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Sechstes Capitel.

In der düsteren Krankenzelle des Spitals kam die Nacht noch früher, als in der Judengasse. Thubal war lange fortgegangen, sein Beruf verstattete ihm keine Rast. Der schwarze Tod war so plötzlich über die hillige Stadt Cölln hereingebrochen und raffte mit dem ersten Griff seiner Faust so unzählbare Opfer hin, daß auch in den Kreisen derer, welche mit Kunst und Wissen ihm entgegenzutreten berufen waren, Angst und Verwirrung herrschte. Viele Aerzte entzogen sich ihrer Pflicht und entflohen oder beschränkten ihre Sorge nur auf sich selbst und kaum auf ihre nächsten Angehörigen; andere suchten gewissenlos durch unnütze Salben und das wunderthätige Gebräu zusammengemischter Mixturen aller Art, das im Mittelalter von Laien und Sachkundigen unter dem Namen Theriak verehrt wurde, sich zu bereichern. Wenige waren verständig und unterstützten die Behörden der Stadt durch zweckmäßige Rathschläge für die Bekämpfung der Krankheit im Allgemeinen, und setzten sich durch ihre eifrige Hülfe im einzelnen Fall der Gefahr der Ansteckung aus. Kaum seit vierundzwanzig Stunden war die Pest in Cölln, und die Verwirrung war bereits so hoch gestiegen, daß sie nicht mehr zunehmen zu können schien. Jeder suchte sich zu retten, Selbsterhaltung war die Losung des Tages. Reihenweise wurden von den Angehörigen die Leichen der Ihrigen vor die Thür gelegt, oft noch Lebende unter ihnen, die auf der Straße ihre letzten Stunden hülflos ausjammerten, wenn nicht zuvor der Wagen kam, dessen Führer sie gleichgültig auflud und der großen Gemeingruft vor dem Thor ablieferte. Eltern verließen ihre Kinder in der Todesstunde, Gatten sich gegenseitig, mancher floh und verbarg sich in abgelegener Kammer, die er hinter sich abschloß, und von niemandem bemerkt, starb er in dem Winkel, den er sich ausgewählt, und blieb liegen, bis der Verwesungsgeruch die Mitbewohner aufmerksam machte, daß sie ängstlich die Thür erbrachen und die verhängnißvolle Leiche zu den übrigen auf die Straße warfen. Grausam und verhärtet nahm kein Herz mehr Antheil an dem Schicksal Anderer; ja, es war ein wollüstiges Gefühl für die Meisten, das Verderben derer zu vernehmen, die bisher glücklicher gewesen, als sie.

In dieser bitteren Noth und diesem Elende verfiel gleichmäßig mit dem Ansehen göttlicher und menschlicher Gesetze der Werth der Dinge, die sonst bei Vielen den Zweck des Lebens ausgemacht. Die Liebe des Weibes brachte den Tod wie der Genuß köstlicher Speisen und Getränke; es brachte ihn das allmächtige Gold, in dem alle Freuden der Erde enthalten waren, wenn es aus der Hand Pestbehafteter kam. Es konnte nur zu Einem mehr dienen, sich mit ihm durch Weihgeschenke die Gnade des Himmels zu erkaufen, und mit vollen Händen brachte man es in den Klöstern und Kirchen dar. Doch das Seltsamste geschah. Die Heiligen des Christengottes, welche ein Aureolenkranz wegen des frommen Eifers umgab, mit dem sie seit Jahrhunderten die Schätze des Herrn zu häufen gestrebt, hielten ihre Thore verschlossen. »Das Gold bringt den Tod,« antworteten die Mönche dumpf und weigerten sich, die reichen Spenden anzunehmen, und mit denselben begierigen Händen, mit denen sie es zuvor an sich gerafft, ergriffen die begeisterten Geber jetzt das Gold, das Glück der Erde, und warfen es über die Klostermauern, und in wettendem Eifer schleuderten die gottseligen und menschenfurcht-entsagenden Bewohner derselben es wieder zurück.

