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Fünftes Capitel.

In Gedanken versunken stieg die schöne Tharah wieder die Treppe hinan und trat in das erste Gemach. In ihrem Ohre summten die räthselhaften Worte Thubal's nach und sie fragte sich, was er mit der Krankheit gemeint habe, die schlimmer sei als die Pest, und die sie treffen könne, wenn sie hinausginge in die Christenstadt. Nachdenklich blickte sie in die prasselnden Flammen des Kamins, die mit langen Zungen in den Rauchfang hinaufleckten. Dichte Rauchmassen ballten sich über ihnen und brachen aUs ihrer Mitte, bald in dieser, bald in jener phantastischen Gestalt, dann sprühten knisternde Funken hindurch und die brennenden Scheite fielen wie umsinkende, verkohlte Figuren zusammen, während die Gluth, weiter um sich greifend, andere erfaßte und blitzschnell an ihnen entlang lief.

Die Fenster waren geöffnet und aus der schräg gegenüber liegenden Synagoge scholl der einförmige Gesang und vermischte sich mit den Gedanken des Mädchens. Sie wußte nicht weshalb, der Gesang der drei Männer im feurigen Ofen, die der Feldherr der Assyrer verbrennen ließ, weil sie sich nicht abwenden wollten von ihrem Volk und ihrem Gott, kam ihr plötzlich ins Gedächtniß. Von den Flammen geblendet, sah sie auf und in die Richtung, aus welcher die klagenden Töne erklangen, aber vor ihrem Auge sprühte die lodernde Gluth fort und ihr war, als tauche die runde Kuppel des Tempels aus einem Feuermeer und neige sich und stürze zusammen – –

Und aus der Mitte der Lohe tönte der Gesang fort: »Gelobet seist du, Herr, Gott unserer Väter, gelobet seist du in deinem heiligen Tempel, gelobet seist du in der Veste des Himmels, ihr Priester des Herrn lobet den Herrn, ihr Geister und Seelen der Gerechten preiset und rühmet ihn ewiglich!«

Einen Augenblick ward es still; dann begannen langgedehnte Posaunentöne und hallten wie Klageruf durch die Luft, aber Harfen und Geigen mischten sich fröhlich dazwischen, kunstvolle Hände schlugen die Laute und hellklingendes Saitenspiel jubelte darein.

Es überschauerte die schöne Tharah. Aus den Tönen stieg seltsam das Gebot Thubal's ben Abia vor ihr auf, an das verhüllte Gemälde hinanzutreten, und sie that es und faßte zitternd die seidene Schnur mit den weißen Fingern.

Lange stand sie vor dem enthüllten Bild und starrte darauf, bis drunten die Menge die Synagoge verließ und ihre Häuser aufsuchte, bis hinter ihr das Feuer in Asche fiel und vor ihren Augen ein Nebel sich um die zerberstenden Tempel Zions legte und ihr angstvoll pochendes Herz stiller und kälter wurde und eisig erstarrte, – dann wandte sie das Haupt und sah in das schreckenbleiche Gesicht der alten Lea, die herzugetreten und über ihre Schulter die furchtsamen Augen auf den Untergang der hilligen Stadt und ihrer entsetzensvoll ähnlichen Bewohner gerichtet hielt.

»Zieh darüber den Vorhang, Tharah,« stöhnte sie, »wir hätten nicht sehen sollen das fürchterliche Bild, Tochter, das uns verboten, wie der Herr Eva verboten hatte zu essen von dem Apfel, der sie austrieb aus dem Paradies. Ich habe verloren die Ruhe des Herzens, Tharah, seit ich gesehen diese Gesichter des Entsetzens.«

Sie hatte mit zitternden Fingern die Schnur gefaßt, um sie wieder zu befestigen, aber die Tochter wehrte ihr und entzog sie mit ruhiger Sicherheit der alten Hand.

»Nein, Mutter,« versetzte sie ernst, »laß uns fortnehmen die Hülle, die nicht über dem Gemälde, die über unseren Augen liegt, und laß uns ansehen und wieder ansehen das Bild der Erkenntniß, daß wir unterscheiden, was gut und böse ist in der Welt, daß wir bereit sind, wenn die Stimme des Herrn ruft, fortzugehen aus dem Paradies, denn Thubal hat gesagt, es ist an der Zeit, – und ich habe sie singen gehört drüben, wie die Männer aus dem Stamm Manasse vor dem Könige Nebucadnezar, und weiß, es ist an der Zeit.«

Sie erfaßte den seidenen Vorhang, riß ihn entschlossen herab und warf ihn zu Boden; dann wandte sie sich mit festem Schritt und ging schweigsam in ihre Kammer.

Mit auffälliger Geschwindigkeit, wie nur die in ihren Wirkungen extreme Erscheinung des schwarzen Todes sie bot, erholte sich der alte Caleb aus dem bewußtlosen Zustand, in welchen die Pest ihn versetzt. Wie die Laune eines gierigen Raubthiers wechselte ihr Grimm. Sie kam gleich dem Blitz und packte ihr ahnungsloses Opfer und tödtete es mit einem Schlage der unfehlbaren Tatze; sie spielte mit ihrer Beute und zermarterte sie mit langsamen Bissen; als ob sie gesättigt sei, ließ sie den Betroffenen plötzlich wieder fahren, daß er sich taumelnd erhob, betäubt auf die Stunden zurücksah, in denen die Besinnung ihn verlassen, und von neuer wundersamer Kraft durchströmt lebensstark dahinschritt. Unberechenbar war sie; sie verschonte den siechen Körper und ergriff den gesunden; am natürlichen Rand des Grabes riß sie das Alter zurück und beendete mit heimtückischer Vorliebe das Leben Ungeborener, bevor es begonnen, mit dem der Mutter. Aber im Durchschnitt erlahmte ihre Kraft eher in den Quartieren der Juden, als in denen der abendländischen Bewohner. Zähe Ausdauer mochte bei jenen den Körper mehr gestärkt haben; sie waren nüchterner, enthaltsamer und ihre Aerzte begabter, welche die Ursachen der gewaltigen Verheerung nicht in astrologischem Unsinn, sondern in nahe liegenden Anlässen des täglichen Lebens suchten. Nach ihren Vorschriften vermieden sie den Gebrauch der Brunnen und des Quellwassers, in dem jene den Giftstoff der Pest vermutheten, und schöpften aus den Flüssen; sie erhöhten die gewohnte Reinlichkeit ihrer Umgebung, daß der Gegensatz zwischen dem Ghetto und den schmutzstarrenden Gassen der Christen noch schärfer hervortrat; Manche, die von der Krankheit schon befallen, wurden durch Anwendung wirklicher Heilmittel gerettet, während jene den sinnlosen Medicamenten prahlerischer Charlatane oder der noch gefährlicheren Aderlaß-Blutgier unwissender Mönche zum Opfer fielen.

