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V.

In stets gleichmäßigem Gang schritten von je die Tage und schritten die Jahre über das stille Stranddorf. Sie brachten auch hier den allgemeinen Wechsel im Jahresrundlauf und im Menschenleben mit sich, Winter und Sommer, ruhende Luft und Stürme, Werden, Vergehen und Wiedererstehen in der Natur, wie unter den vermoosten Strohdächern. Es wiederholten sich Arbeit und Ruhe, Erfolg und Mißgeschick; Gesundheit und Krankheit lösten sich ab, hier begann eine Geburt neues Dasein, dort setzte der Tod länger oder kürzer Gewesenem ein Ende. Noch das Bild, der Bestand des Ganzen, erhielt sich immer unverändert; ob der einzelne draus fortschwand, blieb die Gesamtheit die nämliche. Wer aus den letzten Schlafkammern um die Kirche her einmal aufzustehen und in die Runde zu schauen vermocht hätte, und wenn er ein Jahrhundert schon drunten verbracht, würde kein neuentstandenes Haus, nirgendwo etwas Fremdes gewahrt haben. Wohl unbekannte Gesichter, aber auch nur für den ersten Hinblick, beim näheren Sehen und Hören hätte er sie gleichfalls als aus seiner Zeit wiedergekehrte erkannt, vor allem hätte nichts Fremdes ihn aus ihrem täglichen Tun, ihrem Sprechen und Denken angerührt. So wie heute war es immer gewesen, nur, wie in der hochsommerlichen Mittagssonne die kurzen Schatten der Hausgiebel, wuchs unmerklich ein junges Geschlecht weiter, bis es die Größe seines Vorgängers erreicht hatte, allmählich an dessen Stelle trat. Am Strand auch kamen und gingen unablässig flutend und ebbend die Wellen, doch die See blieb ohne Unterschied, die sie immer gewesen.

Als ein kleines, doch treuliches Abbild dieser Stetigkeit im Wechsel lag das Pfarrhaus von Loagger da. In ihm ebenfalls glich sich der Gang der Jahre wie der Tage, und seit langem waren es sturmlos-friedliche, gute und schöne; Zea Hollesen hatte nie andere darin gekannt. Im Dorfe fanden sich wenige, vielleicht niemand, der befähigt war, den Pastor Christian Hollesen wirklich zu verstehen. Alle achteten und liebten ihn, fühlten, er sei geistig hoch über ihnen und gehöre eigentlich nicht auf dies abgeschieden ärmliche Fleckchen Erde. Die kirchliche Landesbehörde dachte ähnlich, hatte ihm mehrfach eine seinen Gaben besser angemessene, reicher dotierte Stelle geboten, obwohl er von jeher unter den Strenggläubigen mißliebig gewesen und als ein weitgehender Rationalist gegolten. Aber wie Tilmar Hellbeck in diesen Tagen, hatte er jede derartige Verbesserung abgelehnt, beschied sich seit bald dreißig Jahren mit der kleinen Pfarrei und der geringen Einnahme in Loagger. Aus anderem Beweggrund als der junge Dorflehrer, nicht allein für das Verständnis seiner Gemeinde nicht, überhaupt für nur wenig Menschen begreifbarem. Doch er stand in der Tat auf einer selten erreichten, das Leben überblickenden Höhe, es mit anderem Begehren und Trachten als die meisten abschätzend. Ruhige, innere Befriedigung während der flüchtigen irdischen Daseinstage erschien ihm als das einzig wertvolle und höchste Ziel, das er hier in seinem engen Wirkungskreis gefunden, kein äußerer Schein lockte ihn davon ab. Was das Leben einem Menschengemüt an wahren Gütern bieten konnte, besaß er; ihm blieb nur, es zu behüten. Mehr an Glück erzeugte die Erde nicht als die Liebe einer treuen mitalternden Lebensgenossin und eines jung aufblühenden Kindes, heitere Sorgenfreiheit, die immer bereite, harrende Freude am Schönen oder Gewaltigen der Natur, geistig erhebende, selbstbelehrende oder andere fördernde Tätigkeit. Er verletzte keine kirchliche Vorschrift, kleidete, was er zu seinen Hörern sprach, in sichergewählte, der Kanzel wie der Fassungskraft jener angemessene Worte. Aber er war hoch über dem ihm vertrauten Amte, die geistliche Form mit menschlichem Inhalt erfüllend. Ob etwas nach dem Irdischen sein werde, vermaß er sich selbst nicht zu bejahen, noch zu verneinen. Eine Frage enthielt's ihm, für deren Beantwortung die Mitgift des Menschen nicht ausreiche; seine Weltanschauung hatte er an der von Weimar ausgegangenen klassischen Dichtung genährt. Noch jugendlich unklar in sich selbst, war er durch den Wunsch, die unbemittelte Lage seiner Eltern zur geistlichen Berufswahl veranlaßt worden, eine Zeitlang innerer Kampf daraus für ihn erwachsen. Doch ein lange zu Ende geführter; seitdem er sein Amt angetreten, stand er in keinem Widerspruch zu diesem, trug keinen Zwiespalt in sich. Im höchsten Sinn war er ein Seelsorger seiner Gemeinde, für die Beschränktheit denkend, mit dem Unglück fühlend, tröstend und aufrichtend, doch nicht minder für das leibliche Wohl eines jeden als Berater und Helfer besorgt. Auf seiner philosophischen Höhe, wie der des Gemütes, war er doch auch ein in vielem praktisch erfahrener, umsichtiger und kluger Mann, allem offene Augen zuwendend, mit unbemerktem Blick beobachtend und prüfend.