Doch keine Absonderung, kein Schutzmittel half. Paläste und Hütten starben aus, waldverborgene Klöster und Ritterburgen, die sich wie Adlersflügel über dem schroffesten Felskegel wiegten. Viele begannen sorglos den Tag und endeten am Abend; mancher schon am Mittag, mancher in der nächsten Stunde. Mißfarbige Striemen wie von Geißelhieben legte die Pest um den Körper desjenigen, den sie sicher erfassen wollte, und man nannte sie den Gürtel des Todes, und den, der ihn trug, gab jede Hülfleistung verloren und wandte sich gleichgültig von ihm. Die schlechte, für eine Allgemeinerkrankung der Menschheit nicht berechnete Einrichtung der Spitäler kam hinzu und erhöhte die Bedrohlichkeit des Verderbens, das von ihnen, wie von einem sicheren Heerde, um sich griff, bis Pesthäuser vor den Thoren errichtet wurden, in die man die Betroffenen, ohne Unterschied des Standes, Geschlechts und Alters zusammenpackte und wenigstens die gefährliche Nähe anderer, dichtgefüllter menschlicher Wohnungen vermied. Auch ohne eine Ablagerung Tausender, die von der Pest befallen, im Mittelpunkte der bevölkerten Stadt begünstigte die Bauart des Mittelalters genugsam die schnelle Ausbreitung epidemischer Krankheiten. Fast alle Gassen waren eng, hoch, dumpfluftig und mit mannigfachem Unrath bedeckt; sumpfige Gräben mit verfaulenden Thier- und Pflanzenstoffen umzogen größtentheils die Häuser, in denen unreinliche, niedere Wohnungen von dicht zusammengedrückten, kinderreichen Familien angefüllt waren. Instinctiv empfanden die Leute die Verderblichkeit dieses Zustandes, dessen Gegensatz fast überall die Geistlichkeit in ihren weiten und kühlen Klosterräumen begünstigte, daß verhältnißmäßig wenige von ihr der Krankheit zum Opfer fielen. Und um zu beten und die unheilvolle Luft ihrer Häuser zu vermeiden, drängte die Menge in die hochgewölbten Bogenhallen der Kirchen, wohin Hunderte den Keim des schwarzen Todes mit sich trugen, der wie eine Flamme an leicht entzündbarem Stoff über die Köpfe der Versammelten hinlief, daß sie unter den Pönitalgesängen der Priester umsanken und an den Altären starben, und auch die Luft dieses letzten Zufluchtsortes schlimmer verpesteten, als die übrige.

Das Spital, in welches Hellem am Morgen gebracht worden, lag, wie wir gesehen, derartig in einer düsteren, schmutzigen Gasse mitten in der Stadt und war bereits seit der Mittagsstunde mit Kranken überfüllt, so daß die fast ununterbrochen im Laufe des Nachmittags Eintreffenden abgewiesen werden mußten, und nur noch dann und wann einer aufgenommen wurde, der in das eben verlassene Bett eines Anderen, den grade der Tod abgerufen, einrücken konnte. Eine heillose, durch die allgemeine Angst der Aerzte wie der Laien erhöhte Verwirrung und Rathlosigkeit herrschte in den engen Räumen. Auch der Dominus Atrostipes, oder Schwarzstock, hatte sich mit dem Schlangenstab eingefunden und vertheilte gegen reichliche Bezahlung seinen um Mitternacht aus aqua mille florum in Goldtiegeln gebrauten Theriak. Thubal, der sich, nachdem er Hellem befriedigt verlassen, wegen des Mangels umsichtiger Aerzte gleichfalls noch in dem Lazareth der Christen beschäftigte, nahm einem Kranken den Wunderbalsam aus der Hand und untersuchte ihn durch Geruch und Geschmack. Dann schüttete er ihn verächtlich auf den Boden.

» Collega judaice, doctissime,« klapperte der Storch, der ihn lauernd mit den Augen beobachtet hatte, ergrimmt, »Ihr seid unverschämt, weiser Meister aus dem Morgenland, und werdet mir meinen Theriak bezahlen, den ich aus allen heilsamen Kräutern, welche die unvergleichliche christliche ars medicinalis kennt, in Goldtiegeln um die zwölfte Nachtstunde –«

Thubal griff in die Tasche und warf ihm die kleinste im Gebrauch stehende Kupfermünze entgegen, nach welcher der Schlangenstab triumphirend haschte, dann jedoch, bei näherer Betrachtung, verächtlich von sich stieß.

»Ich bekomme heraus darauf drei Viertheil von dem Werth,« sagte der jüdische Arzt ruhig, »wenn Ihr mir ausliefert den ganzen Inhalt von der Büchse, in welcher ist reines Wasser, das auf Lindenblättern gekocht worden und von dem Ihr keinen anderen Beweis habt für seine Heilkraft, als daß die Blätter der Linde besitzen eine Form, ähnlich wie ein Herz.«

Vernünftige Aerzte, die herzugetreten waren, lachten über die Werthenthüllung des unschätzbaren Theriaks, und der Inhaber desselben wandte sich, mit einem rachdürstigen Blick auf Thubal, von den spöttischen Gesichtern seiner Collegen, mit einer Verwünschung gegen das jüdische Wuchergeld, für das er die göttliche Wirkung seines Balsams nicht verhandeln wolle, zur Seite. Der Wärter mit den boshaften Schlitzaugen, welcher Zeuge der Scene gewesen war, ging ihm nach und flüsterte ihm etwas zu, das die Schlange eifrig hin und her bewegte, und sie blieben leise mit einander sprechend und gesticulirend in der Fensternische stehn.

Thubal schritt mit den wenigen tüchtigen Aerzten zwischen den Kranken umher und ertheilte seinen Rath. Einsichtsvoll und vorurtheilsfrei stimmten sie den trefflichen Vorschlägen, die er machte, bei und setzten dieselben ins Werk. Ihre Augen hingen mit Bewunderung an der furchtlosen Sicherheit seines Wesens und sie lauschten aufmerksam und dankbar auf jedes Wort, das er sprach.