Doch eben dies, was zu ihrem Heil hätte ausfallen sollen, gereichte ihnen zu um so gewisserem Verderben und erzeugte das Unheil. Jede Seuche, die mörderisch über ein Land hereinbricht, dessen Bevölkerung sich auf einer niedrigen Entwickelungsstufe des Gemeinverstandes befindet, erweckt in derselben den Argwohn einer beabsichtigten Vergiftung, und blind die unbewiesene Thatsache als unzweifelhaft betrachtend, sucht sie racheglühend nach den muthmaßlichen Thätern. Es ist unmöglich, ihre Kurzsichtigkeit aufzuklären, ihrer Wuth Einhalt zu thun. Indem sie zugleich vor tellurischen und kosmischen Erscheinungen zittert, von denen sie abergläubisch den Einbruch eines unerhörten Unheils befürchtet, das sie als eine Strafe des göttlichen Zornes betrachtet, hält sie dennoch, ohne den Widerspruch zu beachten, an der Einmischung menschlicher Hände fest, die sie folgerecht als die Vollstrecker des göttlichen Urtheils ansehen mußte.

Doch eine zwiefache Natur beherrscht das ungebildete Denken des Mittelalters. Religiöser Fanatismus, der die Güter der Erde von sich wirft und verachtet, besteht neben dem ergrimmtesten Haß gegen diejenigen, welche durch ausdauernden Fleiß und Sparsamkeit sich jene Güter aneignen und vermehren. So richtete sich von zweien Seiten im alltäglichen Leben die Erbitterung wider die Juden. Gegen die Fremdlinge mit ihren schönen Weibern und ihrer stummen, verdachteinflößenden Duldsamkeit; die einem andern Gotte dienten, auf die pfäffischer Geifer immer aufs Neue den untilgbaren Makel heftete, daß ihre Vorfahren den Heiland der Christen ans Kreuz geschlagen, ohne zu beachten, daß dieser selbst ein Jude gewesen, und ihr Glaube grade in seinem Tode und nur durch seinen Tod die wirksamste Stütze fand. Gegen die Andersgearteten richtete sich der Haß, die aus ihrer zerstörten Heimath in die Fremde zerstreut worden und denen man aus Habgier den Aufenthalt in Europa verstattet; deren Tugenden man, da man sie nicht hinwegzuleugnen vermochte, in Laster verkehrte; bei deren Anblick ein dunkles, unbestimmtes Gefühl des ihnen zugefügten Unrechts, der Bedrückung, den Grimm des rohen Volkes noch mehr aufstachelte, da es sie an die bittere Sehnsucht nach Vergeltung mahnte, die jene im Herzen tragen mußten, wenn dies Herz eben so fanatisirt und grausam verwildert war, wie das ihrer Peiniger.

Und in diesen Zündstoff wüst durcheinander gemengter Vorstellungen und Empfindungen fiel der schwarze Tod. – –

Er kam mit allen seinen Schrecken, wie die Geschichte sich ihrer nicht entsann. Er entvölkerte Städte und Länder, er riß die Menschheit, aus deren Mitte Gedanken einer neuen Zeit aufzublühen begannen, um Jahrhunderte zurück, lähmte den Aufschwung des Handels, des Gewerbes, ertödtete alle feineren Gefühle, alle Triebe, die den Menschen von dem Thier, dem er in barbarischen Zeitaltern der Vergangenheit ähnlich gewesen, zu unterscheiden angefangen. Und dies unglaubliche, bittere, unerbittliche Verderben, das seine Hand aus der Hütte bis an den Palast, bis an die Krone reckte, verschonte das elende, ausgestoßene Pariavolk in ihrer Mitte, in dessen Brust die Rache wohnen mußte, – oder schien es mit gemilderter Furchtbarkeit zu treffen.

Denn das erschien gleich. Eine Stimme aus der erregten Menge rief: »Die Juden bleiben von der Pest verschont,« und vom Ocean bis an die Karpathen gellte die Antwort zurück: »Die Juden haben die Pest erzeugt, um sich an der Christenheit zu rächen, – tödtet die Juden!«

Es war die Angst des Gewissens, die in stürmischer Aufwallung das Herz Europas durchbebte.