So lebte Christian Hollesen in weiser Zufriedenheit, bedacht, das, was er seinem Verlangen entsprechend als vollendetstes mögliches Erdenglück erkannt, zu behüten, und so hatte er im Verein mit seiner Frau über dem leiblichen und geistigen Gedeihen seiner »Tochter«, des ihm von der Nordsee ins Haus gebrachten Kindes, Obhut gehalten. Jahrelang war er im stillen bemüht gewesen, irgendeine Spur aufzufinden, die zu einer Entdeckung der Herkunft des seltsamen Fundes Henning Wittkops leiten könne; doch umsonst, nichts gab den geringsten Anhalt. Innerlich ihm zur Beglückung, denn er fürchtete sich vor einem solchen, der ihn zu nötigen vermocht hätte, das ihm zugefallene »Geschenk der Vorsehung« an einen Berechtigten zurückzugeben. Dann aber, seines Eigentums sicher geworden, umfaßte er es mit ganz sich hingebender Liebe väterlichen Gefühls, so sorglich, wie seine Hände die hilflose Kleine in der Sturmnacht gefaßt hatten, sie aus der Schulstube Jaspar Simmerlunds ins Pfarrhaus hinüberzubringen. Das einzige, was ihm noch gefehlt, war ihm mit ihr gegeben; sein Herz war des Dankes voll dafür, und alles in ihm richtete sich darauf hin, ihre Kindheit von so viel Sonne erhellen und durchwärmen zu lassen, wie einem jungen Leben zuteil werden kann, jeden Schatten von ihr zu halten. Kummerloser hatte nie ein Kind sein Jugendglück genossen, eine Freiheit, nur von unsichtbaren und unfühlbaren Schranken umhegt; Zea Hollesen wußte nicht, was Sorge und Leid, nicht, was ein ungestillter Wunsch sei. Was sich der Pastor im Gange seines Lebens gewonnen, die Erkenntnis der einzig wertvollen Güter des Daseins und das Trachten nach ihnen, wollte er ihr als unbewußte Mitgift ins Gemüt legen; die höchste seiner Aufgaben war's ihm, an seinen Goldfäden lenkte er ihr Geist und Herz, Das ärmliche Stranddorf ließ nicht ahnen, welch reiche Aussaat sie empfangen, die in ihr aufgekeimt, doch sie selbst trug am wenigsten ein Bewußtsein davon in sich. Sie empfand es nicht als sorglich bereitete und weitergenährte Bildung, ihr war's ein selbstverständlicher Besitz, natürlich, so zu denken und zu fühlen. Nicht methodischen Unterricht hatte Christian Hollesen ihr erteilt, doch ihr den Trieb und Wunsch geweckt, lernen und begreifen zu wollen. Dazu brachte sie unverkennbar ein Erbteil leicht auffassender Begabung mit, etwas Angeborenes, das nur des Haltes, der richtigen Leitung bedurfte, wie eine mit dem Drang, sich zum Licht aufzuheben, ausgestattete, an der Richtschnur emporrankende Pflanze. Und sie ins Licht zu heben, daß sie sich selbst drin entfalte, sorgte des Pastors unmerkbares Bemühen; er war kein Lehrer, der sie mit einem Übermaß des Wissens belastete. Was er an üblichen Schulkenntnissen für nötig erachtete, empfing sie von ihm gleichsam im Vorübergehen, als wohl Erforderliches, doch an innerem Wert Geringes. Unterlaßlos aber regte und reifte er ihr den Sinn für die Duftblüten des Menschengemütes, für hohe über das Tägliche hebende Gedanken und die Freude am Schönen; wie er edler Dichtung die Hauptnahrung seines Wissens entnommen, nützte er sie für das Gedeihen seines Kindes. Man sah dem Dorfpfarrhaus nicht an, welches Besitztum an besten Büchern es in sich trage, und dem barfüßig, gleich den Bauernkindern, gehenden Mädchen nicht, welche Gaben es aus jenen im Kopf und Herzen empfangen. Eine Bildung anderer Art war's, fast völlig entgegengesetzter, als die allgemeine des jungen Geschlechts aus den sogenannten guten Häusern; in diesen wäre Zea Hollesen vermutlich mannigfach, als in wichtigsten Unterrichtsgegenständen und der Erziehung zu junger Damen Brauch vernachlässigt; bemitleidet worden. Doch der letztere Begriff war ihr gleicherweise fremd, wie Vorschriften des Anstandes und der Schicklichkeit; Unbewußtes bestimmte ihr Tun und Lassen, umgab sie bei allem mit der Anmut freier Regung und Entwicklung jedes Wachstums der Natur. Kein Gedanke rührte sie an, daß sie über jemandem stehe, aber ebensowenig der einer Unterordnung. Weder das Elternhaus, noch die Welt drumher hatte sie jemals einen Zwang kennen gelehrt; in schöner Freiheit lebte sie, nur selbst sich gebietend. So glich sie den weißen Vögeln, die, von der See kommend, nach eigener Flugwahl am Strand und auf der Heide über ihr kreisten.

Einen Keim gab's, den Hollesen nicht in die Seele des Mädchens hineingelegt, der von diesem mitgebracht schien, auch dorther, von wo die Möwen zum Land herüberkamen. Zea wußte, daß sie nicht die wirkliche Tochter ihrer Pflegeeltern sei, und ein Begehren, zu erfahren, wer ihre Mutter gewesen, war in ihr erwacht, als sie zu einem Verständnis dafür reif geworden. Doch schon vorher, als kleines Kind noch, hatte sie dann und wann am Strand bei einem Spiel mit Steinen und Muscheln plötzlich den Kopf gehoben und, die Hände reglos lassend, mit weitgeöffneten Augen auf die See hinausblickend gesessen. Daß sie von dieser herstamme, mochte einmal in ihrer Gegenwart gesagt worden und unverstanden in ihr haften geblieben sein; im Sonnenschein und bei Meeresstille rührte es sie nicht an, doch konnte aus einem Möwenschrei, dem Aufrauschen einer Welle oder hohlaufpfeifendem Windstoß so über sie kommen. Henning Wittkop meinte: »Das geht ja ganz natürlich zu, denn das war ja auch so'n Heulen in der Luft damals, als ich sie aus der Koje auf der ›Thetis‹ an Deck mit herausnahm, und das Wasser klatschte nicht schlecht und das Vogelzeug hatt' es wie unklug mit seinem Schnabellärm, davon weiß sie ja natürlich nichts, dafür war sie doch noch nicht klug genug; bloß liegt's ihr so als wie eine Erinnerung im Kopf, und wenn sie's wieder hört, dann ist es ihr, sie weiß nicht recht was und macht verwunderte Augen.« Von einem wirklichen Gedächtnis konnte allerdings bei ihr nicht die Rede sein, und die von Kindheit auf wind- und wellengenährte Phantasie Hennings ließ dem Pastor ein Lächeln um den Mund gehen. Das zeitweilig absondere Behaben der Kleinen erschien, ihm als das etwas plötzlich einmal wie zum erstenmal staunend anblickender Kinderart, und er bekümmerte sich nicht darum. Doch als Zea dahin gekommen, die Erzählung des Strandvogts, wie er sie gefunden und hierhergebracht, zu verstehen, und sie danach immer wieder fragte und bat und mehr von ihrer Mutter hören wollte, da bedünkte Hollesen dies als ein kindlicher Neugiertrieb, dem besser die Zufuhr entzogen werde. Er besorgte, die junge Einbildungskraft könne sich zu stetig und schädlich überwuchernd mit dem Bericht Henning Wittkops beschäftigen; so hieß er diesen, wie auch Simmerlund, dem Wunsch des Mädchens nicht mehr willfahren, und im Pfarrhause blieben weitere Fragen Zeas ebenfalls ohne Beantwortung. Der Pastor sah lieber, daß sie, anstatt sich am Strande aufzuhalten, in die Heide hinausging, und suchte sie unvermerkt daran zu gewöhnen; freilich war eines Tags einmal ein Gedanke über ihn und eine Beunruhigung in ihn geraten, die er vorher nicht gekannt, sie könne dort einer Gefahr – der, von einer Kreuzotter gebissen zu werden – ausgesetzt sein. Deshalb durfte sie sich nicht zu weit vom Dorf entfernen, besonders nicht gegen Norden, wo er ein häufigeres Vorkommen der Schlangen befürchtete; nach Süden hin verstattete er ihr freiere Bewegung. Wenn er den Tod Jasper Simmerlunds auch bedauert hatte, war ihm doch die Berufung des neuen jungen Dorflehrers nach zweifacher Richtung sehr erwünscht gefallen. Tilmar Hellbecks botanisches Interesse weckte auch ein solches in Zea, zog sie mehr vom Wasser ab auf Landwege, und sie gewann an jenem einen Begleiter und Behüter. Zum erstenmal aber auch einen Vertrauten, bei dem sie das in ihr gebliebene, nun nicht mehr laut gewordene Verlangen stillen konnte, zwar in geringem Maße, nur mit dem wenigen, von der Handschrift Simmerlunds Überlieferten. Doch mehr wußte überhaupt niemand, und der stärkste Drang in ihr hatte danach getrachtet, einen Menschen, einen Freund zu haben, mit dem sie über das sprechen könne, wovon ihr sonst alle schwiegen. Daraus war ihr Anschluß an Tilmar Hellbeck entsprungen, sie mit immer festerem Band an ihn zu knüpfen. Oftmals seit Jahren hatten sie hier und dort, wie heute, auf der Düne nebeneinander gesessen und über die See hinausblickend von dem geredet, was stumm ihre Tiefe verbarg. Der Pastor ahnte nichts davon, er glaubte, Zea denke nicht mehr an das einmal zu lebhaft in ihre Kinderphantasie Eingedrungene; kein Heimlichtun und Verhehlen der beiden ihm gegenüber war's, nur eine ungesprochene Übereinkunft, etwas allein zu behalten, wofür niemand außer ihnen gleiches Gefühl und Verständnis habe. Tilmar hätte auch kaum Anlaß gefunden, jemandem davon zu sprechen, er betrat das Pfarrhaus nur selten, lebte für sich allein mit seiner Mutter. Und dem Mädchen kam die alte Anwandlung nur draußen, dann und wann, aus dem Rauschen der Wellen herauf, folgte ihr nicht über die Schwelle des Hauses. In diesem ging nie ein Schattenanflug durch den jungen Frohsinn ihrer Augen. Nur heut' am Mittagstisch verschwieg sie zum erstenmal etwas mit Bewußtsein und Absicht, daß sie Tilmar die Hand darauf gegeben, seine Frau zu werden. Sie hatte ihm versprechen müssen, noch nichts davon zu sagen, und sie selbst empfand es auch als besser so. Sein Einkommen war gering, ihre Eltern hätten sich vermutlich deshalb Sorge gemacht. Ihr Schweigen bedrückte sie auch mit nichts; es war ja eigentlich nichts von Bedeutung, und alles blieb fast ebenso wie früher. Statt der alten Mutter sorgte sie drüben für die Hauswirtschaft, doch ließ diese ihr Zeit genug, ebensoviel wie immer hier zu sein. Auch um der Bücher willen, denn was Tilmar an solchen besaß, war mit ein paar Ausnahmen armseliger Art, ließ eigentlich kaum begreifen, daß er daraus hauptsächlich seine Kenntnisse und seine geistige Bildung gewonnen habe. Die Nächte mußte sie gleichfalls hier in ihrem Zimmer zubringen, in dem wenig geräumigen Schulhaus war keine unbenutzte Kammer vorhanden. Das nötigte sie zu frühem Aufstehen und Hinübergehen, um das Frühstück herzurichten. Zur Sommerzeit ging das auch leicht und war schön, doch im Winter mußte die Schulstube rechtzeitig geheizt werden, das mochte zuweilen eine recht kalte Besorgung sein. Es ging ihr bei dem Gedanken einen Augenblick ein bißchen fröstelnd über den Rücken.