»Es würde wenige Aerzte unter uns geben, die so für Euer Volk Sorge tragen würden,« sagte Einer von ihnen, »und wenn sich Jemand fände, wie viel würde ihm mangeln von der Kunst, die Ihr besitzt.«

Thubal lächelte traurig. »Die Kunst bedeutet weniger, als das Leben,« erwiederte er ernst; »werdet älter, junger Mann, und wenn Ihr eigene Gedanken hegt, werdet Ihr handeln, wie ich.«

Er verabschiedete sich von den Aerzten, die ihm zur Mißbilligung ihrer Umgebung freundlich, fast ehrfurchtsvoll die Hand reichten, und verließ den Krankensaal. Es war schon dunkel draußen; er trat noch einmal in Hellem's Gemach, wo der greise Büßer unbeweglich bei dem matten Schimmer einer Lampe neben dem Bette saß und auf die ruhigen Athemzüge seines schlafenden Sohnes horchte.

»Der Schlaf ist des Kranken Freund,« sagte Thubal erfreut. »Sobald er aufwacht und die Kraft in sich fühlt, bringt ihn hinüber zu unserem Volk, Isaschar. Ihr wißt, was ich Euch gesagt, daß Ihr frei eintreten könnt in das Haus Eures Bruders, und es ist gut, wenn Ihr bald von hier kommt und zusammen seid. Ich weiß nicht, ob ich Euch wiedersehen werde so bald, Isaschar, denn ich werde gehen ins Pesthaus vor dem Thor, um zu sehen, ob ich jemand dort kann retten von unserem Volk, aber vergeßt nicht zu sagen an Euren Sohn, daß wenn es noth thun solle, und er bei Nacht heimlich wolle aus der Stadt, er anklopfe an das letzte Fenster in dem Wächterhause am Frankfurter Thor, vor dem Rosen und Myrten stehen, und sage: Thubal. Vergeßt es nicht, Isaschar, und mit Euch sei der Segen Aaron's und Moses und mit den Euren.«

Er drückte dem Greise die Hand und entfernte sich rasch. In der Thür wendete er sich noch einmal und sagte:

»Bereitet Euren Sohn, wenn er aufwacht, vor auf das, was Ihr ihm zu sagen habt, damit es ihn nicht zu plötzlich treffe und die Aufregung ihm könnte Schaden zufügen.«

Der Alte nickte und Thubal verschwand. Die Stunden des Abends und der Nacht kamen langsam und schritten bis Mitternacht fort; Hellem schlief und der Greis saß unbeweglich und bewachte seinen Schlummer. Er murmelte nur mit den Lippen vor sich hin, leise, unverständliche Selbstgespräche, dann wieder lauter und vernehmlich. Von Lebendigen und Todten aus alter Zeit redete er mit sich selbst, dunkle, geheimnißvolle Dinge. Immer mehr versank er in lautes Brüten, wie er das Gesicht Hellem's vor sich betrachtete.

»Er hat nicht den Zug von unserem Volk,« murmelte er; »man könnte ihn halten für einen Christen, wie seine Mutter, wenn er nicht hätte das schwarze Haar aus unserem Stamm –«

Er schwieg, seine Stimme wurde trüber und seine Augen düster. »Ich habe sie verlassen, die ihn geboren,« fuhr er mit bitterem Tone fort, »wie ich ihn verlassen und meinen Gott, wie ich in meiner Angst Alle verlassen, die mich mahnten an mein Verbrechen. Und sie haben von mir genommen den Fluch um Lea, die Tochter Hagar's, aber sie haben nicht von mir nehmen können den Fluch in meinem Herzen, der darauf liegt, weil ich lebe und nichts habe gethan für die, welche ich im Elend verlassen.«

Ein dumpfer Glockenton kam durch die Nacht von einem nahen Kirchthurm und verkündete die zwölfte Stunde. Der Greis fuhr auf aus seinen Träumen, denn der Jüngling regte sich und öffnete die Augen. Er blickte klar mit ihnen umher, dann hob er den Kopf und sah verwundert den Alten an.

»Wer seid Ihr? Wohin habt Ihr mich gebracht?« fragte er, mit musterndem Blick das enge Gemach überfliegend.

Der Alte antwortete nicht; doch Hellem sah ihm mit voller Besinnung scharf ins Gesicht und fuhr fort:

»Es ist dunkel hier oder meine Augen sind trübe; aber Ihr seid aus unserem Volk, trotz Eurer Kleidung. Hat mein Vater Euch zu mir gesandt? Weiß Tharah, meine Schwester, daß ich hier bin? Warum schweigt Ihr? Woher seid Ihr gekommen, wenn sie Euch nicht geschickt?«

Der Jüngling hatte sich völlig aufgerichtet und drang immer heftiger in den zitternden Alten ein. Endlich, da er sich ungestüm erheben und aufstehen wollte, legte jener ihm die bebende Hand auf die Schulter und antwortete:

»Du irrst, Jüngling; wende Deinen Blick auf mein Kleid, es betet nicht zu Deinem Gott, sondern die Büßer tragen es aus dem Christenvolk –«

Hellem machte eine halb dankbare, halb argwöhnische Bewegung. »Und wie kommt es, daß ein Christ sich über einen Juden erbarmt?« fragte er mißtrauisch.