Und nun waren die Brunnen von Juden vergiftet, die Luft von Juden verpestet. Der Gedanke flog wie unsichtbarer Samen über alle Länder, die Pest brachte ihn mit sich, wohin sie kam. Die Habsucht nach dem Golde der Fremden, die Leidenschaft nach ihren Weibern sprach sie aus, und die Rachsucht des Volkes, rastlos von der Geistlichkeit geschürt, begann zu toben. Vergebens redeten die Verständigen und suchten die unseligen Opfer der Verleumdung zu schützen. Die mächtigsten Fürsten streckten umsonst ihre schirmende Hand aus; die Bauern auf dem Lande brachen auf und schlossen sich den wachsenden Zügen der Geißler und Brüderschaften an, und zogen von Ort zu Ort, die Massen entflammend und anreizend. Sie erbrachen die Thore der Städte, welche sich ihnen nicht öffnen wollten, jede Herrschaft hatte ihre Zügel verloren, der unkundige Pöbel hielt Blutgericht und verdammte jeden Beschuldigten, wo er seiner habhaft ward, zum Strange, zum Scheiterhaufen, zum lebendigen Grab. Und wo von der Gewißheit des letzten furchtbaren Schicksals die rechtlos Verfolgten, von Verzweiflung übermannt, sich zur Wehr setzten, ihre Häuser verrammelten und den Tod, den unvermeidlichen, hinauszuschieben suchten, da warfen die Blinden, ihrer selbst und ihrer Habe nicht achtend, die Brandfackel in die eigene Stadt und jauchzten, wenn das Flammenmeer aufloderte und Tausende in sich verschlang, daß es die Luft von der Pest reinigte, von den Juden, und über die wogende Gluth sprach der Bischof den Segen des Christengottes.

Und heimlich durch die Finsterniß der Gemüther und durch die Nacht schlich in lauernder Gestalt die Arglist und die Bosheit und die Gier; teuflisch lachend kroch sie in der Dunkelheit, von Keinem gesehen, an die Brunnen, an die Häuser und Thüren; sie verbarg sich, wenn der Tag und die Menge kam, und sonderbare, geheimnißvolle Flecken zeigten sich an den Stellen, die ihre Hand berührt, und der Pöbel brüllte und stürzte wuthschnaubend wider das Ghetto.

 

*

 

Es dunkelte früh zwischen den hochstöckigen Gebäuden der engen Judengasse und das Dämmerlicht lag schon über dem Schlafgemach, als der alte Caleb nach tiefer Ruhe erwachte. Er fühlte sich kräftig und gesund und wollte aufstehen, doch Lea, die an seinem Bette saß, hielt ihn zurück. Mit klarem Verstande hörte er auf ihre Worte. Die Betäubung, schnell wie sie gekommen, war von seinen Sinnen abgefallen, nur das Gedächtniß des letzten Tages schien in ihm ausgelöscht, und die Ereignisse tauchten ihm erst aus der Erzählung seines Weibes wieder undeutlich hervor. Allmälig zerfloß die Angst, die bisher in Lea's Gesicht gelegen, bei der eifrigen Mittheilung des Geschehenen; Tharah kam herbei und hörte schweigsam, nur hier und dort ein bedeutungsvolles Wort einschaltend, zu. Die Alte berichtete haarklein jeden Vorfall, jede Aeußerung des Arztes; als sie von dem Bilde sprach, das sie auf sein Geheiß betrachtet, runzelte Caleb die Stirn und seufzte auf.

»Hat Thubal es Euch geheißen?« murmelte er; »es ist gut, daß Ihr es gesehen, aber es ist schlimm, daß er es gethan. Was hat er mehr gesagt, der weise Sohn des Abia?«

Tharah nahm das Wort statt der Mutter und wiederholte den Rath, den der Arzt beim Abschied mit ernster Miene ertheilt. Der alte Caleb richtete den Oberkörper auf und blickte ihr geheimnißvoll nickend ins Gesicht.

»Ja, er ist gekommen vor fünfundzwanzig Jahren allein aus Mainz, als die schwarzen Blattern waren droben am Rhein,« sprach er den letzten Satz der Tochter monoton nach. »Er ist gekommen ganz allein –« die Augen des Alten sahen an den beiden Frauen vorbei in eine weite Ferne hinüber – »ich saß bei der Abendmahlzeit mit Lea, der Tochter Hagar's, und war ein junger Mann noch, da er ist hereingekommen ganz allein und hat den Stab aus der Hand gelegt, und sich zu uns gesetzt an den Tisch. Und er hat viel gegessen, denn er war hungrig, und als ich ihn gefragt, wo Mächa wäre, sein Weib und seine Kinder, hat er genommen ein Licht vom Tisch und hat es ausgeblasen mit seinem Munde und ist fortgegangen aus meinem Hause.«

Der Alte wiegte, träumerisch in Erinnerung versunken, den grauen Kopf. »Es war ein schönes Weib, die Mächa, die Tochter der schönen Abital, die Haare hatte um die Stirn, wie das ungemünzte Gold, das sie in Kisten mitbrachte aus dem Hause ihrer reichen Eltern in Amsterdam,«, fuhr er vor sich hinsprechend fort, »und schöne Kinder hatten sie miteinander, und es schadeten ihnen nicht die schwarzen Blattern, denn der Sohn des Abia war weiser, als die böse Krankheit, mit seiner Jugend. Aber er kam doch allein aus Mainz und sein Haar war geworden eisgrau, als er sich zu uns setzte an den Tisch.«

Die Frauen schwiegen, auch der Alte verstummte und nickte bedeutungsvoll mit der Stirn. Plötzlich sprang er eilig von dem Lager auf:

»Es ist gegangen das Viertel von einem Jahrhundert über die Erde,« sagte er gelassen; »was hat gesprochen der einsame Thubal? Hat er gesprochen, es sei Zeit?«

Tharah hatte schweigsam zugehört, jetzt antwortete sie. Ihr Wesen schien seit dem Morgen verändert, die sorglose Anmuth war daraus verschwunden, ihr schöner Leib hatte mehr Festigkeit und entschlossenere Haltung, als früher. Sie sagte:

»Laß uns der Mägde eine hinaussenden in die Stadt und umhorchen, oder ich selbst will gehen und nach Hellem sehen, daß wir ihn mit uns nehmen, Vater.«

»Thubal ist bei ihm und wird Sorge tragen für ihn,« entgegnete Caleb.

