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Erstes Capitel.

Gegen Abend war es. Mittsommer lag friedlich über der weiten Ebene, die der Rhein von den sieben Bergen bis an das Meer durchzieht. Ein junger Mann schritt auf der breiten Heerstraße, die von Frankfurt gen Norden führte, entlang. Sein Auge war fröhlich und lief regsam umher. Bald über die Kornfelder, die noch, obwohl der Juli schon vorüber war, mit grünen Halmen am Wegrand schwankten, bald auf den glänzenden Fluß ihm zur Rechten, der ihm voraus eilte und lustig von der Sonne übergoldete Segel hinabtrug. Wenn seine Augen auf den davon eilenden Kähnen ruhten, fingen unwillkürlich auch seine Füße an, sich in schnellerem Takte zu bewegen; dann, wenn das Schifflein an einer Biegung des Stromes verschwand, hielt er lächelnd wieder inne.

»Grüßt mir daheim, wenn ihr an der heiligen Stadt vorüberkommt!« rief er freudig mit winkender Handbewegung und folgte langsam durch den Staub der Landstraße nach.

Weit vor ihm dehnte sich die Ebene; in seinem Rücken verschwammen die bläulichen Kuppen jenseits des Rheins mehr und mehr in abendlichem Dunste. Der Weg führte eine langgestreckte Anhöhe empor, welche die Aussicht benahm; rüstig schritt der einsame Wanderer fort, bis der Hügel sich wieder vor ihm hinabsenkte, und sein Blick ungehindert weit voraus und gen Süden zurückschweifte. Dort blieb er stehen und seine Augen leuchteten glücklich auf.

Sie waren grau und schwärmerisch-verständig, wie das Gesicht, das sie umgab. Klug und eindringlich waren sie, und doch wieder schelmisch wie Kinderaugen, an die ihre ungewöhnliche Größe mahnte. Es lagen nicht viel Erfahrungen, wenigstens keine Sorgen noch auf der frischen, sonngebräunten Stirn, von der er die leichte Reisekappe gelüftet. Leichter Sinn lachte fröhlich von den rothen Lippen in die Welt hinaus, die ein dunkelfarbiger, sorgsam gestutzter Schnurrbart bekleidete, der gekräuselt an das leicht bedeckte Kinn hinablief. Der Träger desselben konnte kaum das zweite Jahrzehend überschritten haben; sein Wuchs war hoch und kraftvoll; deutsche Art sprach aus seinen Bewegungen und jedem Zug seiner Erscheinung, nur das tiefschwarze Haar, das ihm lockig bis auf den Nacken herunterfiel, lag gewissermaßen befremdend über der Stirn, als ob es ihm nicht zu eigen sei, oder als ob ein anderes Gesicht und Wesen zu dem fremdartigen Gelock gehöre.

Nun stand er auf der Höhe und blickte mit den grauen Augen vor sich ins Thal. Der Rhein machte eine Windung; eine Stadt, die für das vierzehnte Jahrhundert von bedeutendem Umfang war, lag weitgedehnt an seinem ruhigen Spiegel, in den die hohen Giebel der Häuser hinabnickten. Graue Mauern mit Thürmen, über die mächtige Kirchen emporragten, umschlossen das Ganze; Alles war von der abendlichen Sonne überglüht, die in den Fenstern der Erker spiegelte, und ihre Strahlen in das Auge des einsamen Beschauers zurückwarf.

»Es ist das heilige Cölln,« sagte dieser leise. Glänzend hing sein Auge daran; er schien in dem rothen Dächergewirr etwas zu suchen, das ihm in dem bunten Durcheinander immer wieder entschwand.

»Sieben Jahre in der Fremde,« murmelte er fort; »sieben Jahre älter ist das Alter geworden« – ein nachdenklicher Zug flog über sein Gesicht – »sieben Jahre älter auch die Jugend,« setzte er rasch hinzu und seine Lippen lächelten. Er stand in Sinnen verloren, aber sein Blick erglänzte immer freudiger; plötzlich fuhr er auf und wandte den Kopf.

