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II.

Das Dorf Loagger lag auf einer alten Dünenschwellung, die, sich mäßig abflachend, bis zur See hinunterging, Hier bedurfte es deshalb, eine ziemliche Strecke weit, keiner Schutzdämme gegen die Flut, dann indes zeigten im Norden wie im Süden wagrecht abgeschnittene, gleichmäßig ins Endlose sich verlängernde Deiche die das Ufer begrenzende Marschniederung an. Auf dieser weideten Rinder und der fruchtbare Boden trug seinen Eigentümern Wohlstand ein. Doch Loagger nahm nicht teil daran; über der Sandunterlage seines Umkreises hatte sich nur da und dort eine dünne Ackerkrume gebildet, die mageren Ertrag an Hafer, hauptsächlich aber an Buchweizen gab. Die Mehrzahl der Bewohner lebte nicht vom Feldbau, sondern vom Fischfang; von alters griffen die heranwachsenden jungen Burschen zumeist zum Schiffergewerbe, gingen als Deckjungen in die Weite, als Matrosen um die Erde, in der Hoffnung, einmal mit Zurückgelegtem in der Tasche an ihren Kindheitsstrand heimzukommen. Aber selten erfüllte sich's einem; diesem versagte es eigene Schuld, in Kneipen und bei gefälligen Schönen fremder Küsten lief ihnen der schwerverdiente Lohn leichtflüssig aus den Fingern; Wollen und Vollbringen des jungen Blutes gingen nicht Hand in Hand. Andere zog die weißarmige Ran, die immer nach jungen Männern Begierige, in ihre Arme, überall auf sie lauernd, in der Glut zwischen den Wendekreisen, wie im Eismeer, im fernen Ozean, wie dicht am. heimischen Strand. Manchmal kam nach kürzerer oder erst nach langer Zeit eine Botschaft davon, manchmal auch blieb jede Kunde aus. Vater und Mutter, Geschwister und Braut warteten umsonst, bis eines Sonntags der Pastor auf der Kanzel den Namen des Verschollenen in die Fürbitte für die nicht mehr Wiederkehrenden einflocht. Man sah den aus der Kirche Rückschreitenden an, daß der Prediger ausgesprochen, was sie selbst schon lange schweigsam gedacht. Hartes hatte er verkündigt, doch zugleich eine Last von ihnen genommen. Mit einer Träne im Augenwinkel gingen sie an ihr Tagesgeschäft, die gleichfalls harte Arbeit des Lebens fortsetzend.

Ein ärmliches und einsames Stückchen Welt war's hier mit angesiedelten Menschenleben zwischen ihren drei Eigentümern aus Urzeit, Wasser, Sand und Wind. Unveränderlich blieben sie, während die Geschlechter jenes Lebens kommend und gehend wechselten. Aber das nämliche hatten die ersten gesehen, wie das heutige, immer Tropfen, die ruhlos der Wind ans Ufer trieb, und Körner, die er rastlos am Dünenhang rollte. Und so war's ein Erdenfleck, der da und dort in einem Kopf die Vorstellung regen konnte, auch die Menschheit komme, gehe und bleibe wie Wellen und Sand. Daran mochte sich auch wohl der Gedanke knüpfen, was für jene in diesem Gleichnis der Wind sei und zu welchem Ende er sein nie endendes Spiel betreibe. Die hinterlassene Niederschrift Jasper Simmerlunds ließ aufschimmern, daß ihm hin und wieder solche Fragen gekommen und er sich Antwort drauf zu geben gesucht. Doch zugleich auch, er habe sich nicht mit ihnen abzufinden vermocht oder vielmehr sei, ehe er dazu gelangt, vor ihnen umgekehrt. Er war ein Dorfschullehrer gewesen, wohl mit stärkerem Antrieb zum Denken und weiterem Gesichtskreis, als die Mehrzahl der mit ihm auf gleicher geistiger Ausbildungsstufe Stehenden. Noch man empfand, seine Augen waren zurückgeschreckt, mit dem Blick über eine Grenze hinauszutrachten, an der er sich beschied. Und auch das ließen seine Aufzeichnungen erkennen, er hatte sich, mehr im Ungewissen Gefühl als mit deutlicher Auffassung, nicht immer in Übereinstimmung mit dem Dorfpastor Hans Christian Hollesen befunden.

Die Strohdachhäuser Loaggers lagen auf dem Dünenrücken, in ihrer Mitte und zugleich am höchsten die Kirche. Sie hob sich über ihnen auf wie ein aus starkem Felsgestein errichteter Schutzbau, dessen Mauern Beängstigten Zuflucht vor Bedrohung und Gefahr verhießen, einer Burg des Mittelalters gleich, unter deren Schirmhut sich wehrlose Landbebauer zu einer Gemeinschaft zusammengetan. Wollte man den Vergleich weiterbilden, so war Pastor Hollesen der Burgherr, um dessen Burgfried seine Hörigen hausten.