»Wer weiß, wann Thubal wird zurückkommen,« fiel Tharah rasch ein, »und er hat gesagt, daß es Zeit sei –«

Aber der Alte hob die Hand und unterbrach sie. »Als der Herr Sodom vertilgen wollte, da sandte er einen Engel zu Lot, dem Sohne Haran's, daß er ihn in sein Haus aufnahm und ihm ein Mahl richtete und backte ungesäuerte Kuchen, und aber, da er den Elia, seinen Knecht, wollte retten vor dem Schwerte der Jesabel, sandte er zum andernmal seinen Engel und hieß ihn fliehen zum Berge Horeb – und wenn es sein wird an der Zeit, wird er auch uns senden seinen Boten in Menschengestalt und wird uns heißen zu gehen.«

Tharah erwiederte nichts. Es lag etwas Unerschütterliches in dem strenggläubigen Wesen des Vaters, das an den Thaten der Vorzeit haftete, und an ihrem Beispiel als unabänderlicher Vorschrift für die späten Nachkommen festhielt, daß jedes mahnende Wort vergeblich erschien. Der Alte stand ruhig auf, ließ sich von seiner Frau ankleiden in festliches Gewand und ging auf seinen Stab gestützt mit langsamen Schritten hinab und über die Gasse in die Synagoge, um ein Dankopfer für seine Genesung darzubringen.

Doch über Tharah's Herz war die Unruhe gekommen, daß sie nirgends Rast fand. Sie stieg angstvoll mit der Dunkelheit, die tiefer hereinbrach, und das Mädchen durchwanderte das Haus, in alle Winkel, in alle Stuben hinein. Sie kam in die Küche, wo die Mägde plaudernd standen und die Neuigkeiten austauschten, die sie bei den Nachbarn und auf der Gasse vernommen. Sie erzählten von der Pest, welche das Haus des Zadok befallen, daß es ausgestorben, und von der schönen Debora, die im Sterben gelegen, als Baruch, ihr Verlobter, gekommen und sich über ihr Lager geworfen und sein Haar zerrauft. Und wie er die Pest von ihr bekommen und gestorben sei, da sie genesen und wahnsinnig geworden. Und wie das Weib des Machir umgefallen sei in der Synagoge, und der Christenrath in der Stadt habe ein Gebot erlassen, daß die Leichen sofort, auch in der Nacht, sollten herausgeschafft und vors Thor gebracht werden, wo sie zusammen hineingeworfen würden in die Erde.

Die schöne Tharah hörte, was die Mägde sprachen, und sah die entsetzten Mienen, mit denen sie die Worte begleiteten, aber die Pest hatte ihren Schrecken für sie verloren und ihr Herz war fest und furchtlos, nur die Unruhe wollte nicht in ihr rasten. Sie trat ans Fenster und blickte zu dem schmalen Himmelsstreifen auf, der über der Judengasse lag. Ein Stern kämpfte mit Wolken, die sich über ihn drängten und zerrissen, es war Nacht, nichts regte sich im Hause, nur aus dem Nebenzimmer tönte leise ein monoton gesungenes Gebet der alten Lea, und drunten auf der Straße kamen schwere, gleichmäßige Tritte durch die Judengasse herauf und zogen vorüber und verhallten in der Ferne. Tharah bückte sich aus dem Fenster und blickte hinunter, doch sie gewahrte nichts in der tiefen Dunkelheit; aus der Synagoge allein fiel ein schwacher Schimmer und warf ungewisses Licht auf die männlichen Gestalten, die mit einem schwarzverhüllten Gegenstand zwischen sich vorüber auf das Ghettothor zueilten. Der Vater war fort und die Unruhe ergriff sie immer mehr. Sie wußte, er kam nicht zurück, bevor er den langen Ritus vollendet, und sah ihn auf den Knien liegen, ehrwürdig mit dem weißen Bart und den ausgestreckten Händen, – dann drängte sich plötzlich ein anderes Bild mit dem bleichen Antlitz Hellem's dazwischen, der in einer feuchten Grube unter qualvoll entstellten Gesichtern verschüttet lag und gleichfalls die Arme nach ihr ausstreckte – –

Es trieb sie vom Fenster und wieder durch das Haus auf und ab, und sie murmelte gedankenlos ein Wort nach, das sie von den Mägden gehört: »Auch bei Nacht,« und horchte wieder in die Finsterniß hinaus, und Grausen lief ihr über den Leib und machte sie zittern.

Sie sah noch einmal zu dem Stern hinaus, der gerade aus den Wolken hervortrat, und wandte sich entschlossen um. Sie war sonst hastig durch das dunkle Haus gegangen, jetzt tastete sie vorsichtig an der Thür und stieg geräuschlos die Treppe hinunter. Drunten auf dem Flur, der durch das aus der Küche fallende Licht erhellt war, nahm sie den Augenblick wahr, in dem die plaudernden Mägde sich abgewandt, und schlüpfte hurtig wie ein Schatten in ihrer dunklen Gewandung hinüber; dann erreichte sie die stille Gasse und eilte der Richtung, in der das Thor lag, zu.