Am Tisch war's heute stiller als sonst. Allein nicht Zea gab den Anlaß dazu, sondern ihr Vater. Er sprach nicht nach gewohnter Weise und nicht mit der sorglosen Heiterkeit der Züge; ein Nachdenken schien ihn in Anspruch zu nehmen. Ihr kam's einmal, er hege doch vielleicht eine Vermutung von dem eben auf Herdsand Geschehenen, und sie stand, trotz der Abrede, im Begriff, davon anzufangen, um ihn nicht in einer Beunruhigung zu lassen, zumal da er die Frage tat: »War Hellbeck heute vormittag mit dir?« Aber wie sie darauf »ja« geantwortet, fuhr er fort: »Das ist gut, bitte ihn immer, dich zu begleiten. Es ist mir lieber, für dich lehrreicher, als wenn du allein gehst, um Pflanzen zu suchen.« Das stand zweifellos in vollem Gegensatz zur Annahme einer Besorgnis des Pastors, so daß Zea von ihrem kurz gefaßten Vorsatz wieder abließ. Statt dessen fragte sie ihn, da es ihr gerade ins Gedächtnis geriet, ob er wisse, welche Bedeutung der lateinische Pflanzenname Sempervivum tectorum haben könne. Mit einem leichten Lächeln erwiderte Hollesen: »Hat dein Freund Tilmar dir das nicht übersetzt?« Das Mädchen entgegnete: »Ja, er meinte, es heiße Immergrün und das zweite Wort sei ein Name.« Nun kam dem Pastor wirklich ein Lachen von den Lippen: »Ganz trifft's nicht zu, mit dem Raten geht's nicht gut, wenn jemand eine Sprache nicht gelernt hat. Es heißt ›das immer auf den Dächern Lebende‹; ein Lateinschule! aus den untersten Klassen hätte dir's verdeutschen können, ohne irgend etwas von Botanik zu wissen. Die Halbbildung ist immer ein gefährliches Ding, sie läßt gern irrig an sich selbst glauben und erzeugt leicht den Drang in sich, nach Unerreichbarem zu streben; zu spät bereitet dann richtige Erkenntnis bitterliche Enttäuschung. Hellbeck ist ein vortrefflicher, über seine Lehrerstelle hier geistig hinausragender Mensch, aber von seinem wissenschaftlichen Dilettantentum sollte er lassen, dazu reichen die Mängel seiner Bildung und Kenntnisse nicht aus. Freilich, wenn es ihm Freude macht, bessere Frucht kann der Mensch von seinem Acker nicht ernten. Doch er hätte klüger getan, die ihm gebotene einträglichere Stellung anzunehmen, und ich habe ihm gestern dazu geraten, doch allerdings selbstsüchtig hinzugesetzt, es freue mich um deinetwillen, daß er bei uns bleiben wolle.« So ausführlich hatte der Pastor sich noch kaum über Tilmar Hellbeck geäußert und ein entschiedenes Wohlwollen und Zuneigung trotz den angefügten Ausstellungen aus seinen Worten gesprochen. Zea war im Gefühl ihrer Verheimlichung ein wenig errötet, hörte dann aber innerlich erfreut zu. Sie wußte, ihr Vater schätzte nichts höher, als daß jemand ein vortrefflicher Mensch sei, und was Tilmar für sie außerdem noch war, wie kein anderer sonst, konnte sie allein beurteilen. Es war zweifellos, ihre Eltern würden, vielleicht nach anfänglicher Überraschung, ganz einverstanden mit dem sein, was sie heut' vormittag auf Herdsand gesagt und getan. Vom Tisch aufstehend, ordnete sie nach täglichem Brauch noch dies und jenes; sie war eine erwachsene Tochter des Hauses und hatte schon seit einem Jahr ihrer Mutter mancherlei wirtschaftliche Besorgungen abgenommen. Nach ihrer Verrichtung begab sie sich mit einem Buch ins Gärtchen, um zu lesen, heut' zum erstenmal wieder seit dem Herbst, im Sommer war es ihr gewohntes Nachmittagstun. Doch nach einer Weile lockte der Sonnenglanz sie weiter ins Freie hinaus, stellte ihr auf der Heide einen Lieblingsplatz vor Augen, den sie den Winter hindurch nicht mehr aufgesucht; dort mußte sich's schöner weiter lesen. Die sonntägigen Schuhe fielen ihr lästig; sich ihrer rasch im Zimmer entledigend, ging sie davon, nach der Vorschrift ihres Vaters eine Zeitlang in südlicher Richtung. Kurz hatte sie geschwankt, ob sie Tilmar zum Mitgehen holen solle, aber nach seiner Äußerung auf der Insel hielt er für gut, daß er sie nicht so oft mehr begleite. Nach dem was ihr Vater heut' mittag gesagt, entsprang das freilich einer durchaus unnötigen Besorgnis, übertriebener Ängstlichkeit, allerdings in einem Zusammenhang mit der Art Tilmars; etwas Ängstliches lag überhaupt in seinem Wesen, Unsicheres, sich selbst nicht recht Vertrauendes. Es nahm eigentlich Wunder, daß er seine Schuljungen in Ordnung und Zucht zu halten vermochte; Zea konnte sich ihn nur sich unterordnend und bittend vorstellen, nicht fordernd und befehlend. Ungewiß hatte sie einige Schritte auf das Schulhaus zu gemacht, doch bog sie wieder ab. Sie trug sich ja auch mit der Absicht, auf dem Heidesitz zu lesen, das konnte sie nur allein und war außerdem am Vormittag mit Tilmar mehrere Stunden zusammen gewesen. Danach blieb ihnen für heut' nichts gemeinsam zu bereden, so ließ sie davon, ihn zum Mitgang aufzufordern.