Dem Wind und dem Sand konnte er nicht gebieten, sie besaßen älteres Bodenanrecht als er. Auch an der Westseite des Kirchhofswalles häufte der erstere unablässig Korn auf Korn, eine schräge Böschung anschwellend, um den Sand über den Oberrand des Schutzdeiches hinüberzuwälzen. Als Pastor Hollesen nach Loagger gekommen, hatte er einmal gestanden und dem Weiterschritt dieses Vorganges zugesehen. Schweigend, mit einem Ausdruck, als erkenne er sich nicht die Befugnis zu, in ein Recht der Natur, der großen Grundbesitzerin, einzugreifen. Aber dann hatte er angeordnet, die hochaufwachsende Körnermasse abzutragen und an den Strand zurückzukarren. Im Weitervordringen hätte der Flugsand die kargblühenden Pflänzchen auf den Grabhügeln überschüttet und erstickt; die Natur bekämpfte sich selbst, ließ ihre Angehörigen miteinander ringen, und Christian Hollesen sprach sich doch ein Recht ihr gegenüber zu. Er beschützte das Schwächere, weil es dem Menschengefühl das Schönere war.

Der Turm über den Findlingsblöcken der Kirchenmauer trug eine alte Dachhaube, der matten Farbe grauweißen Schneeises gleich. Er ragte nicht hoch, doch bildete er den höchsten Punkt im Umkreise vieler Meilen, und wie er schon fernher sichtbar war, so ging der Blick aus seinem Glockenschalloch weithin nach allen Seiten. Von der See aus gewahrte der Schiffer ihn als ersten Verkünder der noch nicht sich über dem Wasser aufhebenden Küste, und ähnlich sah er landein über endlose, sich in grauen Dunst verlierende Flächen. Bald hinter Loagger begann die Heide, den größten Teil des Jahres hindurch wie von einem dunkelbraunen Schorf bedeckt, hell gestreift und gescheckt von weißen Sandstrecken. Sie war nicht wirklich eben, wie sie aus der Weite erschien, sondern ihrem Dünenursprung gemäß mannigfach gewellt, zu niedrigen Hügellücken ansteigend und kleinen Tälern einsinkend; hin und wieder zeigten niedriger Buschwuchs und silberrindig flimmernde Birkenstämme das Vorhandensein der Schöpferin und Ernährerin des Lebens, zwischen der Dürre angesammelter Feuchtigkeit. Dort mischten Moorgründe sich ein, zuweilen mit scharf abgekanteten, fast schwarzen Rändern auf Torfstich durch die entfernten Umwohner deutend; einzelne vermorschte Hütten aus grauem Lattenwerk, mit Heidebülten zugedeckt, boten Unterschlupf gegen jäh ausbrechende Unwetter. Frei ging der herrschende Westwind auch hier über das Land, und wie er aus der Meerfläche die Wellen aufkämmte, so strich er das Gezweig von Bäumen und Sträuchern, das er auf der Heide fand, gleich Haarsträhnen gegen Osten zurück.

Dann traf er aus festeren Widerstand eines weitgedehnten Waldgürtels, den die Natur und die Menschenhand gemeinsam hergestellt, denn aus dem Laubbaumwuchs der ersteren stachen mit dunklerer Färbung Tannen hervor. Man erkannte vom Kirchhof des Dorfes aus an der verschiedenen Höhe der Wipfel, daß der Boden unter ihnen sich stellenweise zu stärkeren Hügelwölbungen anheben müsse, von deren einer ein turmartiger Aufbau neben dem Oberrand eines langgestreckten Helmdaches über Buchenkronen wegsah; das war Schloß Helgerslund, uraltes Besitztum der Freiherren von Rhade, nach dem Tode des letzten dieses Namens in die Hand des Herrn Friedrich von Brookwald übergegangen, der die Erbtochter des Abgeschiedenen, eine Schwester des beim Wettsegeln auf der Nordsee jung verunglückten Meinolf von Rhade, geheiratet hatte. Etwa zwei Stunden weiter nach Süden, von Loagger ungefähr gleichweit wie Helgerslund entfernt, umschloß der Wald noch ein Herrenhaus, das der Freiherrn von Alfsleben, doch es lag tiefer eingesenkt, so daß nichts von ihm sichtbar ward. Überhaupt traf die Rundschau weit und breit wenig Menschenbehausungen an, ließ auch die anderthalb Meilen südlich entlegene kleine Hafenstadt nur an ihrer Kirchturmspitze ahnen, denn eine Umbiegung des Deiches verdeckte völlig die Häuser.