»Weil ich Dich auf der Straße im Elend fand,« versetzte Isaschar bewegt, »und weil die Liebe und die Pflicht, – weil der Beruf meines Kleides mir gebot, mich Deiner zu erbarmen,« brach er ab. »Aber Du hast nichts von dem Stamme Judas in Deinen Zügen, Jüngling, und das Volk, das versammelt war um Deine Bahre, glaubte, Du seist ein Christ –«

»Es ist von meiner Mutter, die eine Christin war,« murmelte Hellem.

»Ich habe es mir gedacht, Du müßtest haben Blut von Christen in Dir,« fiel der Alte ein; »wo ist Deine Mutter, daß sie nicht bei Dir ist in Deiner Noth?«

»Sie ist gestorben bei meiner Geburt, ich habe sie nicht gekannt,« entgegnete der Jüngling, dessen erste Aufregung sich gelegt hatte, wehmüthig; »doch ich habe gehört, daß ich ihr gleiche.«

»Und Du sagtest von Deinem Vater,« fuhr der Greis im selben Tone fort; »wo ist Dein Vater, daß er nicht bei Dir ist in Deiner Noth?«

Hellem wandte sich und blickte ihn mit weit geöffneten Augen an.

»Ihr fragt wunderlich,« erwiederte er zögernd; »in der Judengasse wohnt mein Vater, der alte Caleb, doch er weiß nicht, daß ich hierher gebracht bin, denn ich ging heimlich –«

»Ist er Dein Vater, der alte Caleb?« unterbrach Isaschar ihn mit zitternder Stimme. »Ich habe kennen gelernt Einen auf der Reise vor langen Jahren unter dem Volk in Italien, der den reichen Caleb kannte in der Judengasse von Cölln, und er hat mir erzählt von ihm, und daß er sein Freund gewesen, bis daß der Herr brachte die Versuchung über ihn und führte ein junges Weib in das Haus des alten Caleb, der auch war jung damals. Und wie er sah das Weib, brannte sein Herz und er konnte das Feuer nicht auslöschen in ihm, und sein Auge wurde geblendet von ihr, daß er zu ihr trat, wie Sichem, der Sohn des Hemor, zu Dina, der Tochter Lea's, und sie versuchte. Und da sie sich weigerte und ihn von sich stieß mit der Hand, da ergriff er sie mit Gewalt und sie schrie, daß Caleb herbeikam auf den Hülferuf seines Weibes und die Hand aufhob und dem Versucher fluchete, ihm und seinen Kindern und Kindeskindern –«

Hellem war während der Erzählung aufgefahren und blickte mit stockendem Athem in das Gesicht des Greises. Eine Frage zitterte auf seinen Lippen, doch er hielt sie zurück und horchte mit starren Augen, wie der Fremde fortfuhr:

»Und da der Verfluchte hinwegging aus seinem Hause, schlossen sich ihm die Thüren seiner Sippe und seines Volkes, und er fiel ab von seinem Gott, in dessen Namen ihm geflucht worden, und wandte sein kochendes Herz auf eine Christin, die ihn lieb gehabt um seine Schönheit; aber er liebte sie nicht und verließ sie in ihrer Noth und den Sohn, den sie ihm gebar, denn sein Herz war ruhlos von dem Fluch –«

»Ihr sprecht von meinem Vater, – Ihr habt meinen Vater gekannt,« rief Hellem emporfahrend, »es war der Bruder Caleb's, den Ihr einen Fremden geheißen –«