Ein Viertelstündchen wanderte sie dem Ufer entlang, um zur Linken landein den Weg einzuschlagen, auf dem Nathan Aronsohn gestern fortgehinkt, jenem ungefähr ebenso lange folgend. Dann jedoch verließ sie ihn, pfadlos weiter zu gehen; deutlich erkennbar lag oder hob sich ihr Ziel in einiger Weite vor ihr von der Fläche auf. Zumeist ward diese nur von niedrigem Strauchwerk oder da und dort vereinzelten Kiefern unterbrochen, doch an jener Stelle stiegen mehrere benachbarte schlanke und höhere Stämme empor, mit weiß in der Sonne blinkender Rinde sich als Birke kündend und auf besser nährenden, feuchten Bodengrund deutend. Ein wenig seitwärts von ihnen streckte sich flach etwas Dunkles hin, einem Schatten gleich, doch beim Näherkommen körperhaft, einer der in der Landschaft verstreuten großen Steinblöcke; graue Flechten überzogen ihn, wie eingebettet lag er im Heidekraut, an seinen Seiten rankten sich Erdbeeren- und Kronsbeerenpflanzen mit eben sich grün entwickelnden Blättchen herauf. Das war Zeas liebster Sitz, sie fühlte sich auf ihm einer Herrin gleich, der alles um sie her gehöre und ihr Untertan sei. Die Umgebung bot nicht, wie sonst umher, Einförmiges, sondern Mannigfaltigkeit, der Fleck bildete eine kleine, auch mit Wasser begabte Oase. Vorzeiten hatte man hier Torf zu graben versucht, davon standen noch senkrecht abgestoßene braune Wände, von langhalmigen Gräsern und Farnkräutern überwachsen, die sich auch durch den Winter ihre Farbe forterhalten; darunter, einem Schwarzspiegel ähnlich, sah ein kleines dunkles Moorgewässer auf. Es lag reglos, wie's auch die Luft darüber war, und doch schienen die von ihm zurückgeworfenen Widerbilder der Birkenzweige sich zu bewegen, als Würden sie von leisem Wind hin und her gewiegt. Der Frühling war gekommen, alles Leben wachte auf, und winzige, stahlblau schillernde Wasserkäfer schossen unablässig auf der besonnten Fläche hin und her, zu klein, um wirkliche Wellchen zu erzeugen, aber sie breiteten ein zitterndes Spiel darüber.

So war's seit vielen Jahren hier immer gewesen, und so war's nun wieder. Zea setzte sich auf den Granitstein und schlug ihr Buch auf, aber sie betrachtete erst noch den grünen Schimmer, mit dem sich das Birkenlaub ankündigte. Ein freudiges hervordrängen kam aus jedem Zweig, aus allem ringsumher; vereinzelte Bienen summten, sie fanden noch nicht, was sie suchten, hatten nutzlos den weiten Weg hierher gemacht und schwirrten davon. Die junge Herrin sah ihnen nach, sagte einmal zu einer: »Weshalb kommst du schon? Ich habe dich noch nicht gerufen.« Dann bückte sie den Kopf vor und las eifrig, sichtbar mit freudiger Teilnahme; die Aprilsonne hatte noch weit bis zum Seehorizont, doch sie zeigte, schrägere Bahn nehmend, daß sie nicht anhalte, sich fortschreitend dorthin bewege.

Trotz dem augenscheinlichen Interesse der Lesenden an dem Buch hob Zea ab und zu den Blick, so daß er über das Blatt fortging. Dann traf er auf die kleine Wasserfläche und die Insekten, die wie glitzernde Weberschiffchen darüberhin von Rand zu Rand schossen, und wenn sie wieder auf die Seite zurücksah, ging das zitternde Spiel ihr vor den Wimpern noch fort, als ob die Buchstaben lebendig würden, selbst sich in hin und her schnellende Käferchen verwandelten. Gleich einem leichten Schleier wallte ihr's vor den Augen, doch auch in diesen lag's wohl; sie hatte den Tag zum größten Teil im Freien zugebracht, und die erste linde Frühlingsluft machte leicht etwas müde. Ihr Blick senkte sich einmal seitwärts nieder; mit einer kurzen Bewegung konnte sie sich neben dem Steinsitz auf weichen Boden strecken, wie eine zubereitete Lagerstätte war's. Prüfend schaute sie um, ob etwas von einer Schlange wahrnehmbar sei; daß es solche auf der Heide gäbe, ließ sich wohl nicht anzweifeln, doch die Besorgnis ihres Vaters erschien ihr übermäßig, sie war mit Ausnahme eines einzigen, ihr nur dunkel im Gedächtnis gebliebenen Falles aus früher Kindheit noch nie auf eine Otter gestoßen. Es mutete köstlich an, sich dorthin zu legen, mit dem Kopf auf eine kleine Hebung wie auf ein leicht emporgehöhtes grünes Kissen, und nun hatte sie der Lockung nachgegeben, lag da und sah zu einer schneeweiß über ihr langsam durch das Himmelsblau ziehenden Wolke auf. Das Getriller einer Heidelerche klang gleichfalls von oben herab, weckte ihr Erinnerung an die auf Herdsand und zugleich an ihr vormittägiges Zusammensein dort mit Tilmar Hellbeck. Sie hatte hier nicht mehr daran gedacht; unwillkürlich kam ihr jetzt noch anderes dabei; die Pflanze auf dem Schulhaus und der lateinische Name. Ein Schuljunge, hatte ihr Vater gesagt, hätte ihr verdeutschen können, es heiße »das immer auf dem Dach Lebende«. Oder unter dem Dach? Sie konnte sich nicht ganz besinnen, die Gedanken gingen ihr ein bißchen durcheinander. Wenn das Letzte gewesen, dann paßte es auch auf sie, war sie selbst solche Hauswurz, die künftig immer unter dem Schulhausdach lebte. Halblaut und halblachend sprach sie vor sich hinaus: » Semervivum tectorum«. Vor dem Blick gesellte sich ihr etwas dazu, wie ein vom Blau zu ihr herunterflatterndes ganz goldenes Blatt, ein Zitronenfalter war's, der dicht über sie hingaukelte. Doch nahm sie ihn nur einen Augenblick lang gewahr, er verschwand ihr sogleich wieder. Nicht weil er wirklich weiter taumelte, vielmehr kehrte er, wie neugierig, ein paarmal zurück. Aber sie sah ihn nicht mehr, denn die Lider waren ihr zugefallen. Ihr war's nicht in den Sinn gekommen, sich hinzulegen, um zu schlafen, doch dem Frühlingstag gefiel's so, seine Macht an ihr zu bewähren.