Ja, ein ärmliches und einsames Stückchen Welt und Menschenleben, an zwanzig Dächer in einem Halbbogen um die Dorfkirche hingestreut, zwischen ihnen sandiger Grund oder eine kurznarbige, mehr graue als grüne Grasdecke. An den Ostseiten der Häuser ab und zu, in ihrem Windschutz, der kümmerliche Versuch eines Gärtchenanbaus, doch nur am Pastorat wirklich zum Bild eines kleinen Gartens aufgediehen, von sorglicher Pflege und Ausdauer zeugend. Ein paar Spalierbäume kletterten an der Wand empor, hinter der Wandung verflochtener Lattenzäune waren einige Gesträuche in die Höhe gekommen und beschirmten wieder zwischen sie hineingeborgene Blumenbeete. Das Pfarrhaus, dem Kirchhof an seinem Südrand benachbart, war nicht von anderer Bauart als die Dorfhäuser, nur umfänglicher und augenscheinlich in seiner Anlage schon aus ferner Zeit stammend, denn es zeigten sich stellenweise einzelne kleinere von den Granitsteinen, die vermutlich bei dem Kirchenbau nicht mehr erforderlich gewesen, in seine Wände eingemauert. Das gab ihm etwas Gefestetes, sicher auf sich Ruhendes, in einem Gegensatz zu dem weiter an den Strand hinabgerückten Schulgebäude. Klein, aus wenig haltbarem Baumaterial zusammengefügt, lag dies auf dem Flugsandbette, als sei es von Wind und Wellen dorthin getragen, ein Spielzeug ihrer Laune, das sie ebenso wieder mit sich fortnehmen könnten. Doch hatten sie bis jetzt kein Gelüst danach gehegt, und Menschenhände nahmen nur wenn die Zeit gekommen, aus dem Schulhause, wie aus jedem anderen, den Inwohner fort, um ihn hinter den Kirchhofswall zutragen, in den allersichersten Schutz, den die Burg des Pastors Christian Hollesen zu verleihen imstande war.


Am Morgen nach dem Aprilabend, an dem Tilmar Hellbeck die ihm unerwartet gebotene besser besoldete Lehrerstellung ausgeschlagen, wanderte von Norden her ein Mann in mittleren Jahren Loagger zu, den Seestrand entlang. Er ging gemächlich, nach der Gewöhnung von Leuten, die mehr Lebenszeit auf dem Wasser als auf festem Grunde zugebracht, etwas mit den Hüften schlingernd; seine kleinen blaßblauen Augen richteten sich aus gutmütigen Zügen, doch unverkennbar scharfsichtig, wechselnd auf das Nahe und in die fast ruhige Meerweite hinaus. Einer der wenigen war's, die sich selbst widerstanden und Ran aus den manchmal schon zugreifenden Händen geschlüpft, mit etwas erspartem Tascheninhalt zur Heimatlichen Küste zurückzukommen, an ihr für den Tagesrest zu landen, Henning Wittkop, der Strandvogt. Er fing an, sich mit seinem Namen ein wenig in Einklang zu setzen, wenn auch noch nicht durch weiße Haarfarbe, doch mit einem anhebenden grauen Schimmer an den Schläfen; so schritt er, mit dem Umblick seines Amtes waltend, daher. Jasper Simmerlunds Mutmaßung hatte sich bestätigt, ein Gesetz schon seit manchen Jahren strengere Vorschriften hinsichtlich antreibenden Strandgutes gemacht. Ner alte unbeschränkte Aneignungsbrauch aus Vorväterzeit her hatte zwar nie wirklich als ein Recht bestanden, nun indes war ei widerrechtlich geworden, und jeder Fund mußte erst dem staatlich bestellten Aufseher zur Anzeige gebracht, ihm Übergeben werden. Diese Aufsicht führte, ungefähr bis zu einer Meile Entfernung nord- und südwärts von Loagger, Henning Wittkop, ebenso gewissenhaft sorglich seiner Amtspflicht, wie der rechtlichen Ansprüche der Finder bedacht.

Aufmerksam schaute er um, denn vor zwei Tagen war ein verspäteter heftiger Sturm über die Nordsee gefahren, daß er wohl Unfälle draußen mitgebracht haben konnte. Noch keinerlei Anzeichen ließen sich gewahren und die langen Wellen zogen so gleichmäßig und ruhig heran, als könne ihnen niemals einfallen, sich zerschlagene Schiffsplanken und darauf treibende Menschenköpfe als Fangbälle zuzuwerfen; die See war heut eine spielende Katze, die Krallen einziehend und nur weiche Sammetpfötchen ausstreckend. Über dem Wasser klafterten ein paar große scharfäugende Möwen zur Seite des Wanderers dahin und vor ihm über den Ufersand lief vielstimmig singend eine Schar kleiner Strandpfeifer manchmal in blitzschnellem Flug ein Stück fortschießend und schräg wieder zu Boden schwirrend. Sonst befand sich nichts Lebendes ringsumher.