Ein leises Sausen, wie das des Abendwindes durch hohe Wipfel ertönte in seinem Rücken, er sah umher, doch so weit er blickte, befand sich kein Baum, nur niederes Gebüsch ragte hie und da aus den Kornfeldern auf. Dennoch wurde das Summen vernehmlicher, es kam von Süden herauf, seine Augen suchten, aber die Strahlen der untergehenden Sonne blendeten ihn, und er gewahrte nichts. Nur war es ihm, als bewege fern in hoher Luft ein Nebel sich heran, aus dem das Getöse herabdrang. Ein sonderbarer Schauer lief ihm durchs Blut, einige Secunden schienen seine Augen ihm verschleiert, dann ebenso plötzlich waren sie wieder frei, und er sah deutlich eine graue Masse, die wie eine Wolke heranzog. Sie hob und senkte sich, nun trat sie über die Sonne, und völliger Schatten fiel auf sein Gesicht. Immer lauter tönte das Gebrause, fast wie aufrauschender Sturm, – noch einige Augenblicke und es wurde finster über ihm und um ihn her, und auf ihn nieder stürzte es wuchtig wie Schlossen zur Erde.

Mit heftigem Ruck schüttelte er die Thiere, die seine Kleidung bedeckten, von sich. Es überlief ihn ekelnd, vor ihm und hinter ihm war der Weg mit fingerlangem, dickleibigem Gewürm besäet, das flügelschwirrend durch den Staub kroch und sich gegenseitig mit spitzen, gefräßigen Zangen anfiel. Der junge Mann betrachtete die Thiere, die er nie gesehen, halb mit Widerwillen, halb neugierig. »Heuschrecken, es müssen Heuschrecken sein,« murmelte er, »wahrhaftig« – sein Auge flog über die nächsten Kornfelder, die zum Theil unter dem Gewicht des raubgierigen Schwarms zu Boden gebrochen, zum Theil schon unter ihren mörderisch-eilfertigen Freßwerkzeugen verschwunden waren, – »man hat Recht, sie die Pest der Felder zu nennen.«

Er erschrack sichtlich vor seinen eigenen Worten und starrte über die schwarzdurchwimmelte Flur, die noch eben zuvor wie ein grünes Meer hoffnungsverheißend um ihn her wogte, – »man sagt, daß sie die Pest der Menschen ankünden,« setzte er ernst hinzu, und jener Schauer, der ihn schon einmal durchfröstelt, kam wieder aus seinem innersten Mark und rann ihm bis an die Stirn empor.

»Ich bin erhitzt und die Abendluft wird kühl,« sagte er, seine Gedanken beschwichtigend, laut vor sich hin. Er strich sein Haar, an dessen Wurzeln der Schweiß hervorperlte, mit der Hand zurück und lachte fröhlich auf.

»Bin ich nicht ein Narr,« fuhr er mit lustigem Tone fort, »der nach sieben Jahren vor den Thoren der Heimath stehen bleibt und ekelhafte Würmer betrachtet, während dicht vor ihm da drunten –«

Er brach ab und schritt, ein heiteres Lied pfeifend, munter vorwärts. Sorgfältig vermied er die dicken Insektenkörper, die sich vor seinem Fuß im Staube wälzten; allmälig wurden ihrer weniger und er dachte ihrer nicht mehr, und wanderte eiliger auf das geöffnete Thor, das einladend vor ihm aufstieg, zu. Im Augenblick, als er dasselbe erreichte, verschwand die Sonne und ihm war, als ob ein grauer Schatten an ihm vorüberflog, der das alte Steinthor umstrickte und blitzeshastig am Gemäuer entlang huschte, wie mit lautlosen Armen von beiden Seiten die Stadt umklammernd. Es war nur ein Moment, doch zum dritten Mal kam der seltsame Schauder, der seinen Körper durchrüttelte; wie mit einem bleiernen Leichentuch überzogen, lag plötzlich die Stadt vor seinen Augen, und er starrte gedankenlos in die Straße, an deren Beginn er stand, hinein.

Er dachte nicht nach, er wußte selbst nicht, was er that. Es überkam ihn etwas mit einer dunklen unerklärlichen Angst, das wie mit unheimlichem Flügelschlag ihn umflatterte und ihn davontreiben wollte, ehe er in das betriebsame Menschengetümmel, das vor ihm die Stadt durchwogte, hineingeschritten. Ihm kamen plötzlich wieder die Heuschrecken ins Gedächtniß, und ihm war als wären die Menschen Halme, die sich im Wind durcheinander bewegten, und als rausche es gespenstisch durch die Luft heran, unsichtbar näher und näher wie aufbrausender Sturm – –

Er fuhr zusammen: eine Stimme rief dicht neben ihm seinen Namen und er sah auf. Er gewahrte, daß Vorübergehende um ihn stehen geblieben und ihn verwundert betrachteten.