»Und er zog hinaus in die Fremde, wie Ahasver,« stammelte der Greis, »und ging an seinem Stabe über die Länder und suchte, was er nicht fand: die Vergebung in seinem Herzen. Und die Sonne verbrannte ihn und er schwamm durch Flüsse mit reißendem Wasser, aber es warf ihn auf den Strand und erbarmte sich nicht über ihn. Und er sah Berge einstürzen und trat hinzu, aber die Felsen hielten inne vor dem Verfluchten, und die wilden Thiere, die aus den Klüften kamen, wichen vor ihm zurück, denn er war gebrandmarkt auf der Stirn und der Tod entsetzte sich vor seinem Anblick. Und er wanderte gen Osten in seiner Qual, immer gegen die aufgehende Sonne, jahrelang, bis daß er kam an das große Meer, das war ausgedörrt von der Gluth, und die Fische starben darin, und wohin die Luft zog von ihrer Verwesung, starben alle Thiere und alle Menschen und die Vögel, welche darüber flogen. Furchtbar sahen sie aus, wenn sie starben, denn es wuchsen ihnen Geschwüre unter der Achsel und in den Weichen, die anschwollen wie eine Faust und ausbrachen, und wer sie berührte, war des Todes. Er allein suchte sie und sie kamen nicht zu ihm; durch Städte, die ausgestorben waren, ging er und schaufelte den Letzten in die Erde. Und er nahm nicht Speise und Trank, aber die Krankheit wollte ihn nicht, und der Hunger schwieg, und das Grab stieß ihn aus. Und er wandte sich wieder gen Westen, denn es saß ein Stachel in seinem Herzen und trieb ihn in die Heimath und zu seinem Sohn und zu seiner Sippe, die ihn verstoßen, und er wanderte weiter und weiter, und wohin er kam, wurden die Straßen leer hinter ihm und er brachte mit sich Jammer und Todesnoth, denn die Pest hatte den Fluch gewittert, der auf ihm lag, und sie hing sich an seinen Fuß. Und er kam in das Land seiner Väter, nach Jeruscholaym kam er, und mit ihm kam der Fluch unter die Saracenen und unter die Söhne Israels, daß sie fielen, wie die Nadeln der Cedern auf dem Libanon. Und er ging hinab an den Strand mit seinem Fluch und stieg auf ein Schiff, und die mit ihm am Bord waren, starben und wurden begraben im Wasser, einer nach dem andern, bis er allein übrig blieb auf dem Todtenschiff und nachsprang in die stürmische Wassersfluth, und die Welle nahm ihn auf den Rücken und trug ihn ans Land. Aber sie wusch nicht von ihm den Fluch und er mußte weiter, wie Ahasver, denn der Stachel brannte in seinem Herzen und das Abendland starb unter seinem Fuß wie das Morgenland, bis daß er die Geißel nahm und mit seinem Blut den Zorn Jehova's abzuwaschen suchte von seinem Haupt und von dem Haupt seines Sohnes –«

Der Jüngling hatte mit fiebernder Spannung der irren Erzählung des Alten gelauscht; es überkam seine Sinne, die sich kaum aus der Bewußtlosigkeit der Krankheit aufgerafft, wieder mit verworrener Betäubung und er schrie schmerzlich auf:

»Weh mir, – es rächt der Gott Jehova die Schuld der Väter; er hat den Fluch meines Vaters geladen auf mein Haupt und an meinen Fuß die Pest geheftet, wie an den seinen.«

Seine Augen rollten angstvoll umher und in das Gesicht des Greises, der, in bange Vergangenheit verloren, der Vorschrift des Arztes vergaß und mit dumpfer Stimme fortfuhr:

»Und er kam zurück in die Heimath und fand sterbend seinen Sohn auf der Straße, aber der Gott Jehova hatte sein Jammern gehört und nahm um seines Kindes willen von ihm den Fluch durch den Mund Caleb's, über dessen Haus er Schande gebracht, daß sein Sohn Hellem genas unter seiner Hand –«

Ein irrer Schrei brach aus der Brust des Jünglings; seine Augen funkelten und bohrten sich weit aufgerissen in die Züge des Alten, dann schlug er die Arme um den Nacken desselben zusammen und rief:

»Gott meiner Väter, was sahen meine Augen, – Du selber bist es, Du bist Isaschar, – mein Vater –« und er fiel ohnmächtig an der zitternden Brust des Greises zusammen.

Draußen auf dem Vorplatz erhob sich ein Lärmen, das allmälig näher kam. Es rief aufgeregt durcheinander, dazwischen konnte man die boshafte Stimme des Wärters und das Klappern des Storches vernehmen.

»Ins Pesthaus mit dem Juden!« kreischte es; »soll der Ungläubige Schuld an dem Tode eines Christen sein?«

»Sie haben die Pest gemacht,« zischelte die Zunge des Wärters; »sie sind Schuld an dem Tode aller Christen zusammen.«

Vergeblich erscholl eine vernünftige Stimme dazwischen. Es war die des jungen Arztes, dem am Abend Thubal zuletzt die Hand gereicht.

»Laßt ihn dort, es ist ein Mensch,« sagte er; »wenn die Juden die Pest erzeugt hätten, wie käme es, daß sie selbst daran sterben?«

Doch seine Mahnung verklang in dem Getöse und der Schwarm wälzte sich unaufhaltsam heran. Die Thür wurde aufgerissen und die beiden Inhaber der Kammer fuhren erschreckt empor.

»Ihr müßt fort;« krächzte der Wärter barsch, »ein Christ soll hierher; reinigt die Luft von dem Athem des Judengesindels!«

»Komm, Hellem, mein Sohn, wir wollen gehen zu unserem Volk, wenn Du Kraft hast,« antwortete Isaschar, den noch halb besinnungslosen Jüngling aufrichtend, »komm!«

»Wohin Ihr geht, ist uns gleichgültig,« grinste der Wärter giftig, »verreckt auf der Gasse oder geht ins Judenquartier und breitet dort die Pest unter den Halunken aus –«

Doch die Schlange des gelehrten Schwarzstock unterbrach ihn, der sich vorgedrängt und mit heftig flügelschlagendem Mercur den Reconvalescenten betrachtet hatte.

