst bist's, wirst das alles mitbringen.«

Freudenvoll sprach er's, Zea fragte: »Wie nanntest du's? Hauswurz?«

Er dachte nach. »Ja – warte, ich hab's gleich – auf lateinisch:› Sempervivum tectorum‹.«

»Was heißt das auf deutsch?«

»Immer – semper ist immer – Immergrün, weil es auch im Winter aushält.«

»Und – was sagtest du noch? – tectorum?«

»Das gehört dazu, bedeutet nichts weiter – ist der Artname, vielleicht von einem, der so geheißen.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Mir kommt's vor, als müßt's etwas anderes bedeuten, aber ich versteh's ja nicht. Nun muß ich geh«, leb' wohl, Tilmar. Also wenn du's sagst, dann komme ich.«

Sie reichte ihm die Hand, nicht anders als an jedem Tag, während er die seinige um ihre zusammenschloß und sie festhielt. Doch Zea wiederholte:

»Ich muß nach Haus, es ist jetzt hohe Zeit.«

So ließ er sie los und blickte ihr nach, wie sie dem Pfarrhause zuging und hinter der Umbiegung des Kirchhofwalles verschwand. Ihm im Rücken trat Margret Hellbeck aus der Tür und sagte:

»Das Mittagessen ist fertig, Til; ich sah schon einmal nach dir aus. Warst du mit dem Kinde fort?«

Er fuhr leicht zusammen und antwortete, noch angewandt bleibend:

»Ja, liebe Mutter, wir haben auf Herdsand Blumen gesucht. Seh' die Suppe nur auf den Tisch, ich komme gleich.«

Die Alte ging zurück; er glaubte, Zea müsse an einer Stelle noch einmal sichtbar mit dem Kopf wieder über dem Wall auftauchen. Doch er wartete umsonst, ihr Goldhaar kam nicht mehr zum Vorschein, und vor sich hinsprechend: » Sempervivum tectorum – was kann es heißen?« trat er ins Haus.


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