Es war schon spät, doch aus allen Häusern fiel noch ein matter Schein. Hie und da unterbrach ein verwimmerndes Geschrei die Ruhe. Tharah ging schnell, in wenig Minuten erreichte sie das Ende des Judenquartiers. Das Thor lag schweigsam vor ihr; nur aus dem Häuschen des Wächters schimmerte ein Licht und sie schritt eilig darauf zu. Sie glaubte, das Gitter sei geöffnet; »auch bei Nacht,« murmelte sie freudig; doch wie sie hinantrat, war es fest verschlossen und unbeweglich wie immer. So hatte vierundzwanzig Stunden zuvor der, den sie suchte, vor dem Thor gestanden und mit krampfhaften Fingern daran gerüttelt, und die Angst der Verzweiflung stieg ihr zu Haupt wie ihm. Sie wußte, daß es unmöglich war, vor Sonnenaufgang Austritt zu erlangen, sie kannte den alten Marchaboth, dem die Aufsicht anvertraut war, und seine zähe, jüdische Unbeugsamkeit in Ausübung seiner Pflicht. Doch zugleich gedachte sie, daß ihr Bruder hindurchgekommen war, hindurchgekommen, um von ihr das Verderben zu wenden, und sie fühlte, daß sie Kraft und Muth besitze, wie er, um ihn zu retten. Er mußte das Thor erklettert, die zackigen Gitterspitzen überstiegen haben, und sie hob sich an den Eisenstäben empor. Die Haut an ihren zarten Fingern zerschnitt, es kümmerte sie nicht, und sie umklammerte gewandt das kalte Metall und zog den biegsamen Körper nach. Doch ihre langen Kleider hinderten sie; endlich erlahmte ihre Kraft und sie fiel auf den Boden zurück. Ermattet starrte sie auf das Thor, das zwischen ihr und ihrer Hoffnung, der Todesangst ihres Herzens, lag, da kamen die gleichmäßigen Fußtritte wieder durch die Judengasse herauf, die sie vorhin aus ihrem Fenster vernommen. Plötzlich schoß es ihr durch den Kopf, »auch in der Nacht«, sagte sie, »doch nicht die Lebendigen, nur die Todten kommen hindurch.«

Mit hastigem Entschluß verbarg sie sich in dem Schatten des massiven, steinernen Thorpfeilers. Die Schritte kamen näher, die Träger setzten ihre Last ab und einer von ihnen pochte an die Thür des Wächters. Der alte Marchaboth kam mit dem klirrenden Schlüsselbunde und der Laterne hervor und trat an die Bahre.

»Wen bringt ihr fort?« fragte er. Seine Stimme klang müd' und gleichgültig, von der Häufigkeit dieser Frage abgestumpft:

»Es ist Abigail, das Weib des Jether,« antwortete der Träger, »sie ist gestorben mit dem Kinde unter dem Herzen, da die weise Frau zu ihr kam, um ihr zu helfen in ihrer Stunde.«

Der Wächter schlug das Bahrtuch zurück und beleuchtete das regungslose Gesicht der todten Mutter. »Es ist gut, daß das Kind ist gestorben mit ihr,« sagte er, düster sich gegen das Thor wendend; »es ist die siebenundvierzigste Leiche, welche ich heute –«

Doch ein Schrei unterbrach ihn und ein weiblicher Körper rollte zu seinen Füßen. Er bückte sich nieder und betastete den Leib, der ohne Bewegung vor ihm am Boden lag, dann leuchtete er hinab.

»Es ist die Tochter des alten Caleb, die schöne Tharah,« murmelte er. »Sie ist geflohen aus ihrem reichen Hause in der Todesangst auf die Gasse und hat sich verborgen in der Finsterniß, aber es hat sie gesehen das Auge der Pest und sie ist todt. Nehmt sie mit –«

»Ihr Körper ist noch warm,« sagte der Träger, der das Mädchen aufhob und zu der Leiche der Mutter auf die breite Bahre legte, »und er zuckt noch, als ob er lebte –«

»Es ist die achtundvierzigste Leiche, welcher ich heute offen mache das Thor,« setzte Marchaboth monoton hinzu, »und es ist keine wiedergekommen, aber ihr werdet mir noch manche bringen, eh' daß die Sonne wiederkommt.«

Und das Gitter klirrte und öffnete sich vor den hindurchschreitenden Trägern und schloß sich kreischend hinter ihnen zu.

Besinnungslos lag die schöne Tharah auf der Bahre. Sie hatte Abigail gekannt, das Weib des Jether, und an ihrem Bette gesessen am Tage zuvor und gehört, wie sie lachte und von dem Kinde sprach, dessen Anblick sie erharrte. Und die Tochter Caleb's schrie auf, ohne es zu wollen, als sie das todte Weib sah, und ein Schauder durchlief ihre Glieder, als der Träger sie faßte und hinwarf auf den kalten, hoffnungsvollen Leib der Mutter. Eng zusammengedrückt lag sie an der Leiche, deren eisiger Körper den ihren durchfröstelte, und sie war wie betäubt und regte sich nicht; nur ihre Phantasie schweifte irr umher und beschwor furchtbare Gebilde vor ihren Sinnen herauf. Aus allen blickte Hellem's Gesicht und starrte sie an mit leblosem, gläsernem Blick. Allmälig rief die Bewegung der Träger sie wieder zum Bewußtsein und weckte den Gedanken an den Zweck, den sie verfolgte, dessen Beginn sie fast instinctiv und besinnungslos ausgeführt.

»Der Tod ist schwer,« sagte der Vordere von den Trägern, »und der Schweiß fließt mir in die Augen.«

Der Andere bejahte; »und sie hat doch nichts mitnehmen können von dem Gold ihres Vaters,« setzte er hinzu, »es ist das Kind, das nicht hat Leben bekommen, und hat so schwer im Tode gemacht das Herz des Weibes, das nicht Mutter heißen kann in ihrer Sippe und auf ihrem Grabstein.«

Sie ließen die Bahre nieder und rasteten.

»Sie wird nicht haben einen Grabstein mit ihrem Kinde,« entgegnete der Erstere, »sie wird mit den Anderen geworfen werden in die Grube –«

Er brach ab, denn ihm war, als habe sich etwas auf der Bahre, von der sie zurückgetreten, bewegt. Auf der Gasse war es todtenfinster. Die Häuser, neben denen sie standen, lagen in schweigsamem Dunkel. Er horchte einen Augenblick, doch das Geräusch war wieder verstummt, nur ein leiser Fußtritt glitt auf der anderen Seite der Straße entlang.