Nur aus der Richtung des kleinen würfelförmigen Strandvogteigebäudes, von dem Wittkop hergekommen, tauchte jetzt noch eine Menschengestalt auf und bewegte sich ihm nach, dem Kirchdorf entgegen. Ein Mann, dessen Gangart ihn schon aus ziemlicher Ferne erkennen ließ, denn er knickte beim Auftreten mit dem linken Knie etwas ein und zog das Bein langsamer nach. Daran sah man, Nathan Aronsohn müsse es sein mit dem immer gleichen schäbigen Anzug und dem unveränderlichen großen groben Sack über der Schulter. Er hauste drüben in einer kleinen Spelunke der Hafenstadt, doch war er wohl ein halb Dutzend Meilen rundum in jedem Dorfe und Gehöft allbekannt, denn seinem Humpeln zum Trotz zog er weit in die Runde, Lumpen und Plunder jeder Art sammelnd, mit Mägden um Knochen und mit Schindern um Häute feilschend, nach Scheiben suchend, oft Unglaubliches aus Abfallhaufen und Grabensielen mit seinem Haken herausstochernd. Nichts Wertloses gab es für ihn, er stoppelte alles in seinem Sack zusammen, legte sich, bis dieser voll geworden, bei Nacht hinter einen Zaun, oder in den Heuwinkel einer offenen Scheune und kehrte erst mit strotzender Last zu seiner Tochter Miriam nach Haus. Wie er seinen schmutzigen Trödel für Geld an den Mann bringe, war jedem unverständlich, aber er fristete sein Leben davon, dessen Benötigung allerdings äußerst gering schien; niemand sah ihn unterwegs einen Bissen zu sich nehmen und er bettelte nie um Speise oder Trank. Ebensowenig konnte jemand ihm nachsagen, daß er sich je etwas einem anderen Gehöriges unrechtmäßig angeeignet habe; es ging ein Wort in der Gegend um: Ehrlichkeit bringt Segen, sagt der Jude Nathan.

So kam Nathan heute auf seiner Umsuche von Norden her am Seestrand entlang angehinkt, und auch sein mageres Gesicht mit dem spärlich um die Ohren zottelnden Haar ward erkennbar. Henning Wittkop wartete auf ihn und sprach ihn an:

»Ihr schleppt heut schwer, scheint's, Nathan, mir deucht, Ihr knickt stärker mit dem Bein als sonst.«

Der Lumpensammler zog die breite Schirmmütze vom Kopf. »Wunder, Herr Strandvogt, hat mir doch der gnädige Herr geschenkt ein Wetterglas im Bein, daß es mir sagt, ob's wird geben Regen. Weil der gnädige Herr Baron drüben ist gewesen bei guter Laune, hat er mir gerufen: ›Wenn du hast Hunger, Jud', friß den Knochen!‹ und hat mir geworfen einem Eichenknüppel ans Schienbein, daß es davon ist gebrochen in der Mitte durch. Haben Sie Neubegier, Herr Strandvogt, einzusehen in meinen Sack?«

Der Sprecher lud diesen von der Schulter ab und band den oben drumgeschnürten Strick auf. Wittkop antwortete: »Ich bin nicht neugierig, Nathan, was Ihr drin habt, es ist bloß, weil's so sein soll.«

»Was soll sein? Abfall, wie er ist für mich; es würden sich nicht raufen drum unterm Herrentisch die Hunde.«

Ein Sammelsurium buntester Art kam zum Vorschein: Seetangknollen, verwitterte Korkpfropfen, Bretterstücke, Muschelschalen, ein Dorschkopfskelett, tote Taschenkrebse, ein paar bläuliche Sturmmöwenflügel, alles angeschwemmter, völlig wertloser Kram, fauligen Geruch verbreitend. Der darauf Hinblickende, obwohl nicht von derwöhnten Sinnen, drehte die Nase ab und sagte: »Packt's ein und verderbt die Luft nicht. Geht Ihr auch fischen? Ich hab' gemeint, es wär' wider Brauch Eures Stamms, mit dem Salzwasser zu tun zu haben.«

Nathan Aronsohn schob die Sachen in den Sack zurück, »heißt's bei den Christen, der Jud' geht nicht zu Wasser; muß er sich doch ernähren von Wasser und Brot und nicht verachten das Brot, ob es schwimmt im Wasser, auch wenn es hat mehr Salz, als ist für den guten Geschmack.«

Nicht die Nase des Strandvogts allein hatte ihn abgehalten, den Sackinhalt weiter zu untersuchen, auch sein Gesichtssinn. Von Loagger her kam etwas am Strand auf ihn zu, und in seine Augen geriet ein Glimmern, wie wenn ein Sonnenstrahl auf blaues Wasser fällt. Auch Nathan, sich den Sack wieder auf die Schultern ladend, hielt den Blick vorgerichtet, dazu kam ihm vom Mund:

»Es wirft mancherlei aus das salzige Wasser, man sollt's nicht glauben. Es kommt als ein kleines Samenkorn und geht auf als eine große Blume aus der Fremde.«

Ein Gleichnis zutreffender Art brachte er vor, in der Tat einer schlank aufgeschossenen Blume ähnlich, schritt es heran, nur nicht von landfremder Erscheinung. Anna Witta oder Zea Hollesen war's; nach den Jahrangaben der Berichte Jasper Simmerlunds muhte sie jetzt siebzehnjährig sein. Ihre Tracht ließ sich nicht bäuerisch und auch nicht eigentlich städtisch nennen; ein Kleid aus einfachem, sandfarbigem Stoff umgab sie, über den Hüften von einem Gürtel zusammengefaßt, doch nach Zuschnitt und Farbe stand's ihr, wie von der Natur ihr mitgegeben, als lasse sie sich nicht in anderem vorstellen. Unter dem Saum sahen ihre bloßen Füße hervor, denn wie die Dorfmädchen ging sie in Sommerszeit am Strande barfüßig; Schuhe taten ihr Zwang an, und sie konnte kein beengendes Gefühl ertragen. Ihre Pflegemutter fand es nicht angemessen, daß sie es noch aus ihrer Kindheit so fortsetzte, doch Pastor Hollesen willigte drein. Einige Strandläufer trippelten vor ihr her, aber flogen, von ihr eingeholt, nicht auf, sondern wichen nur ein wenig zur Seite aus. Sie mochten das Kleid und die kleinen Füße als ihrer Uferwelt mit zugehörig ansehen, augenscheinlich hegten sie vor der zwischen ihnen Dahinschreitenden keine Furcht.