Auch wußte sie nicht, daß sie geschlafen habe, oder war nach ihrer Meinung wenigstens gleich wieder aufgewacht. Nur lag, wie sie den Kopf aufhob, das Licht anders um sie, nicht mehr strahlenblendend, sondern mit einem gedämpften rötlichen Glänze. Im Ohr klang ihr etwas nach, ein eigentümliches Geräusch, und sie hatte ein Gefühl in sich, als ob sie davon aufgeweckt worden sei; sich zum Sitzen emporrichtend, blickte sie um sich, was es gewesen sein könne. Da kam's wieder, ein schnaubender Ton, und auf ein halbes Dutzend Schritte entfernt sah sie den Urheber, den Kopf eines braunen Reitpferdes; daneben, abgestiegen, stand ein hochgewachsener junger Mann, der die Augen auf sie gerichtet hielt. Etwas von Verwunderung tat sich in ihnen kund, und er fragte jetzt:

»Willst du die Nacht hier bleiben?«

Noch nicht recht zur Besinnung gekommen, blickte sie ihn an. Ein Fremder war's, nach der Kleidung von vornehmerer Art als die Landleute der Gegend, vermutlich ein junger Herr aus der Stadt. So antwortete sie nach einem Moment ungewissen Hinblicks: »Haben Sie den Weg verloren und wollen zur Stadt? Dort liegt sie.«

Ihre Hand deutete, doch er versetzte: »Nein, das ist nicht meine Absicht, auf der Heide gefällt's mir besser,« Zu einer Umschau den Kopf drehend, fügte er nach:

»Wo sind denn deine Gänse?«

Das Mädchen wiederholte verständnislos: »Meine Gänse?«

»Oder was du sonst hütest. Sind's Schafe?«

Dafür angesehen zu werden, war ihr noch nie geschehen, und sie mußte ein Lachen bekämpfen. »Wofür halten Sie mich denn?«

Er stutzte ein klein wenig bei dem Ton der Frage, versetzte dann indes:

»Für das, was deine Füße sagen.«

Mit einer unwillkürlichen Bewegung zog sie ihre Füße unter den Kleidsaum zurück, während er, sie betrachtend, hinzusetzte: »Dein Kleid ist freilich nicht so, wie die Bauernmädchen sich's machen, ich seh's jetzt, und deine Sprache ist auch anders. Warum gehst du denn barfuß?«

Es trieb Zea, aufzustehen; sie lag oft so mit Tilmar Hellbeck zusammen und sprang hurtig in die Höhe, wenn sie weiter gehen wollten. Doch gegenwärtig zauderte sie ein bißchen, wußte ihre Absicht nicht gleich auszuführen und tat's dann in weniger geschickter Weise als sonst, fast etwas unbeholfen. Selbst fühlte sie's, und es verdroß sie, und dazu auch noch etwas anderes. Nach dem Landbrauch war sie gewöhnt, zumeist mit »Du« angeredet zu weiden, auch vom Mund eines fremden Bauernburschen war's ihr nicht ausgefallen. Doch der vor ihr Stehende war ein Städter, der an anderen Brauch gewöhnt sein mußte; ihr lag etwas Geringschätziges darin, daß er diesen bei ihr nicht innehielt, zumal sie ihn mit »Sie« ansprach. So sagte sie, aufgestanden:

»Na Sie erkennen, daß ich keine Bauerntochter bin, und wohl auch, daß ich kein Kind bin –«

Weiter kam sie nicht, einesteils wußte sie selbst nicht recht, was sie hinzusetzen wollte, zum anderen malte sich in seinen Augen ein lebhaftes Erstaunen über die Veränderung ihrer hoch vor ihm aufgewachsenen Gestalt und ließ ihn einfallen: »Wer bist du denn?«

Offenbar hatte er den Sinn ihrer letzten Äußerung nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Das zweite erschien als das Mutmaßliche, denn er fügte hübsch auflachend drein:

»Bist du die Herrin hier?«

Zea Hollesen überkam Unbekanntes, geweckt von etwas ihr zum erstenmal im Leben entgegengebotenem Unbekannten, ein Aufwallen in ihrem Innern, ein trotziges Sichauflehnen. Sie erwiderte: »Ja, ich bin die Herrin hier«, und drehte sich kurz ab, um davonzugehen. Doch hinter ihr klang seine Stimme nochmals:

»Du vergißt, dein Buch mitzunehmen.«

Sie hielt den Fuß an, obwohl ihr's unangenehm war, sich wieder zurückwenden zu müssen; lieber hätte sie das Buch liegen lassen und morgen geholt. Aber da er sie hörbar mit einem leicht spöttischen Ton auf ihre Nachlässigkeit aufmerksam gemacht hatte, entschloß sie sich zur Umkehr und trat, so viel Würde, als ihr möglich fiel, in der Haltung zusammennehmend, auf den Stein zu. Zugleich indes setzte auch er den Schritt vor und fragte, den Arm ausstreckend:

»Was liest du denn?«

Das Mädchen gab keine Antwort mehr, sondern faßte nur rasch nach dem Buch, doch im selben Augenblick tat er das gleiche und zog's ihr mit festem Zugriff aus der Hand. »Wart', ich will's erst sehen. Wenn du auch die Herrin bist, mußt du dich doch daran gewöhnen, daß ich der Herr hier bin, wenigstens hab' ich mich bis jetzt dafür gehalten.«

Nicht herrisch gesprochen war's, doch mit einem heiterjugendlichen Übermut, einem merklich daran Gewöhnten, nach seiner Lust und Laune zu handeln. Nun schlug er das Titelblatt auf und las laut: »Hermann und Dorothea.« Verwundert hob er den Kopf und fragte ungläubigen Tones:

»Verstehst du das?«

Zea stand schweigend, nur eine leichte Bewegung ihrer Kleidärmel verriet, daß die Arme darunter ein Zittern durchlief. Nach einem kurzen Anhalten setzte er hinzu:

»Wer bist du denn eigentlich?«

Sie hatte die Zähne auf die Unterlippe gedrückt, kein Wort mehr hervorzulassen, doch die Frage bot ihr willkommene Gelegenheit, ihm eine beschämende Zurechtweisung zu erteilen, und, ihren Vorsatz ändernd, entgegnete sie, ihre Erregung zu möglichstem Gleichmutsanschein beherrschend:

»Wenn Sie danach fragen, ich bin die Tochter des Pastors Hollesen in Loagger.«

Eine durchaus andere Wirkung ergab's, als sie bezweckt. Wohl drückte sich im Gesicht des Hörers eine Überraschung aus und er bemaß die Züge des Mädchens wie mit einem suchenden Blick. Dabei aber flog ihm lachend der Ausruf hervor:

»Also einer beim anderen!«

Das war völlig unverständlich, und gegen ihren Willen kam Zea die Frage vom Mund: »Was heißt das?«

Er deutete nach dem Granitblock. »Zwei Findlinge, beide vom Wasser hergebracht und sich ähnlich wie Zwillinge, mißvergnügt, daß ich ihre Unterhaltung gestört. Doch jetzt find' ich's wieder heraus, du hast's wie die Birke da gemacht, seit ich sie zuletzt gesehen. Aber du bist – warte, dein Name steckt mir irgendwo in einer Ecke, mit der See ist's was, natürlich – nein, mit dem Ozean, das war's – Ozeana – ich lachte darüber, als ich's hörte – ›Zea‹ riefen sie dich – Zea Hollesen bist du. Wenn eine Ente wird wie ein Schwan, kommt man nicht darauf, daß es noch der gleiche Vogel ist. Kennst du mich nicht mehr?«

Die Befragte blickte ihn wortlos an, nur aus ihren Augen sprach Verneinung. Er warf launig hin:

»Deine Augen sind anders, als die Nathan Aronsohns, aber seine haben ein besseres Gedächtnis. Vielleicht weiß dein Ohr es noch – Meinolf Alfsleben hieß ich einmal, und dabei ist's auch geblieben.«