»Wir müssen eilen,« mahnte sein Gefährte, und sie hoben ihre Last wieder auf. »Mich dünkt, die Bahre ist leichter geworden,« fügte er bei, »haben wir Eine verloren?«

»Dann können die Christen sie mitnehmen, wenn sie morgen früh ihre Leichen vor den Thüren zusammenkehren,« erwiederte der Andere mit gedämpfter Stimme, »todt ist todt, ob ein Kadosch darüber gesungen, oder Weihwasser gesprengt; und wer findet bei der Nacht?«

Sie verdoppelten ihre Schnelligkeit und wanderten hallenden Schrittes die Straße hinunter.

Doch diejenige, die sie todt und verloren glaubten, war ihnen weit voraufgeeilt und flog noch geschwinder als sie durch die Gassen. Die unheimliche Ruhe auf der Bahre hatte ihre Aufregung vermehrt; der grausige Gedanke des Todes, der nie an ihr junges Leben hinangetreten, den sie plötzlich in den warmen Gliedern empfunden, verfolgte sie und beflügelte ihre Schritte. Sie wußte den Weg zum Spital der Christen nicht genau und irrte in der Finsterniß rathlos aus einer Gasse in die andre. Dann hörte sie Stimmen hinter sich im Dunkel und bog rasch um eine Ecke. Geblendet fuhr sie vor den Lichtstrahlen zurück, die plötzlich aus der tiefen Nacht in ihr Auge trafen; sie wollte umwenden, doch auch hinter ihr ertönten die Schritte näher und sie drückte sich in den Schatten einer Vertiefung des Gemäuers, um die herannahenden Nachtwandler vorüber ziehen zu lassen.

Es war ein phantastisches Bild, das sich auf sie zu bewegte und sonderbar grelle Farbentöne durcheinander mischte. Fackelglanz umströmte die bacchantisch ausgelassene Gruppe und warf blutrothe Lichter auf die berauschten Gesichter der jungen Männer, die um einen von gedungenen Trägern mühsam geschleppten Sarg tanzten und trunkene Bewegungen machten. Ein scharfer Weindunst zog ihnen voraus und wogte, fast Uebelkeit erregend, mit ihnen durch die Gasse, die der Zug beinahe in ihrer ganzen Breite einnahm. Als Anführer desselben fungirte ein noch junger Mann mit häßlichen, durch die Trunkenheit noch widerwärtiger entstellten Zügen. Er ging baarhaupt und trug einen Nelkenkranz auf dem fuchsrothen Haar; auch sein Körper war mit starkriechenden Blumen bedeckt und sein langer Raufdegen, den er entblößt in der Rechten hielt, wie ein Thyrsusstab mit Epheu und Weinlaub umwunden. Geschrei und Gelächter erfüllte die Gasse; jeder sang oder brüllte auf eigene Hand vor sich hin und führte ab und zu mit dem Degen einen Streich auf den Sarg, daß es schauerlich, wie dumpfe Accordbegleitung des Todes, aus der Tiefe heraufdröhnte.

Der Anführer drehte sich jetzt um und rief: »Halt!«

»Eine Rede halten, Graf Honfried,« schrie es aus der Masse; – »ja, Re – Re – de halten,« stammelte eine weinselige Stimme hinterdrein.

Der Edelmann reckte die linke Hand aus und faßte den letzten Sprecher am Wamms.

»Ja, Ihr sollt reden, Stotterhans,« lachte er spöttisch, »und ich will die Pest kriegen, wenn der Wein nicht Eure Zunge ebenso leicht, wie Euren Bauch schwer gemacht hat, daß Ihr zehn Meßpriester mit Eurem Gewicht und Eurer Suade aufwiegt.«

»Der Teufel hol's – le – eben und sau – saufen, so lang's geht,« stotterte Hans Stockhard, unter der Hand des Grafen aus der Menge hervortaumelnd, die kreischend Beifall rief. Er schien sich kaum mehr auf den Beinen zu halten und stützte sich gegen den Sarg, auf den er manchmal hinschwankte, doch im nöthigen Augenblick von der Faust Honfried's wieder aufgerissen wurde.

Die Träger wollten ihre Bürde niederlassen, doch der Letztere herrschte sie an und schrie:

»Habt Ihr verfluchten Lohnknechte keine Achtung vor dem Allerheiligsten? Ich will Euch den Rücken mit Blumen geißeln!« Und er hieb ihnen mit der flachen Klinge über die Schultern, daß die Träger schleunig den Sarg wieder auflüfteten und unter der Last keuchend stehn blieben.

»Drauf, Stotterhans, anfangen!« schrie er fort, »hat der Teufel Deine Zunge, Kerl?«

»Anfangen!« brüllte die Menge, und der Aufgeforderte strich sich mit der einen Hand das lang über die Augen hängende Haar zurück, während die andre seinen Körper an dem Sargrand hin und her balancirte, und begann mit lallender Zunge:

»Da liegt Ku – Kunz Eppstein, – er so – soff zu viel Wein –«

»Er soff zu wenig vom Rest,« unterbrach ihn eine Stimme, »und kriegte deshalb die Pest,« und ein schallendes Gelächter lief umher, in das sich der Klang aneinander gestoßener Pokale und Weinkannen mischte.

»Ihr seid ein schlechter Priester, wenn Ihr nicht ausfindig machen könnt, was man für gute Meßgebühr Rühmliches von dem Defuncten sagen kann,« fiel Honfried ein, »da, trinkt, Junker, vielleicht kommt aus der Kanne ein Gedanke in Euer nüchternes Gehirn.«

Er hob ein goldenes Geschirr vom Boden und goß den Inhalt desselben in einen riesigen, aus blinkendem Metall geformten Stiefel, den er dem Patriziersohn bis an den Rand gefüllt an die Lippen nöthigte und festhielt, bis dieser den Wein gurgelnd und hustend hinuntergewürgt hatte.