»Nein, haltet ihn; dies ist das Individuum, das ich mit meinem collega defuncto, dem domino doctissimo Salario, welchen es subito et miserabiliter seiner heilsamen Kunst für die Menschheit entrissen, heut Morgen gesehen, das zuerst die Pest in die hillige Stadt Cölln gebracht hat. – Könnt Ihr leugnen, Unglücklicher, daß Ihr der Anlaß dieser verderblichen Krankheit gewesen, die Ihr unter den Bewohnern dieser Stadt erzeugt habt?« fügte er, sich gravitätisch in die Brust werfend, gegen Hellem gewandt bei.

»Es ist Hellem, der Sohn des reichen Caleb in der Judengasse,« rief eine Stimme aus der Menge; »er ist gestern Abend erst gekommen, ich habe ihn gesehen.«

»Könnt Ihr leugnen,« wiederholte sich hochaufrichtend der Dominus Atrostipes und die Schlange auf die Stirn des Jünglings niedersenkend, »daß Ihr es wart, der diesen Fluch über die hillige Stadt Cölln gebracht hat?«

Hellem öffnete die bisher wie betäubt geschlossenen Augen und starrte blöde in die drohenden Gesichter der auf seine Antwort harrenden Masse. Die Worte Isaschars klangen in ihm nach und seine Gedanken waren irr. »Fluch«, murmelte er besinnungslos; »ja ich bin verflucht und bringe die Pest –«

»Hört ihn nicht, er spricht im Wahnsinn,« stöhnte der Greis, der mit angstvollen Blicken die Wirkung beobachtete, welche die Antwort Hellem's unter den Umstehenden hervorrief. »Er ist nicht verflucht, er ist gesegnet; laßt uns fortgehen zu unserem Volk.«

Doch der Arzt streckte würdevoll die Hand aus. »Ihr habt es gehört, er war es,« sagte er majestätisch; »mein Auge ist wie das des Falken und unfehlbar, wie der Theriak, den ich Euch bereitet. Bringt dies Individuum in das Pesthaus!«

Das Gebot enthielt den sicheren Tod, fast so unabwendbar, wie der, den das Gebrüll des wüthenden Haufens forderte.

»Schlagt den Anstifter des Schreckens todt und werft ihn in die Grube – und wälzt Steine darauf, daß er nicht wieder herausbricht,« schrie es wild durcheinander.

Umsonst widersetzte der junge, besonnene Arzt sich der beabsichtigten Gewaltthat. Seine Stimme reichte nicht aus, den Lärm zu bemeistern; er that, was er konnte und drängte sich nach dem Bedrohten vor, als er, sich umblickend, plötzlich das bleiche Antlitz eines jungen Weibes von wunderbarer Schönheit hinter sich gewahrte, das seinen Arm umklammerte und rief:

»Wo ist mein Bruder? Sie wollen meinen Bruder ins Pesthaus bringen zu den Todten, – rettet ihn, Herr, rettet!«

Und die schöne Tharah brach sich verzweifelt Bahn durch das Getümmel ins Gemach, daß der Arzt ihr zu folgen vermochte. Sie flog auf das Lager zu und schleuderte die Arme der Angreifer zurück und deckte ihren Bruder mit dem Körper. Von der Aufregung der Nacht und der Flucht war ihr Haar gelöst und fiel ihr in schwarzen Wellen bis auf die Knie herab, ihre Augen funkelten, ihre Brust stöhnte dumpf wie die einer Wölfin, die ihre Jungen beschützt. Die Angreifer verstummten vor der plötzlichen Erscheinung und blieben gebannt stehn, wie der junge Arzt, der, von der göttlichen Schönheit des Mädchens bezaubert, sie mit lautlosen Blicken maß und sich von Kraft durchströmt fühlte, wenn es sein Verderben sein sollte, für sie dem Grimm der Menge zu trotzen. Eine andre Empfindung, die ihm Scham in die Wangen goß, kam hinzu. »Wo ist Thubal? Ist Thubal fort?« fragte die Jüdin, hastig umherblickend, und das Gesicht des ernsten, traurigen Mannes und seine letzten Worte stiegen mit begeisternder Aufforderung vor ihm empor. Auch er sah eilig nach einer Hülfe umher, doch jede Ordnung war gebrochen, der Fanatismus der entzügelten Gemüther herrschte hier wie überall, und er begegnete nur den flammenden Blicken des Wärters, die mit thierischer Begier auf dem Antlitz der schönen Tharah hafteten und den rachsüchtig hin und her zitternden Bewegungen der Metallschlange, die nicht vergessen, daß er vorher Ohren- und Augenzeuge ihrer Demüthigung durch den jüdischen Arzt gewesen und über die Verschüttung ihres kostbaren Theriaks gelacht hatte. Jetzt bot sich ihr die Gelegenheit, ihren wieder erlangten Einfluß bei der Menge zu befestigen und zur Vergeltung zu benutzen, sie beherrschte unumschränkt den Augenblick, und es gab kein Heilmittel gegen den Tod, den sie brachte, – aus Unwissenheit sonst und jetzt aus Rache, keine Hülfe – keine –

Keine als die wunderliche Laune des großen Meisters, des Todes selbst, der dies Opfer ergriff und jenes fahren ließ, der mit seiner Beute spielte wie eine Katze, den Verlorengeglaubten frei ließ und mit einem Tatzenschlage den Uebermuth aus seiner prahlerischen Sicherheit wegriß.