»Du bist –?«

Eine unbewußte Erwiderung Zeas war's, man sah, aus dem Namensklang kehrte ihr auch eine Erinnerung des Gesichtssinnes. Doch unmittelbar danach verbesserte sie, die Hand vorstreckend: »Geben Sie mir mein Buch, Herr Baron, ich will fort.«

Ihm flog heraus: »Wie albern das aus deinem Mund kommt! Freilich, du bist nicht nur groß geworden, sondern auch gebildet und liest Goethe. Ich hätte dich wohl auch mit ›Sie‹ anreden und ›Fräulein‹ nennen sollen? Entschuldige, daß du mir nicht danach vorkommst, auch eh' ich wußte, wer du bist.«

Sie entgegnete nichts, tat nur das gleiche, wie er zuvor, indem sie, rasch zugreifend, ihm das locker gehaltene Buch entriß. Doch ebenso schnell streckte auch er wieder die Hand danach unter dem Ruf: »So verschlagen bist du? Ich dachte, du wolltest mir die Hand geben, als Gruß aus der Kinderzeit und als Abbitte für deine spöttisch gemachte Anrede. Deine Art ist sonst nicht so höflich, scheint mir.«

Beide hielten das Buch, zogen es ein paarmal hin und her, heftig erregt stieß das Mädchen aus: »Es ist meins – was wollen Sie damit?«

»Es noch behalten. Ich hätte dir's zurückgegeben, aber mit List und Trug wegnehmen lasse ich's mir nicht.«

Ein Ringen ward's, seine linke Hand umfaßte plötzlich ihren Arm und zwang ihn herunter. Ihr durchfuhr eine Erinnerung den Kopf, daß sie ohne Besinnen über die Lippen brachte: »Willst du mich ins Wasser stoßen wie Unna Brookwald?«

Ein helles Auflachen klang dicht an ihrem Ohr. »Warst du dabei? Das war spaßhaft! Nein, dich da wieder herauszuholen, wär' mir zu umständlich und schade für deine sauberen Füße, wenn sie von dem Moorwasser braun würden. Ich will dir nur beweisen, daß ich der Herr hier bin und mehr Kraft habe als du.«

Das bewies er, denn rückhaltlos seine Stärke gebrauchend, zwang er sie, ihm das Buch zu lassen. Mit Meinolf Alfslehen war seit gestern abend, dem stürmischen Ausbruch, in dem er um die Liebe seines Vaters gerungen und gesiegt, eine Verwandlung vorgegangen; wie ein Rückschlag in vergangene Zeit hatte es ihn gefaßt. Er war augenblicklich ganz der übermütig tollende, bedachtlose, ungebärdige Knabe von ehemals, der seinen Kopf drauf stellte, durchzusetzen, was ihn reizte. So hielt er triumphierend das eroberte Buch und sagte jetzt:

»Auf Ekenwart ist's nicht, ich habe grade Lust, ›Hermann und Dorothea‹ wieder zu lesen, morgen bekommst du's zurück. Ich bring's deinem Zwilling da, von dem kannst du's dir holen, Heut' nehm' ich's mit, die Nachtigall wird heut' nacht wieder schlagen, dabei liest sich's gut. Hab' ich dich zu hart angefaßt und dir weh getan? Das kommt von deinem Trotz.«

Zea stand gelähmt, sah ratlos auf ihr Handgelenk nieder, das er bei dem Ringen fest umfaßt gehalten, einen roten Streifen ließ es gewahren, Ihr Gesicht dagegen war blaß entfärbt, ihre Brust atmete nicht rasch, wie sonst nach einer heftigen Anstrengung, sondern bewegte sich kaum. Etwas Eigenartiges geschah; ein Zitronenfalter, vermutlich der, welcher vor Stunden hier in der Sonne gegaukelt, mußte sich an dem durchwärmten Findlingsstein zur Nachtrast niedergelassen haben und von dem Handgemenge noch einmal aufgescheucht worden sein. Er flatterte wieder und zwar einige Male, wie im Halbschlaf taumelnd, um den Kopf des Mädchens, daß es aussah, als drehe der Wind ein goldenes Blatt um sie im Kreis. Dann kauerte er sich, die Flügel zusammenfaltend, an den Granitblock zurück.

Meinolf hatte dem plötzlichen Auftauchen und spielenden Flug des Schmetterlings stummverwundert zugesehen. Nun sagte er:

»Gehört ihr auch zueinander? Da sitzt er wieder und will die Nacht hier schlafen. Wäre ich nicht zufällig hierhergekommen und du davon aufgewacht, hättest du's wahrscheinlich ebenso getan. So hab' ich dich wohl vor einer kalten Nacht bewahrt, Zea Hollesen, und du mußt für mein Kommen dankbar sein.«

Nicht mit ironischem Klang waren die letzten Worte gesprochen, doch gab ihrem Inhalt der Mienenausdruck Zeas solche Färbung, denn in ihm tat sich alles eher als Dankbarkeit kund. Was für Gedanken und Empfindungen in ihr seien, ließ indes das Gesicht nicht lesen: es hatte etwas Sonderbares, als ob sie eigentlich überhaupt nichts denke und fühle. Nur das eine, die Richtigkeit des von Meinolf Alfsleben Gesagten, daß er mehr Kraft habe als sie und daß sie mit Gewalt nichts gegen ihn ausrichten, ihm das Buch nicht wieder entringen könne. Auch was sie wolle, wußte sie nicht, oder wenigstens ward ihr gleichfalls nur eines deutlich, sie wollte nach Hause gehen. Dazu aber mußte sie den Fuß heben, und ihr kam's vor, als ob er eingewurzelt sei und sie habe keine Herrschaft über ihn. Dann indes gelang's ihr doch, sie nahm alle Stärke zusammen, löste ihn mit einem Ruck vom Boden, wandte sich und schritt fort. Anfänglich ganz langsam – hinter ihr klang noch einmal seine Stimme: »Du weißt also, wo du dein Buch wiederfindest.« Danach blieb's still, und nun ging sie rascher, allmählich beinah wie laufend. Der Abend fiel ein, es begann zu dämmern, nur über der See im Westen lag noch roter Himmelsrand. Wie der Heidegrund unter ihr verschwand und ihre Füße auf den weichen Dünensand traten, blieb sie stehen und sah verdutzt um sich. Vor ihr, in der Entfernung einer Viertelstunde, hob sich im Zwielicht ein Turm auf mit grauer Dachhaube, den sie nicht kannte; sie mußte in falscher Richtung, nach der Stadt zu, gegangen sein. Doch dann war's, als falle ihr etwas vor den Wimpern weg, und nun war es der Kirchturm von Loagger. Der lange Aufenthalt draußen und daß sie geschlafen hatte, ging ihr offenbar wunderlich in den Augen nach; im Weitergehen sah sie beständig einen kleinen dunklen Wasserspiegel vor ihnen, über dem sich glitzernde Käfer hin und her schnellten. Sie dachte noch immer nichts, nur als linkshin das Schulhaus wie ein dunkler Würfel von der Düne aufstieg, kam ihr die Erinnerung, wie sie am Nachmittag hier gegangen, habe sie sich gewundert, daß Tilmar Hellbeck seine Schulkinder in Ordnung und Zucht zu halten vermöge, da er sich nicht fordernd und befehlend, sondern nur bittend und unterordnend vorstellen lasse. Doch daß sie dies hier gedacht, kam ihr nicht wie von heut', sondern wie seit Tagen vor; das mußte auch davon herrühren, weil sie so lange auf der Heide geschlafen hatte. Auf dem Hausflur traf sie ihre Mutter, die zu ihr sagte: »Du kommst spät, das Abendessen wartet schon.« Trotzdem ging sie erst noch in ihre Stube; als sie in dieser stand, wußte sie freilich nicht, wozu. Nur daß sie mechanisch eine Schublade aufgezogen hatte, darüber dachte sie nach, weshalb, und besann sich, es sei ihr kalt, sie friere und es komme von den bloßen Füßen her. Eilig legte sie Strümpfe und Schuhe an und begab sich ins Wohnzimmer an den Tisch.