Das Mädchen streckte die Hand aus. »Guten Morgen, Onkel Henning, ich sah dich kommen.« So redete sie ihn an und duzte ihn, wie er sie; es war selbstverständlich, daß das immer so Gewesene auch so blieb. Daß sie auf der Erde hier ging, dankte und schuldete sie ihm, zweimal hatte er ihr Leben erhalten. Behutsam nahm er ihre schmalen Finger in seine derbe Matrosenhand, doch freudig aufglänzenden Gesichts. Es bedurfte nicht vieler Kunst in der Deutung des Ausdrucks von Menschenzügen, um zu erkennen, daß Henning Wittkop hier Strandvogt geworden sei, in der Nachbarschaft des Mädchens sein Leben zuzubringen.

»Guten Morgen, Witta«, erwiderte er. Niemand als er nannte sie so nach seinem Namen, auf den sie mitgetauft worden; es beglückte ihn, die besondere Anrede für sie zu haben, er empfand sie dabei als etwas ihm Angehörendes. Beide sahen aus blauen Augen, doch nur in der allgemeinen Bezeichnung stimmten diese überein. Diejenigen Wittkops waren von matter Wasserfarbe, während Jasper Simmerlund die Irissterne des Täuflings wohl zuerst mit dem ihm unbekannten kostbaren Ringstein in Vergleich gebracht hatte, den er einmal an der Hand einer vornehmen Dame gesehen. Ein Saphir mußte es gewesen sein.

»Guten Tag, Nathan«, sagte Zea Hollesen nun auch. »Ihr habt's noch schwer, bis Ihr nach Haus kommt. Wie geht's Eurer Tochter?«

Natürlich war er ihr ebenfalls lang bekannt. Er krümmte, vor dem Mädchen eine bückende Bewegung machend, den Rücken. »Es wird ihr sein eine Auszeichnung, wenn ich ihr sage, daß sich das Fräulein hat erkundigt nach ihrem Wohlbefinden. Ist es sonst nicht der Brauch, daß die Taube tut eine Frage nach der Dohle.«

Zea gab zurück: »Heißt Ihr Eure Tochter so, Nathan? Davon hat sie doch nichts, deucht mich.«

»Hat sie doch schwarzes Haar um den Kopf und nicht das Gefieder von einer Seeschwalbe, welches ist weißer noch, als das von einer Taube.«

Die Antwort des Juden enthielt einen neuen Vergleich des Mädchens, und dieses hatte etwas an sich, das auch dazu Anlaß geben konnte. Nicht sowohl durch die helle Farbe ihres Gesichtes, als durch eine eigene Art ihrer Bewegungen. Jasper Simmerlund hatte von ihr, als noch kleinem Kinde, schon geschrieben, sie gehe nicht wie einer, der auf festem Boden schreite, vielmehr als hebe sie sich drüber in die Luft. Das war ihr geblieben, und auch das Emporheben ihres Armes konnte an das Auslüften eines leichten Flügels erinnern. Ein hübsches Gleichnis mit dem anmutigen Wesen der Seeschwalbe war's, doch merklich hatte Nathan es nicht angewandt, um ihr zu schmeicheln, sondern nur um des drin Zutreffenden willen.

Zea Hollesen war mit den beiden umgekehrt, die Morgensonne zeichnete den Schattenriß des Juden mit dem Sack und dem einknickenden Bein lang als eine phantastische Ungestalt auf den Sand. Um ein Stück vor ihnen belebte sich jetzt der Dünenrücken zur See hin: es war vormittägige Unterrichtspause, und ein Dutzend von Kindern drängte sich aus der Schulhaustür, jagte an dem Strand abwärts. Hinter ihnen tauchte Tilmar Hellbeck auf, er schien gleichfalls ein Erfrischungsbedürfnis zu fühlen, sich durch einen kurzen Gang Bewegung machen zu wollen. Rasch ausschreitend wandte er sich nach Norden, der kleinen von dorther nahenden Gruppe entgegen, doch ein Ruf seines Namens hielt ihn an. Seitwärts kam Pastor Hollesen aus einer Pforte der Kirchhofumwallung herab und begrüßte freundlich den jungen Lehrer. Dann fügte er die Frage nach: »Ist's schon so spät, daß die Kinder sich tummeln können? Der Tag läuft auf Rädern, und mich dünkt, jeder sucht's noch schneller zu tun, als sein Vorgänger.«

Der Angesprochene versetzte: »Ja, es ist zehn Uhr, Herr Pastor, die Zeit der Pause.« Ins letzte Wort indes fiel ihm vom Kirchturm her ein Doppelanschlag der Glocke, ließ Hollesen den Kopf drehen und danach erwidern:

»Sie haben sich versehen, lieber Hellbeck, es schlägt erst halb. Nun, den Beinen und Lungen kommt's zu gut.«

Am Haarrand Tilmars flog eine leichte Röte auf, er wiederholte: »Versehen? – ich meinte doch –«, und nach dem Zifferblatt an der Kirche hinüberblickend, wandte er den Kopf ab.