»Seid Ihr fremd geworden in der hilligen Stadt, Junker Hellem,« fuhr die Stimme, die ihn zuerst gerufen, fort, »und wißt den Weg nicht mehr zum Hause des reichen Caleb?«

Der also Angesprochene griff an seine Mütze und begrüßte artig den pfiffig umherlauernden Kopf des Thorhüters, der sich halb neugierig, halb spöttisch aus dem Fenster der Pförtnerwohnung nach ihm hervorstreckte. Etwas versteckt Böswilliges lag in den Worten, und schon in der höhnisch betonten Anrede, deren Titel rechtsgemäß nur den Patriziersöhnen zukam, doch der junge Mann achtete nicht darauf und erwiederte freundlich: s »Die Heimath hat sich nicht verändert, ebenso wenig wie Ihr, Vater Reinbacher; es ist Alles leicht zu erkennen, auch wenn man so lange fortgewesen wie ich. Gott grüße Euch, was macht Euer Enkeltöchterlein, die Sybille? Grüßt sie schön von mir.«

Er wanderte fort, die Straße hinunter; der Alte sah ihm mit gallsüchtig scheelem Blicke nach.

»Ich denke, Eure Heimath wird sich bald einmal verändern,« murmelte er zwischen den zahnlosen Lippen. »Ihre Heimath,« setzte er verächtlich hinzu, »die hillige Stadt Cölln, die Heimath dieses blutsaugerischen Gesindels –?«

»Was giebts, Vater?« fragte eine helle Stimme hinter ihm, und ein hübscher Mädchenkopf bog sich zu dem grollenden Alten nieder, bückte sich aus dem offenen Fenster und sah die Straße hinab, dann klatschte das Mädchen fröhlich in die Hände und rief:

»Ist das nicht Hellem, der Sohn des alten Caleb, der aus der Fremde kommt? Ei, wie wird die schöne Tharah sich freuen und ein Jubel sein in der Judengasse. Hat er Euch nicht angeredet, Vater? kanntet Ihr ihn denn nicht mehr?«

»Jawohl, es ist der Sohn des alten Wucherers, der das Christengeld in seinen Kellern häuft,« antwortete der Thorhüter grämlich, »das heißt, es ist nicht sein Sohn, sein Neffe ist's, den er an Sohnesstatt von seinem Bruder angenommen, den sie aus ihrer Sippe gestoßen, und der in die Fremde gegangen und im Elend verkommen. Denn der Junge soll von einer Christenmutter sein, man sieht's ihm auch an, und eine Schande ist's, daß der weise Rath es zugelassen, daß er unter dem spitzbübischen Gesindel geblieben und zu Unglauben und Schurkereien von ihnen auferzogen, da doch die heilige Mutter Kirche ein Recht gehabt hätte –«

»Euren Segen dem Unwürdigsten aus der Heerde Christi, hochwürdiger Pater,« brach er, den Kopf bis auf die Fensterbank herunterbückend, ab und murmelte ein Paternoster zwischen den verschrumpften Mundwinkeln hinter der wohlgenährten, schwarzen Gestalt drein, die mit erhobenen Händen zwischen den auf die Kniee gefallenen Leuten durchschritt und murmelnd einen lateinischen Segensspruch über sie ausspendete.

»Sybille, Kind,« sagte der Alte, den Kopf wieder erhebend, unwillig, »sahst Du nicht, daß der Hochwürdige vorüberging?«

Das Mädchen hatte nur auf die ersten Worte des Vaters Acht gegeben und während der Andachtsbezeugung desselben noch immer aufmerksam die Straße hinuntergeblickt.

»Also ist die schöne Tharah gar nicht seine Schwester?« versetzte sie nachsinnend.

»Wessen Schwester, – wessen Schwester, Kind?« brummte der Alte, mürrisch zu ihr aufstarrend.