An dem Tische war's wie allabendlich, nur wie am Mittag richtete der Pastor ab und zu den Blick auf Zeas Gesicht; er schien darin nach etwas zu suchen, doch zu vermeiden, daß sie es merke. Jedenfalls lag in dieser Art, wie er sie ansah, anderes als sonst, übte, ohne daß sie sich sagen konnte, warum, eine abhaltende Wirkung auf ihr Vorhaben, von dem, was ihr begegnet war, zu erzählen. Doch fehlten ihr auch die richtigen Worte für das Fremde, ihr zum erstenmal im Leben Geschehene, sie wußte nicht, wie sie das Benehmen Meinolf Alflebens gegen sie benennen solle. Oder das wohl, junkerhaft anmaßend und hochfahrend, herrisch und gewalttätig war's gewesen; was ihr eigentlich den Mund schloß, war Scham und Unmut über ihr eigenes Verhalten dabei, ihre Unfähigkeit, ihm die gleiche selbständige Sicherheit entgegenzusetzen. Freilich hatte er seine überlegene körperliche Kraft angewandt, und wenn sie sich auch wohl getrauen würde, gegen Tilmar in einem Ringen zu bestehen, hatte sie es natürlich mit ihm nicht aufnehmen gekonnt. Aber das änderte nicht ab, daß sie ihm unterlegen war, sich seinem Willen hatte unterordnen müssen. Ihr klang's als ein Wort, mit dem sie selbst über sich gespottet habe, im Ohr nach, wie sie auf seine Frage zurückgegeben, ja, sie sei die Herrin hier. Das war sinn- und bedachtlos gewesen, bekam durch das weiter Vorgegangene etwas kinderhaft Einfältiges. Sie fühlte bei der Erinnerung daran ein Klopfen in den Schläfen.

So schwieg Zea aus Mißmut über sich selbst von ihrer Begegnung mit Meinolf Alfsleben, griff, um nicht auffällig stumm dazusitzen, manchmal eilig nach diesem und jenem, davon zu sprechen, und tat's mit etwas lauterer Stimme als sonst; ihre Nerven befanden sich noch in einem unbekannten Zustand von Erregung. Doch kam trotzdem und obwohl sie draußen geschlafen hatte, früh Müdigkeit über sie, so daß sie bald gut' Nacht sagte und in ihre Stube ging. Der Pastor blickte ihr nach, und seine Frau sagte:

»Mich dünkt, das Kind war sonderbar heut' abend; dir scheint's auch aufgefallen.«

Er wiederholte: »Sonderbar? Warum meinst du? Ja, sonderbar war's mir heut' –«

Nach einem kurzen Anhalten setzte er hinzu: »Ist dir nichts aufgefallen?«

»Ich weiß nicht, was du jetzt meinst.«

»Mir kam heut' morgen und bis eben in der Vorstellung die Ähnlichkeit zwischen ihr und Unna Brookwald noch vergrößert vor, stärker als je, fast wie die zwischen Schwestern. Und ich müßte mich sehr täuschen, wenn es Herrn von Brookwald, als wir zusammen auf dem Kirchhof standen, nicht ebenso gegangen.« Mathilde Hollesen hob den Kopf und sah ihren Mann überrascht mit einem staunend-fragenden Ausdruck an, »Du meinst – das kann nicht sein. Sie hat Dietrich Alfsleben sehr geliebt und lange auf ihn gehofft, das weiß ich am besten. Aber dafür würde ich dein und mein Leben verbürgen – ich kenne Gertrud –«

Den Kopf schüttelnd, fiel der Pastor ein: »Ich auch, und wie soll ich von ihr sprechen? Du verdenkst dich – daß die tote Frau in der Kajüte ihre Mutter gewesen, kann wohl nicht zweifelhaft sein. Wohl aber, ob sie in anderem Sinn eine Frau war – ich sprach auch mit Wittkop darüber und glaube –«

Fortfahrend dämpfte er die Stimme noch mehr: »Ich bin überzeugt, ihr Vater befindet sich am Leben, und wir haben ihn heut' morgen gesehen.«

Die Hörerin fuhr zusammen, über ihr Gesicht flog etwas Schreckhaftes, doch mit Ungläubigkeit gepaart; sie versetzte:

»Unna gleicht nicht ihm, sondern ihrer Mutter, hat ein Rhadesches Gesicht.«

Die Miene des Pastors ließ erkennen, daß der Einwand ihn nicht in seiner heute gefaßten Überzeugung beirre. Er antwortete: »Die Natur teilt gewöhnlich dem Kinde von beiden Eltern zu, nur sieht man's oft erst bei näherer Vergleichung. Ich finde auch Züge von ihm an Unna, und vielleicht besaß die Tote mit Gertrud Ähnlichkeit.«

»Und du glaubst – er ahnt – er weiß es –?«

Eigentümlich zögernd war die Frage hervorgebracht, und mit einem Ton, als berge etwas Ungesprochenes, doch für den Hörer dennoch Verständliches sich unter ihr; erwartungsvoll hielt sich der Blick Mathilde Hollesens in den ihres Mannes gerichtet, der langsam erwiderte: »Von uns nicht Begriffenes – schon lange hinter uns – könnte sich daraus erklären –«

Mit noch mehr herabgeminderter Stimme als vorher hatte er es entgegnet, doch brach er, auf die Tür sehend, ab: »Wir wollen in unser Schlafzimmer hinübergehen.« Draußen im Flur scholl der Fußtritt der Hausmagd; gleichzeitig mit seiner letzten Äußerung stand Christian Hollesen auf, ging voran und seine Frau folgte ihm schweigend nach.

Zea schlief bereits, doch es war ihr kühl, denn sie lag nicht in ihrer Stube, sondern war irgendwo unter freiem Himmel eingeschlafen. Neben ihr hockte ein Schmetterling und sagte: »Ich bewahre dich vor einer kalten Nacht«, und dazu schlug er große Flügel auseinander, daß sie sich wie zu einem goldenen Dach über ihr breiteten. Aber eigentlich war's, trotz der Nachtzeit, eine Decke aus Sonnenstrahlen, von der jetzt Wärme über die Träumende hinging. Sie dachte nach, wo sie sei; eine Lerche trillerte. Danach befand sie sich vermutlich auf der Düne von Herdsand; und ihr kam's auch, Tilmar Hellbeck sitze neben ihr, obwohl sie nichts von ihm sah, und sie habe ihn eben gefragt, ob er nicht einverstanden wäre, daß sie seine Frau werde. Aber dann war's kein Lerchengesang, der eines anderen ihr unbekannten Vogels; sie dachte weiter darüber nach, eine Nachtigall mußte es sein. Um Loagger, am Strand und auf der Heide gab's keine solche, doch im buschigen Parkgarten von Helgerslund, dort hatte sie vor langem einmal mit Unna zusammen eine gehört und kannte daher noch den Gesang. Also war sie auch wohl dort, nur stimmte nicht damit überein, daß der Falter sie fragte: »Soll ich dich heiraten?« Sie mußte dazu lachen, denn er sprach jetzt mit der Stimme Tilmars, und dieser stand auch vor ihr und bückte sich, um sie aufzuheben. Ein seichtes Wasser lag unter ihr, aber nun rief plötzlich Unna Brookwald: »Nimm dich in acht, er wirft dich hinein! Bei ihm riskiert man immer sein Leben.« Dabei flog der goldene Schmetterling über das tief und dunkel werdende Wasser hin fort, einem entfernten Waldrand zu, und alles war still und leer. Zea lag schlafend auf der Heide neben dem alten Findlingsstein und wußte, daß sie unsinnig geträumt habe. Doch sah sie in der Weite noch den Falter wie ein im Winde flatterndes Blatt, und in ihr war etwas geblieben, ein Verlangen, fast eine Sehnsucht, die Nachtigall noch einmal schlagen zu hören. Sie horchte auf, aber umsonst. Bis nach Helgerslund war's zu weit; um ihren Wunsch erfüllt zu bekommen, mußte sie dort im Parke sein.