»Das macht die Kehle geschmeidig,« lachte er, »weiter, Stotterhans!«

Der Junker wischte sich den rothen Wein, der den Rand überflossen und wie Blut von seinem Kinn herabträufelte, aus den Mundwinkeln und fuhr mit noch schwererer Zunge als zuvor fort:

»Da liegt Ku – Kunz Eppstein, – er starb bei – beim Wein, – ka – kann man rüh – rühmlich von ihm sagen, – er starb wie ein Schwein mit vo – vollem Magen, – wir wo – wollen ihn beklagen, – da liegt Ku – Kunz Eppstein –«

»Betrinken wollen wir uns ihm zu Ehren und sein Beispiel nachahmen,« rief Graf Honfried, den Stiefel wieder füllend.

»Da – da liegt Ku – Kunz Epp – Eppstein,« lallte der Stotterhans, mit den Armen um sich greifend.

»Wo liegt Kunz Eppstein, Junker?« schrie der Graf, dem ebenfalls der Wein mehr und mehr betäubend zu Kopf stieg, »ich sehe ihn nicht, Du siehst mit vier Augen.«

Er wollte den Patrizier halten, gab ihm aber statt dessen einen Stoß mit der Faust gegen die Brust, daß jener das Gleichgewicht verlor und mit voller Kraft taumelnd auf den Sarg niederstürzte, der den Händen der Träger entglitt und auf die Erde fallend polternd auseinanderbrach. Und aus ihm, von den Fackeln blutig überstrahlt, rollte der todte Kunz Eppstein aus den Leichentüchern hervor und kollerte mit stieren, geöffneten Augen vor die Füße des Edelmannes.

Eine Secunde wurde das wüste Geschrei still und selbst Graf Honfried's Blick wich ernüchtert vor dem Schreckbild zurück.

»Der Kerl glotzt mich an, als ob ich seine Schwester verführt hätte, und ich habe ihm nur seine Trude weggefischt,« murmelte er. Dann glitt wieder ein hämisches Lachen über seine rauschumdunsteten Züge. »Er ist gestraft dafür, daß er mich heute Morgen unter dem Bürgergesindel im Stich gelassen,« rief er, »packt den Cadaver wieder ein und kommt! Wir wollen trinken!«

Er schritt, sich von dem Anblick des todten Genossen abwendend, vorwärts auf den Hausvorsprung zu, in dessen Schatten die schöne Tharah zaghaft das Vorüberziehen des betrunkenen Leichenconductes erwartete. Sie hatte nicht gewagt, sich zu regen, und sah zugleich die Unmöglichkeit, von der Masse unbemerkt zu bleiben, wenn sie in ihrem Verstecke ausharrte. Aufmerksam spähte sie umher und beobachtete den Vorfall, der sich dicht neben ihr zutrug. Ihr schien die Gelegenheit günstig, die Beschäftigung der Mehrzahl mit dem Sarge zu benutzen, und sie schlüpfte aus der Vertiefung und huschte, dicht an die Mauer gedrängt, wie ein Schatten vorbei.

Doch das Auge des Edelmannes, das sich von der Blendung des Fackellichtes abgewandt hatte, gewahrte sie aus dem Dunkel hervorkommen. Der grausige Blick des todten Kunz Eppstein verfolgte ihn noch und er suchte ihn gewaltsam los zu werden; er sprang instinctiv auf die Davoneilende zu und fragte:

»Wer bist Du? Gehörst Du zu uns? Warum läufst Du? Komm, Du mußt trinken, daß Du nicht die Pest kriegst!«

Er hatte die dunkle Kopfbedeckung des fliehenden Mädchens gefaßt, doch sie riß und blieb in seiner Hand, daß er durch den plötzlichen Ruck einen Moment aus dem Gleichgewicht kam und zurückschwankte. Aber der Augenblick hatte hingereicht, ihm das bleiche, lichtumflossene Antlitz der schönen Tharah und das ebenholzschwarze Haar, das ihr Gesicht überströmte, zu zeigen, und er stieß einen lästerlichen Fluch aus und stürzte der Entsprungenen nach.

»Haltet sie, es ist die schöne Tharah aus der Judengasse!« kreischte er; »hundert Kronen gebe ich dem, der sie mir bringt.«

Allein seine Gefährten waren noch zu sehr mit dem Todten und mit Hans Stockhard beschäftigt, der sich bei seinem Fall in die Leichentücher verwickelt hatte und den eben hinuntergeschütteten Wein wie Blut von sich gab, als daß sie den Ruf des Edelmannes beachteten. Im Gegentheil setzte ihr Durcheinanderdrängen ihm Hindernisse entgegen, so daß, als er sich hindurchgekämpft, das Judenmädchen einen Vorsprung vor ihm gewonnen und mit zurückflatternden Locken schon fast, die Gasse hinabeilend, aus den Fackelstrahlen verschwand.

Ihr Verfolger brüllte wie ein Thier auf und stürzte hinterdrein. Tharah vernahm seinen schweren Fußtritt hinter sich und floh mit der Schnelle der Verzweiflung. Das Fackellicht wurde matter, aber es wollte in der gradlinigen Straße kein Ende nehmen und er kam näher und näher. Sie hörte seine Brust keuchen und lenkte an den Häuserrand ab, der ab und zu durch vorspringende Kanten geschützt im Schatten lag; ihre Hand faßte im Vorübereilen die Metalldrücker der Thüren, doch keine gab nach und ihre Verzweiflung wuchs. Sie wußte, daß sie keine Gnade zu erwarten hatte, daß kein Flehen helfen konnte. Es war die Strafe für das Verbot Thubal's und ihres Vaters, das sie gebrochen, und sie wollte, die Pest hätte sie erreicht und sie läge mit der todten Abigail auf der Bahre und würde in die Grube geworfen, in der sie vielleicht Hellem fand, ihren Bruder, ihren Geliebten –

Hellem, – der Name belebte ihre zum Tod erschöpfte Kraft; ihr war, als verringere seit einer Secunde sich der Zwischenraum zwischen ihr und ihrem Verfolger nicht mehr, und vor ihr lag die schwarze Finsterniß eines erweiterten Platzes, in der sie sich bergen, sich retten konnte. Zur letzten Anstrengung raffte sie sich zusammen und sprang vorwärts wie eine Gazelle, – dann stieß sie einen durchdringenden, bitteren Schrei aus, – ihr Fuß strauchelte heftig über einen weichen Gegenstand im Wege und sie fiel zu Boden, und über sie stürzte Honfried, der sie fast eingeholt hatte, auf die lichtlos dunkle Erde nieder.