Die Zeiger der Uhr bewährten, daß es erst halb zehn sei, doch der Pastor entgegnete:

»So meint sie's vielleicht gut mit dem jungen Volk und geht unrichtig.« Er war ein Mann in der Mitte der Fünfziger, an den Schläfen ergrauend, mit klugen und schönen Augen, ohne etwas Pastorales in Haltung und Gesicht, dessen feinausdrucksvolle Züge eher einen Gelehrten vermuten ließen. Aus seinem Wesen sprach leiblich und geistig fest auf sich Ruhendes; an Körpergröße wohl ein wenig unter Tilmar Hellbeck zurückbleibend. überbot er diesen fraglos ebenso an sicherem Wissensumfang und klassischer Bildung, wie an Lebensjahren und ihrer Erfahrung. Doch lag in seiner Sprache und Miene dem jüngeren Lehrer gegenüber nichts von Überhebung, sondern aufrichtiges Wohlwollen für einen weniger günstig vom Leben Gestellten. So fügte er seinen letzten Worten nach:

»Meine Frau hat Ihre gute Mutter heute morgen gesprochen und von ihr erfahren, daß Ihnen eine einträglichere Stelle angeboten, doch von Ihnen nicht angenommen worden ist. Es hat mich überrascht, die Jugend pflegt in solchen Fällen rasch zuzugreifen –«

Der Sprecher brach ab, auf die See hinausblickend, wo ein schmächtiges Segelfahrzeug sich nahe unter der Küste entlang hielt. »Das scheint Knut Dibbern mit seinem Kahn. Er tut richtig, nicht weit hinauszugehen, kleine Böte müssen am Strande bleiben, sagt ein guter Spruch.«

Der Pastor wandte sich dem Lehrer wieder zu. »Aber es freut mich, lieber Hellbeck, daß Sie bei uns bleiben wollen, von unserer Schule und Ihnen selbst abgesehen, auch um Zeas willen, daß sie einen Begleiter beim Pflanzensuchen auf der Heide behält. Doch Sie wollen sich auch etwas Bewegung in der Pause machen, die will ich Ihnen nicht verkürzen.«

Er nickte freundlich, während Tilmar, an seinen Hut fassend, leicht verwirrt erwiderte: »Ja, ich dachte, einige Schritte –«. Die Augen niedergeschlagen haltend, ging er, doch nicht in der eingeschlagenen Richtung weiter, sondern gegen das Schulhaus zurück. Ein abermaliger Anruf indes ließ ihn wieder halten und sich umdrehen; die am Strande dem Dorf zugewandte kleine Gruppe war nahe herangekommen, und Zea Hollesen trat, eine Pflanze in der Hand aufhebend, gegen ihn hin: »Was ist das, Tilmar? Ich hab's noch nie gefunden.«

Sie hatte, als er die Stelle in Loagger angetreten, noch ein halbes Jahr lang Rechenstunde bei ihm gehabt; darin war sie zurückgeblieben, für Zahlen fehlte es ihr an Begabung, die gleichfalls nicht die Stärke des Pastors bildeten. Doch auch ein anderer Gegenstand, dem sie sich mit lebhaftem Interesse zugewandt, lag ihm zu fremd ab, als daß er ihr, wie sonst in allem, darin Unterricht hatte erteilen können. Er war wohl ein Freund der Blumen, aber nicht pflanzenkundig, und statt bei ihm hatte sie die Belehrung, nach der sie auf diesem Gebiet Verlangen trug, bei Tilmar Hellbeck und seinem alten botanischen Handbuch zu finden vermocht. So war er in gewisser Weise bis heute ihr Lehrer gewesen; sie sammelten im Sommer oft eifrig miteinander, ihr Vater sah nicht gern, daß sie allein weit in die Heide ging, zwischen deren Büscheln hier und da sich Kreuzottern aufhielten. Ein vertrautes Kameradschaftsverhältnis war aus diesem gemeinsamen Interesse und Umherstreifen bei ihnen entstanden; als seine Rechenschülerin, die sie als ein völliges Kind noch von niedrigem Wuchs gewesen, hatte er sie mit du angeredet, wahrend sie ihn Sie genannt. Dann wuchs sie in kurzer Zeit, fast plötzlich, hoch auf, und unwillkürlich eines Tages änderte er seine Ansprache. Aber dazu lachte sie, ob sie nicht mehr dieselbe wie gestern sei und er Spott mit ihr treiben wolle. Das gab ihm die Antwort in den Mund, wenn er sie du fortnennen solle, müßte sie bei ihm das gleiche tun, und sie versetzte, das komme ihr auch natürlicher vor, denn alle Leute im Dorf heiße sie von Kindheit her so und das Sie habe ihr immer Fremdes auf der Lippe gehabt, da er doch näher mit ihr befreundet sei als die übrigen. In die Stadt kam sie nur selten, fühlte sich dort nicht auf heimatlichem Boden und wußte kaum von städtischem Verkehrsbrauch.