Als sie aus dem Schlaf aufwachte, lag der Morgen mit gleichem Frühlingssonnenglanz um sie wie gestern. Spät schon erschien's nach der Helle, so daß sie hurtig die Kleider überwarf; im Gefühl war's ihr, es sei wieder Sonntag, und mechanisch legte sie auch die Strümpfe und Schuhe an; dann erst besann sie sich, aber da sie's einmal getan, beließ sie's so. Unter häuslichen Arbeiten verging ihr die Hälfte des Vormittags; als sie ihren Obliegenheiten nachgekommen, wollte sie sich zum Lesen in den Garten setzen, begab sich in ihre Stube, den Band mit der Goetheschen Dichtung zu holen. Er lag nicht an seinem Platz; sie hatte während ihrer Beschäftigung Empfindung davon in sich getragen, doch als ob sie nur in der Nacht geträumt habe, daß er nicht dort sei. Nun sah sie, das Buch fehlte in der Tat, und ihr kam zurück, sie habe es wirklich nicht, sondern es liege draußen auf dem Granitblock. Das hieß, wenn Meinolf Ulfsleben es schon dorthin zurückgebracht, oder wenn ihm überhaupt einfiel, seine Zusage zu halten; wahrscheinlich dachte er heute gar nicht mehr daran.

Zea fühlte ihren gestrigen Unmut beinah noch verstärkt wiederkehren; ihr lag augenblicklich alles daran, »Hermann und Dorothea« weiter zu lesen, und sie konnte es nicht. Es war innerlich empörend, daß jemand aus anmaßender Willkür sie nötigte, darauf Verzicht zu leisten; adliger Hochmut gab sich darin kund. Er hatte sie anfänglich für ein Bauernmädchen gehalten, doch auch die Pastorentochter galt ihm nicht mehr, und obendrein noch ein Findling, Sie hörte ihn lachend die Worte sagen: »Zwei Findlinge, einer beim anderen.« Mißächtlich klang's ihr nach, nur daneben wundernehmend, daß er eine Erinnerung daran bewahrt hatte. Nachträglich entsann sie sich allerdings seiner jetzt auch aus lange vergangener Zeit, zuletzt wohl vor fünf oder sechs Jahren, daß er ab und zu einmal im Brookwaldschen Wagen am Sonntag mit herübergekommen, und im Grunde mochte er sich nicht sehr verändert haben; ihr kam's, daß er sie schon damals ausgelacht, warum, wußte sie natürlich nicht mehr, aber mit Mißachtung war ihr noch nie ein Mensch begegnet; daß jemand Hand an sie legen könne, sie zu etwas zu zwingen, hätte sie bis gestern nicht für denkbar gehalten.

Zea war aus der Haustür getreten und einige hundert Schritte in südlicher Richtung fortgegangen, um sich das Buch aus der Heide zu holen, doch sie kehrte jetzt wieder um. Vermutlich hatte er es noch nicht zurückgebracht, oder wenn, so lief sie Gefahr, dort abermals mit ihm zusammenzutreffen. Das schuf ihr eine widrige Vorstellung, und sie verschob den Gang bis zum Nachmittag, machte sich auch an diesem erst ziemlich spät auf den Weg. Aus der Entfernung ging ihr Blick über die Fläche nach ihrem Ziel vorauf; die weißrindigen Birken standen einsam still in der schrägen Sonne, nichts Ungewohntes, kein Pferdekopf ragte neben ihnen in die Höhe, nur die niedrige Platte des großen Granitsteins. Auf ihm lag nichts, die scharfsichtigen Augen des Mädchens unterschieden es bereits von ziemlich weit her; offenbar traf das zu, was sie auch am wahrscheinlichsten bedünkt, er dachte überhaupt nicht mehr an die Rückgabe des Buches, wenigstens kam's ihm nicht in den Sinn, deshalb den Weg von Ekenwart hierher zu machen. Nur den Namen kannte sie und wußte, das Herrenhaus liege hinter dem Waldrand; dort war sie nie gewesen, hatte nur dann und wann gehört, der Freiherr von Alfsleben sei ein unzugänglicher, sich von allem Verkehr abschließender Mann. Jedenfalls auch aus mißächtlich auf andere herabsehendem Hochmut, sein Sohn diente ihm zur Erläuterung.

Obwohl ihre Hierherkunft sich so als zwecklos bestätigte, ging Zea doch weiter auf den Findlingsblock zu und setzte sich auf seinen Rand; ihr alter Lieblingsplatz war's, ein langjähriges Eigentum, als dessen Herrin sie sich heut' wieder fühlen konnte. Sie atmete einmal tief die weiche Luft ein, ein leiser, warmer Wind strich um sie, sonst lag alles unbewegt in der Sonnenstille.

Da erklang unweit von ihr eine Menschenstimme: »Du hast mich lange warten lassen, Zea Hollesen.«

Etwas seitwärts her kam sie, von einer durch einen Wachholderstrauch halbverdeckten Heidebulte, die außerdem gegen die schräg fallenden und blendenden Strahlen lag. So wurde Zea auch jetzt nichts von dem Urheber der unerwarteten Anrede gewahr; sie fuhr nur schreckhaft zusammen und wollte aufstehen. Doch nur ein Antrieb des ersten Augenblicks war es, dann schwoll ihr aus dem Innern Selbstgefühl und ein trotziger Stolz auf. Fast mit einer Befriedigung desselben überkam's sie, daß Meinolf Alfsleben glaubte, seine Willkür nochmals an ihr auslassen, sie zu einem Spielzeug seiner Laune nutzen zu können. Doch sie ließ sich durch ihn nicht von ihrem Sitz vertreiben; er war nicht für sie vorhanden, mochte sprechen, was er wolle, durch kein Zeichen gab sie kund, daß eine Stimme ihr ans Ohr töne. Unbeweglich behauptete sie den Platz, blieb, und wenn es nacht werden solle, bis er seines herrisch-anmaßenden Vorhabens müde ward, davonging und sie hier als die Herrin zurücklassen mußte.

Er hielt das gestern von ihm mitgenommene Buch aufgeschlagen auf den Knien und fügte seiner Ansprache kurz nach: »Du hast ein Zeichen eingelegt, wie weit du gekommen bist, soweit habe ich heut' nacht auch gelesen. So können wir zusammen fortfahren, ich lese dir's vor; da hast du's nicht nötig, und wenn der Zitronenfalter wieder irgendwo sitzt, kann er auch zuhören.«


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