Sybille schüttelte den Kopf ohne zu antworten, sie warf noch einen Blick durchs Fenster, aus dem der Alte wieder auf die Straße hinauslauerte; dann trat sie ins Zimmer zurück und beschäftigte sich mit den Blumenstöcken am Kaminsims, von denen sie hie und da ein welkes Blatt abbrach und leise dazu Bruchstücke einer alten Volksweise vor sich hin sang. –

Der junge Mann, den der Thorwart Junker Hellem genannt, war unbekümmert weiter geschritten. Ab und zu mochte er sich wundern, daß die Leute sich seiner noch so genau erinnerten; war er doch fast noch ein Knabe gewesen, als er die Stadt verlassen. Oft hörte er im Vorübergehen: »S'ist der Sohn des alten Caleb, er bringt neues Gold aus der Fremde,« und ein mißgünstiger Blick folgte ihm nach. Manchmal rief auch er einen Gruß hinüber oder stand flüchtig still, wechselte ein paar Worte mit einem Bekannten und reichte Diesem und Jenem die Hand.

So kam er tiefer ins Innere der Stadt. Allmälig wurden die Straßen winkliger und enger, oben traten die gezackten Giebel dichter zusammen, und nur ein dämmerndes Licht fiel mehr von dem schmalen Stückchen grauen Himmels, das darüber lag, herab.

Hellem aber ging unbeirrten Fußes aus einer Gasse in die andre, bis er an eine Stelle kam, wo ein massives Steinthor mit doppelter Gitterthür vor ihm die Straße abschloß. Die Eisengitter waren geöffnet, doch er blieb vor ihnen stehen und ordnete seine Kleider. Er gürtete sich fester und schlug den Staub von seinen Füßen. dann trat er mit klopfendem Herzen über die Schwelle des Thors.

Dasselbe führte in eine enge, von hohen Häusern umschlossene Gasse, die auffällig von den andern, welche er eben durchwandert, abstach. Dumpfluftig war es darin wegen des beschränkten Raumes, doch trotzdem athmete die Brust leichter, denn es war angenehm kühl und eine reine Frische wehte aus dem alten Gemäuer und aus dem sauber gehaltenen Boden herauf. Es war Alles sauber umher, und that dem Auge und der Nase wohl nach dem Unrath, der die übrigen Gassen bedeckte. Die Häuser sprangen unregelmäßig vor und traten zurück; stellenweise war der Raum zwischen ihnen so beschränkt, daß man die Hand aus einem Fenster ins andere hinüberzureichen vermochte. Steintreppen führten ab und zu in die fast ohne Ausnahme offenstehenden Thüren, darauf lag Geräth und Gerümpel aller Art aufgestellt und gehängt. Alles alt und mit sichtbaren Spuren des Gebrauchs, aber Alles sorgfältig gescheuert und geputzt, daß kein Stäubchen daran hing. Trödelwaaren vergangener Zeit, Geschirr zum Tagesbrauch und verblichene Malereien in verschossenen Goldrahmen, auch Röcke und Beinkleider darunter und sonderbarer Aufputz; das Geringste nicht verschmäht und jede Lücke des beschränkten Raumes erwägungsvoll ausgefüllt. Sparsamkeit und Thätigkeit kauerten überall und blickten dem Beschauer mit verständigen Augen entgegen. Sie thaten es jetzt auch mit wirklichen Augen, klugen, beweglichen Kinderaugen, die aufmerksam umschauend auf den Stufen hockten und dem Gespräch der Alten zuhörten, die, ihre Bärte streichend, behäbig in den Thüren saßen oder standen und den Tagsgewinn überschlugen, oder über die Welt sprachen und über dies und jenes, was Simeon gesagt, der Sohn des Zachur, der ein Stern war unter seinem Volk, und was er erlebt auf seinen Reisen in der Fremde, und was er mit sich gebracht in die Heimath.

Mit verwunderten Augen blickte Hellem umher. Die Bilder seiner Kinderheimath waren vor seiner Erinnerung verblichen und sahen ihn seltsam befremdlich und doch wiederum so schmerzlich vertraut an.