War die Pest das Verderben Hellem's, oder war sie seine Freundin, die ihn nur so zart, als sie es mit ihren scharfen Krallen vermochte, in die Arme genommen, um über ihm zu wachen und ihn zweimal zu erretten, wo keine andere Hand ihn mehr zu schützen im Stande war, als die ihre?

»Nehmt das Weibsbild mit fort und bringt sie ins Pesthaus,« gebot die Schlange mit einer dominirend an dem jungen, rathlosen Arzte vorübergeführten Zirkelbewegung; aber mitten in dem Kreise stockte sie und fiel wie ein senkrechter Durchmesser aus der Peripherie und aus der starren Hand, welche sie zum letzten Mal gehoben, bis auf den Boden, an dem sie klirrend zerbrach. Und ihr nach fiel mit rollend verdrehten Augen der große Jünger des Aesculap, Dominus Atrostipes, nomine Schwarzstock, und war todt, noch ehe der aus aqua mille florum in Goldtiegeln gebraute Theriak, der aus der zerbrochenen Büchse hervorquoll, sein plötzlich schwarzblau entstelltes Gesicht überströmte.

Sie war hurtig, die alte Freundin, die Pest, wo sie dem Tod wehrte und wo sie ihn brachte. Bevor die Schlange ihren Kreis vollendet, erging sich der lange Schatten des Dominus Atrostipes in belehrendem Gespräch mit dem dicken des Dominus Salarius, nomine Salzmann, in den elysischen Gefilden auf der heilsamen Kräuterwiese des Sohnes der Maja.

Die Menge brüllte auf und wich entsetzt vor dem fallenden Körper zurück. Sie stieß und drängte sich durch die enge Thür, um das unheilvolle Gemach zu räumen; der junge Arzt war der Einzige, der die Besinnung nicht verlor und den panischen Schrecken, der sich hier, wie bei jedem unerwartet plötzlichen Todesfall, der Umgebung wieder bemeisterte, mit klugem Vorbedacht steigerte und für seine Schutzbefohlenen benutzte.

»Seht Ihr, wie sein nutzloser Theriak ihn getäuscht,« rief er, – »so täuschten ihn auch seine Augen, welche die Pest schon umnebelte, daß sein Blick sich irrte –« Er schob mit den Händen die Letzten, die noch im Zimmer weilten, und bei dem Worte »Pest!« als ob sie es noch nie vernommen, besinnungslos fortstürzten, auf den äußeren Gang hinaus, schlug die Thür zu und stieß von Innen einen Riegel vor. Dann sprang er ans Fenster, ergriff ein im Winkel lehnendes eisernes Werkzeug und führte einen kraftvollen Hieb wider das Gitter, daß die Eisenstangen aus dem morschen Holz brachen und krachend nach Außen in den dunklen Hofraum hinabstürzten. »Jetzt bringt der vermoderte Plunder Nutzen,« murmelte er und horchte. Draußen an der Thür begannen wieder Fäuste zu rütteln und schrieen um Einlaß. Man unterschied die kreischende Stimme des Wärters, der antrieb und rief:

»Ihr seid Hasenfüße, brecht die Thür auf und schlagt das Judengesindel todt, – sie können nicht fort, das Fenster ist vergittert!«

»Holt Werkzeuge,« schrie es, »die Thür ist fest, sie haben sie verriegelt –«

»Flieht!« flüsterte der Arzt, sich zu den Bedrohten, die wie betäubt aneinander gedrängt standen, umwendend, »es ist Alles bereit. Wendet Euch im Hofe links, den Gang hinunter, der in die Querstraße mündet, und eilt, daß Ihr ins Ghetto kommt, so seid Ihr gerettet.«

Er schob die Zitternden durch die Fensteröffnung in die Finsterniß hinaus; erst den halbbekleideten Hellem, dem Isaschar folgte, dann Tharah, die leichter als die Uebrigen die Höhe erkletterte. Sie zauderte einen Augenblick, ehe sie auf der anderen Seite hinuntersprang.

»Und Ihr; Herr?« fragte sie besorgt, den Kopf in das muthige Antlitz des jungen Arztes wendend.