So ging sie jetzt auf ihn zu, fragte: »Weißt du's?« und er nahm die Pflanze ihr vorsichtig aus den Fingern, dieselbe zu betrachten. Doch dazwischen sprach sie nochmals: »Ich vergaß, daß ich dich heut noch nicht gesehen habe. Guten Morgen, Tilmar!« Und sie reichte ihm die Hand.

Die nämliche, noch knospenlose Pflanze war's, die er gestern mit heimgebracht, und er stieß schnell heraus: »Die Strandnelke ist's – Ameria maritima

Etwas Freudiges, über seine Kenntnisse Frohlockendes klang aus dem Tom, allein gleich danach färbte ein Rot ihm die Schläfen, denn der Pastor wiederholte mit anderer Betonung den Namen: »› Armeria maritima‹ – mir tut's leid, so unwissend in der Botanik zu sein, aber was einem in der Jugend nicht zuteil geworden, holt man nicht ein.«

Er kehrte sich begrüßend zu Henning Wittkop: »Strandnelke – den Namen hatte man auch Eurem Fund geben können, und er hätte ihm gut gestanden.« Sein Blick haftete dabei mit einer Mischung von Zärtlichkeit und Stolz auf der schlanken Gestalt Zeas; der Strandvogt gab Antwort:

»Wenn's sein soll, Herr Pastor, dünkt's mich noch mehr – ich weiß nicht, wie sie heißt, aber es gibt so eine, die ganz weiß aufm Wasser schwimmt und blüht. Das stimmt ja bei ihr, denn aus dem Wasser ist sie ja aufgegangen.«

Es hatte etwas Merkwürdiges, doch zugleich Begreifliches, daß Zea Hollesen mit mancherlei Dingen verglichen wurde, ihr Ursprung und ihre Art legten es jedem nahe. Schwerlich aber war's je geschehen, daß sie von einem Munde mit etwas Unschönem zusammengebracht worden Auch an den Weggenossen Wittkops richtete der Pastor einen Gruß, Zeugnis von seiner menschlichen Gleichstellung des Juden, doch ebenso von einer Neigung zu launigem Humor bei ihm bekundend, denn er fragte:

»Nun, weiser Nathan, ist's Euch geglückt, den echten Ring Eurer Vorfahren aufzufinden und in Eurem Sack heimzutragen?«

Ein Scherzwort ohne spöttischen Beigeschmack war's, ließ erkennen, es sei nicht zum erstenmal zwischen den beiden davon die Rede und der Angesprochene mit dem Bezug vertraut. Die abgezogene Mütze in der Hand haltend, erwiderte Nathan Aronsohn:

»Streuet doch hin der Wind den Sand über alles. Herr Pastor; hätt' ich auch ausgegraben unter den Körnern den echten Ring, würd' ihn doch vielleicht nicht einmal kennen mehr der, dem er hat angehört. Hat er vermutlich ihn weggeworfen, daß er würde zugedeckt mit dem Sand und nicht wieder sichtbar für Augen. Weiß ich, Sie wollen nur machen einen Spaß, Herr Pastor, daß Sie mich heißen weise, und nicht lassen fallen Verdacht auf mich, daß ich trage nach Haus Gold in meinem Sack. Könnt' es mir doch nicht zukommen mit Recht wie altes Eisen, und wer nimmt fremdes Gut, nimmt sich den Schlaf. Haben Sie doch gehabt richtigen Grund zu sagen, weiser Nathan! Denn ich bin geworden ein alter Mann und will nicht nehmen mir den Schlaf.«

Gleichmütig, ohne von einem Gekränktsein zu reden, war's erwidert, nur ein bißchen Abwehrendes klang hindurch, Christian Hollesen entgegnete: »Laßt es gut sein, Nathan; Ihr wißt, ich lese gern in Eurer Propheten Büchern, denn es sind Goldkörner der Weisheit drin, ausgesiebt aus dem Meersand des Lebens. Geht Euer Weg noch weiter, Wittkop, oder kehrt Ihr bei mir vor?« Der Strandvogt griff sich, den Kopf schüttelnd, an den Nacken. »Nein, weiter wollt' ich nicht, Herr Pastor, bloß mal so weit, ob ich Witta nicht zu Gesicht kriegte, ihr die Tageszeit zu sagen. Aber ich Hab seit gestern Tags ein bißchen was Ziehen hier hinten am Hals; ich glaub fast, ein reines Wort im ›Krug‹ tät gut dafür.«

Er verkürzte in Gegenwart des Geistlichen die landesübliche Bezeichnung des Kornschnapses, doch Christian Hollesen fiel lächelnd und in gewisser Weise das Ausgelassene ergänzend ein:

»Was findet Ihr seinem Namen gemäß am besten neben dem Hause Gottes in dem des Predigers und es wird dort noch wohltätigere Wirkung üben, als im ›Krug‹. Gewiß ist's anratsam für Euren Zustand im Nacken; da wir keinen Doktor zur Stelle haben, nehm' ich's auf mich, Euch das Mittel zu verordnen.«

Eine Einladung ins Pfarrhaus statt der Schenke, nicht die erste, war's, und Henning Wittkop antwortete durch ein leichtes Schmunzeln, daß er ihr gern Folge leiste. Der junge Lehrer hatte mit Zea über die Strandnelke fortgesprochen, eifrig, so weit sein Wissen reichte, die Familienzugehörigkeit der Pflanze erläuternd; eine ihm entfallende Äußerung schien darauf zu deuten, er müsse während des Unterrichts von seinem Lehrpult aus durchs Fenster das Vorüberkommen des Mädchens am Schulhause wahrgenommen haben. Wiederum schlagend zeigte die Turmuhr jetzt den Ablauf der vormittägigen Pause an, und Tilmar Hellbeck legte offenbar Beflissenheit an den Tag, sich nicht den Vorwurf einer Zeitversäumnis zuzuziehen. Sich rasch umwendend, ließ er einen Pfiff auf dem Finger zum Strand hinuntertönen, ein Zeichen, das seine Schüler zurückrief, und die Gruppe der im Gespräch beieinander Stehengebliebenen löste sich auf. Der Lehrer begab sich wieder in die Schulstube, Nathan Aronsohn hinkte allein am Ufer entlang weiter, während Henning Wittkop den Pastor und Zea den Dünenrücken hinan unter dem Kirchhofswall fort zum Pfarrhaus begleitete.

Bei der frühlingsmilden Luft hieß Christian Hollesen ihn sich hier auf die Bank einer kleinen Laube des Gärtchens setzen, wohin er, ins Haus tretend, nach kurzem mit einem wohlangefüllten Glase zurückkehrte. Der Gast schien ein wenig dran nippen zu wollen, tat indes statt dessen einen recht herzhaften Schluck, und der Pastor beschäftigte sich neben ihm mit dem Aufrichten eines von hereinfahrendem Windstoß niedergedrückten, grünaustreibenden Gesträuchzweiges. Doch nahm sein Gesicht dabei einen nachdenklichen Ausdruck an, seine sonst geschickten Finger hantierten nicht recht zweckgemäß. Dann drehte er einmal dem Sitzenden den Kopf zu und fragte:

»Als meine Tochter vorgestern nachmittag zu Euch ging – ich war an der Kirche und mein Blick geriet einmal in die Richtung nach Eurem Haus, aber es fing schon an zu dämmern – habt Ihr sich etwas auf der Heide bewegen sehen?«

Der Strandvogt nickte. »Ja, mir kam's so vor, aber es war schon sehr grau und grad hinterm Birkenhaar.«

Hollesen schwieg einen Augenblick. »Aus welcher Richtung däuchte Euch's, daß es käme?«

»So aus Osten her.«

»Mir war's auch so – da« – der Pastor streckte die Hand nach Helgerslund zu.

»Ja, so die Gegend mocht's sein.«

Es machte im Moment eigentümlich den Eindruck, wie wenn Christian Hollesen Henning Wittkop weniger zu dem Zweck hierher eingeladen habe, ihm durch das reine Wort Gottes den Rückenschmerz zu bessern, als um die eben laut gewordenen Fragen an ihn zu stellen, und auch der letztere schien von solcher Empfindung überkommen zu werden. Die beiden sahen sich ein paar Sekunden lang, ohne etwas weiter zu äußern, ins Gesicht. Dann sagte der Strandvogt:

»Das Wetter aus Osten zog auf, und ich dachte mir, es würde rasch dunkel, darum brachte ich Witta hier bis an die Tür zurück. Sie wollt's nicht haben, aber ich sagt's ihr so, der Wind könnt' sie mir sonst vielleicht ins Wasser blasen.«

Kaum hörbar näherte sich vom Hausflur her ein leichter Schritt bloßer Füße dem Garten, und die Stimme Zeas rief: »Bist du noch da, Onkel Henning?« Lachend fügte sie nach: »Nimm nur nicht zu viel von des Vaters Medizin!«

Der Pastor griff eilig wieder nach dem grünen Zweig und ebenso Henning Wittkop nach dem Glas. Er führte es zum Munde, tat mehr scheinbar als in Wirklichkeit einen langen Zug und erwiderte, das Glas absetzend: »Müssen die Lachmöwen überall fliegen, wo sie nichts zu fischen haben? Aber sie haben mal so ihre Manier, wie alles, was aus'm Salzwasser kommt.« Und das Mädchen mit seinen kleinen Augen nicht minder zärtlich ansehend, wie der Pastor, erkundigte er sich bei diesem, von wem der Kornschnaps gekauft sei, als habe er eben mit ihm über Wirtschaftsangelegenheiten geredet.


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