Die Welt draußen war so groß, und er hatte sie so frei und so fröhlich durchmessen, und während all der Zeit, da die Sonne geschienen und Winter und Frühling gekommen und verschwunden und wieder gekommen in langer Reihe, hatten sie zusammengedrückt hier gesessen in der dumpfen Gasse, die den Himmel nicht sah und kein Vogellied vernahm. Das eherne Gitter that sich auf, wenn der Tag kam, und es schloß sich zu mit der Dämmerung, wie der Käfig eines Raubthieres, das der Wärter mit der Peitsche hinter die Stangen zurückscheucht. Kalt und eisern lag das Gitter zwischen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, die in den Kirchen gepriesen und in den Christenschulen gelehrt wurde, und dahinter hatten sie gesessen mit dem tausendjährigen Gram auf der Stirn, abgeschnitten von aller Lebensfreudigkeit, die Kinder und die blühenden Mädchen des alten Pariavolks, bis sie welk vor der Zeit geworden und ihre Sehnsucht aus dem versagten Glück der Gegenwart sich hinüberflüchtete in die uralten Mähren der Heimath, die von den Vorvätern auf die Väter gekommen, die sie mit gläubig vertrauensvollen Lippen wiederholten, daß ihre Söhne sie dereinst den Enkeln überlieferten. Geduldig hatten sie hinter dem Gitter geharrt, bis es sich öffnete und sie hervorkrochen, um zu handeln, zu handeln, zu handeln; ehrlich und im Schweiß ihres Angesichts vom Morgen bis zum Abend, bis zu der Stunde, wo sie zurückkehrten in ihre bedrückte Heimath, und das Thor sich kreischend hinter ihnen schloß, und sie die Fußtritte der Christenschuhe abwuschen von den Gliedern, und den Balsam auf die Striemen der Christenpeitschen legten, mit dem ihre Vorahnen den Brand ihrer Geißelhiebe besänftigt, und koschere Kleider anzogen und vergnügt bei den Ihren saßen, schwatzend und das Geld zählend, das ihr Fleiß erworben und ihre Sparsamkeit vermehrt, und auf dem die Träume ihrer Zukunft sich wiegten.

Ein bitteres Gefühl beschlich bei dem Anblick die Brust des Jünglings, der aus der Fremde zurückkam. Es überlief ihn mit wildem Grimm, mit heißen Gedanken der Vergeltung des alten Elends seines Geschlechtes, das er nie so qualvoll empfunden als jetzt. Hastig kreuzten sich die Ströme in seinem Gehirn, es geschah nur in dem kurzen Zeitraum, den seine Füße gebraucht, um aus der Christenstadt in das Ghetto einzutreten, und er ward aus seinen Träumen aufgerissen, denn hundert Hände streckten sich bewillkommnend nach ihm aus und faßten seine Schultern und begrüßten ihn.

Freudig erwiederte er ihren Empfang und schüttelte jedem die Hand. Immer mehr drängten sich um ihn; die droben in den Fenstern gelegen, kamen herab, ringsum erdröhnten die Treppen von eilfertigen Tritten. Ein pfiffig blickender Judenknabe löste sich aus dem Gewimmel und lief behend die Gasse hinunter, bis er eine breite Steintreppe emporsprang und in der Thür eines massiven hochstöckigen Hauses verschwand. Um den Ankömmling aber schaarte sich immer dichter die Menge. Bedächtigen Schrittes traten die Alten fragend hinzu; Alle wollten hören, und Alle sprachen durcheinander, nur die Mädchen standen kichernd von fern und blickten neugierig mit den großen Augen hinüber, und ein allgemeiner Jubel lief von Lippe zu Lippe die Judengasse hinunter: »Es ist Hellem, der Sohn Caleb's, der zurückgekommen ist aus der Fremde.«

Plötzlich verstummte das freudige Gesumme des Haufens, denn ein scharfer Laut ertönte dicht neben ihm und das eiserne Thor drehte sich widrig kreischend auf der Angel und schloß sich. Hellem blickte unwillkürlich nach der Ursache des Geräusches umher, dann gewahrte er sie und ein Blitz des Hasses flammte in seinen Augen auf. Er blickte in die Gesichter der Umstehenden – manche waren an den Ton gewöhnt und hatten ihn kaum vernommen, doch manche wichen scheu dem Ausdruck seiner Augen aus, das Bewußtsein ihrer Schmach lag über ihnen und sie senkten erröthend die Stirn.

Einige Secunden war die eben so fröhlich erregte Menge todtenstill. Abgeschlossen waren sie von der Welt draußen, die das Recht hatte zu leben, die Lust des Himmels zu athmen, in der Abendkühle an den Wassern des Rheins zu wandeln, – unsäglich bitter durchwogte die Empfindung der Knechtschaft das ausgestoßene, in die Fremde verschlagene Volk.