»Eilt Euch, Jungfrau;« versetzte er, »ich bleibe, damit Ihr fliehen könnt und ich die Menge aufhalte.«

Die Thür begann unter den Streichen herbeigeschaffter Werkzeuge zu krachen, doch Tharah hielt unbeweglich inne. Sie hatte die Hand auf den Bord des Fensters zurückgestützt, – »und Ihr?« wiederholte sie schmerzlich, »Ihr, der uns gerettet?«

Der junge Mann bückte sich hastig auf die weiße Hand nieder und küßte sie. »Ich bin reich belohnt, auch wenn es mein Leben kostete,« stammelte er; »sagt Thubal, wenn Ihr ihn wiederseht, er hätte nicht umsonst mit mir gesprochen, Jungfrau, und auch ein Christ könne an seinem Volke handeln, wie er an dem meinen –«

Seine Stimme klang tief bewegt, ein gewaltiger Stoß hinter ihm machte die Thür schwanken. – »Eilt Euch,« stieß er aus, die Augen sehnsüchtig in das schöne, ihm noch immer zögernd hingewandte Antlitz des Mädchens tauchend, und mit hastiger Bewegung bog Tharah die Lippen zu ihm hinüber und küßte seinen Mund und verschwand in der Nacht. Eine süße Betäubung umwogte ihn; er blieb auf dem Fleck stehen und sah ihr nach; hinter ihm krachte die Thür in Stücke und die wüthende Menge, mit dem Wärter an der Spitze, stürzte über die Trümmer herein.

»Wo sind sie?« brüllte die Menge, »schlagt sie todt, sucht sie, sie haben sich versteckt.«

»Sie haben das Fenster erbrochen,« kreischte der Wärter, dessen Augen lauernd umherflogen, »er hat sie gerettet, er hat den Juden geholfen, welche die Stadt vergiften, – lauft ihnen nach!«

Er eilte auf das Fenster zu, um die Flüchtigen auf den ihm bekannten Wegen zu verfolgen, doch der Arzt schleuderte die winzige Figur kräftig am Arm zurück. Er deckte die Fensteröffnung mit seinem Körper und seine Augen wandten sich furchtlos mit verächtlichem Zorn der Menge entgegen.

»Ich habe Eure Hände rein erhalten von dem schlimmsten Verbrechen, das ein Mensch wider den Menschen begehen kann,« antwortete er feierlich; »ist der Zorn Gottes, der Euch die Pest gesandt, nicht hell genug, daß Ihr den Frevel erkennt, den Ihr an dem unglücklichen Volk, das Ihr anschuldigt, begangen?«

»Ihr könnt sie noch erreichen, schlagt den Verräther nieder,« schrie der Wärter, sich, von dem Fall gelähmt, aufraffend, und die Fäuste der Menge streckten sich tobend nach dem schützenden Leib des Arztes aus. Er stieß sie zurück, vor seinen Augen stand das Antlitz der schönen Tharah, für die seine Hände mit der Kraft der Verzweiflung rangen, er fühlte den Kuß ihrer weichen, traurigen Lippen auf den seinen, jede Secunde, die seine Stärke aushielt, konnte sie retten, und er kämpfte mit dem Muth der plötzlichen, heißen, hoffnungslosen, entsagungsvollen Liebe, die über ihn gekommen, – da brach ein Blutstrom aus seiner breiten, edlen Stirn, eine eiserne Stange, die aus dem Getümmel hervorgeschleudert worden, traf zerschmetternd sein Haupt und er stürzte leblos auf die Leiche des Charlatans nieder, der, von den Füßen der Angreifer zertreten, unbeachtet am Boden lag.

Ueber ihn hin wüthete der fanatische, durch den frischen Blutgeruch noch mehr entmenschte Pöbel. Jeder rang, um zuerst die Fensteröffnung zu gewinnen, und hinderte das Vorwärtskommen des Anderen, daß noch eine Zeit verstrich, ehe die Vordersten in den dunklen Hofraum mehr hinabgeworfen wurden als niedersprangen. Dort rafften sie sich auf und irrten, des Auswegs unkundig, in der Finsterniß umher, bis sie den von dem Todten den Flüchtigen gedeuteten Gang fanden und brüllend durch ihn in die Querstraße hinausstürzten. Doch hier war Alles still und tonlos; farblos brach aus den Wolken der beginnende Tag, aber es fiel noch kaum ein Schimmer in die engen, sich vielfach kreuzenden Gassen hinunter. Die Menge sah ein, daß eine Verfolgung unmöglich war, wenn ihre Opfer die Straße vor ihnen erreicht, und kehrte um, den Hofraum und das Gebäude, in dem sie sich verborgen halten konnten, zu durchsuchen.

Vergebens indeß durchstöberten sie das Spital vom Boden bis in das Kellergeschoß hinunter. Mit gierig umherlauernden Augen folgte ihnen der Wärter, bis sie ermüdet abstanden, dann verließ er ebenfalls das Krankenhaus.

»Eine schöne Judendirne,« murmelte er zwischen den häßlichen Lippen, »eine schöner, wie die andre,« und er schlug in der grauen Morgendämmerung hastig den Weg nach dem Rathsgebäude der hilligen Stadt Cölln ein.

 

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