Mechanisch hatte Tharah mit der Hand vor sich gegriffen und das Ding, was sie zum Fallen gebracht, erfaßt. Es war ein fast schon erkalteter menschlicher Körper, und wie ihre Finger hastig an dem Gewande entlang glitten, der Körper eines todten Weibes, das von den Angehörigen aus Furcht vor der Ansteckung nächtlich vor die Thür gelegt worden, damit die Leichenträger, welche die Stadt durchwanderten, ihn am Morgen finden und fortschaffen sollten. Tharah schauderte nicht, der Tod hatte sein Entsetzen für sie, die von Schlimmerem bedroht war und anders in seiner Nähe verweilt hatte, verloren, und mit unbewußter Geistesgegenwart packte sie mit starken Händen die Leiche in dem Moment, als der Edelmann sich über sie zu Boden warf, und hielt sie vor sich, seinen gierig haschenden Armen entgegen.

»Hab' ich Dich, schöne Judendirne, und brauche mir nicht das Ghetto zu öffnen,« stieß Honfried ächzend hervor und umklammerte das todte Weib mit den Armen.

Tharah wand sich unter der Leiche empor und kroch zur Seite, dann erhob sie sich geräuschlos auf den Zehen und verschwand eilig und unbemerkt auf dem finsteren Markt.

»Du bist klug, mein Täubchen, und wehrst Dich nicht mehr,« sagte der Graf höhnisch, »sollst es gut bei mir haben und mit mir auf meine Burg –«

Er brach mit einem brüllenden Fluch ab. »Was ist das?« schrie er, mit der Hand über das starrkalte Gesicht der Leiche fahrend, »hat der Satan Dich aus meinen Armen geholt, und war es kein Liebesschrei, den Du ausstießest?«

Er flog entsetzt in die Höh und ließ die Todte fahren, die mit dumpfem Krachen vor ihm auf die Erde schlug.

»Fackeln!« rief er wüthend die Gasse hinauf, »Fackeln! Ich massacrire Euch, wenn Ihr keine Fackeln bringt!«

" Seine Begleiter kamen langsam mit Lichtern heran, er lief ihnen entgegen, riß die Fackel aus der Hand des Ersten und kehrte an die Stelle, wo die Leiche lag, zurück. Hastig beleuchtete er ihre Züge und schauderte. Es war das fahle Gesicht einer verrunzelten Matrone aus den niedrigsten Ständen, mit Flecken und Pusteln bedeckt; der zahnlose Mund war geöffnet und ein fauliger, ekelhafter Geruch drang aus ihm hervor.

Der Graf starrte entsetzt auf den furchtbar entstellten Körper, die Anderen drängten, die Fackeln ebenfalls auf die Leiche niedersenkend, herzu.

»Habt Euch ein schönes Liebchen angeschafft, Graf Honfried,« lachte eine spöttische Stimme, »bringt Euch wohl die Pest als Mitgift –«

Der Edelmann erbleichte und ein Zittern durchrann ihn.

»Habt Ihr den hübschen Mund wacker geküßt in der Dunkelheit?« fragte ein Anderer.

»Seht, wie verliebt seine Augen umherrollen,« riefen mehrere dazwischen.

Honfried fuhr aus seiner Betäubung auf. »Ich muß die Dirne haben,« schrie er, wild um sich blickend, ohne das hämische Gelächter der Umstehenden zu beachten. »Sie kann sich nicht verbergen, wir wollen die Stadt durchsuchen. Jeder von Euch mag sie nach mir haben! Kommt!«

Aber ein höhnisches Gemurmel antwortete ihm. »Behaltet Euren Schatz für Euch, wir wollen trinken. Kommt, sucht ein Weinhaus!« erwiederte ein junger Mann, der großen Einfluß bei der Schaar zu haben schien, die ihm jubelnd beistimmte und sich von dem Grafen abwandte, der mit den Zähnen knirschend ihr nachsah.

Eine kurze Weile besann er sich, ob er das Mädchen verfolgen solle, doch die Unmöglichkeit, sie allein in der weiten Stadt ausfindig zu machen, stellte trotz seines trunkenen Zustandes sich ihm entmuthigend vor Augen. Er stieß Schimpfwörter zwischen den Lippen hervor und rief sie den mit dem Sarge verschwindenden Patriziern, die sich nicht weiter um ihn bekümmerten, nach; dann griff er in die Tasche seines Wammses und zog ein kleines Säckchen hervor, das er mit den Fingern betastete.

»So müssen wir etwas Sprengpulver in dein Nest werfen, schwarzer Schatz,« grinste er mit teuflischer Verzerrung seiner Mundwinkel. »'S ist ein Liebestränklein für schöne Kinder aus dem Osten, ein Zaubermittel, und ich erwische dich noch, wenn die Pest mir nicht zuvorkommt.«

Er steckte das Leinwandpäckchen wieder ein und warf bei den letzten Worten noch einen schaudernden Blick auf die Leiche des alten Weibes, der er als Ausdruck seines Abscheues einen Fußtritt zum Abschied versetzte. Dann schlug er seine Fackel zu Boden, daß sie knisternd erlosch, und wandte sich in der tiefen Finsterniß, die ihn umgab, langsam und vorsichtig in der Richtung gegen das Ghetto.

 

*

 


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