Von dem Thurme Maria's zum Capitol ertönte die Betglocke der Christen; sie rief über die Dächer, daß die Stadt von dem Hauch der Ungläubigen gereinigt, daß ihre Heerde von den Wächtern in die düstere Hürde zusammengetrieben sei, und daß die Andacht der Frommen ungetrübt zum Ohre des Christengottes emporsteigen könne – um wenige Minuten später hätte der Heimkehrende das Thor, das zu seinem Vaterhause führte, verschlossen gefunden, und das Gesetz, das keinem Juden außerhalb des Ghetto zu übernachten gestattete, hätte ihn auf das Feld zurückgejagt wie einen Hund.

Er machte sich jetzt von den begrüßenden Händen los und schritt die Gasse hinunter. Doch die Menge folgte hinter ihm drein; leicht vergaß sie die Schmach, an die das Elend von Jahrhunderten sie gewöhnt, wie die Brust des Gefangenen endlich gleichgültig die Kerkerluft athmet, die sie im Beginn mit Abscheu zurückgestoßen – und sie geleitete den Jüngling in wogendem Gedränge bis an das Haus, in welchem der Judenknabe verschwunden, und Jubel flog wieder von Kopf zu Kopf: »Es ist Hellem, der Sohn Caleb's, der heimgekommen ist aus der Fremde.«

»Tharah, mein Kind, Tharah!« rief in diesem Augenblick eine Stimme, die klangreich und zitternd zugleich scholl, aus dem Innern des Hauses. Eine hellere antwortete aus der Ferne und die erste fuhr fort:

»Rufe Deine Mutter Lea aus der Kammer, und die Mägde, und was im Hause mein Brod ißt, daß sie herunterkommen und –«

Der Nachsatz verklang nach Innen; dann trat der Sprecher auf die Schwelle der Thür. Er war hochgewachsen und hielt sich würdevoll aufrecht, trotz dem Alter, das grau um seine Schläfe lag und in langem Silberbart von seinem Kinn herabfloß. Ein dunkelfarbiger Rock, der am Halse begann und enganschließend bis auf die Füße niederfiel, zeigte die schlanke, biegsame Gestalt, die mit über der Brust gefalteten Händen jetzt regungslos auf der Thürschwelle stand und dem herannahenden Volkshaufen entgegensah. Regelmäßig und schön war der Kopf des alten Caleb und seine Lippen noch voller Rundung und frisch, wie die Jugend. Begierig sog er die Rufe mit ihnen ein, die zu ihm herübertönten, und die dunklen, flammenden Augen irrten an der hageren, scharfgeschnittenen Adlernase vorbei und suchten sehnsüchtig unter den gedrängten Köpfen, doch er regte sich nicht, er verzog keine Miene, nur seine Finger zitterten so gewaltsam, daß er sie in den Schlitz seines Rockes verbarg. Dann endlich hatten seine Augen gefunden was sie suchten, und die Lippen murmelten, ihre Aufregung meisternd, vor sich hin:

»Ja, er ist es, es ist mein Sohn Hellem, der heimgekommen ist aus der Fremde.«

Und wie er es gesprochen, war der Jüngling die Treppe hinaufgeflogen, er lag zu den Füßen des Vaters und legte die Stirn wider seine Kniee.

Einen Augenblick war es, als ob der Alte sich niederbücken und ihn aufheben wollte, doch er bezwang sich und richtete sich noch höher empor; er zog das schwarze Käppchen von seinem Scheitel und sprach, die Hände darüber zusammenlegend, mit fester Stimme:

»Siehe, der Gott Israels ist über Dir gewesen und hat meinem Hause Freude gegeben. Sieben Jahre bist Du in die Fremde gegangen, wie Jakob, der Sohn Isaaks, und hast dem Herrn gedienet, denn der Herr hat Dich gesegnet und Dich zurückgeführt in das Haus Deiner Väter. Er hat Dich mir gegeben an Sohnes statt, und darum sage ich es vor Deinem Volk: Stehe auf, Hellem, denn Du bist mein Sohn, den ich segne, denn mein Haus ist Dein Haus und meine Habe ist Deine Habe.«

Er streckte feierlich seine Hände auf das schwarze Haar des Jünglings, zwei Thränen fielen aus seiner Wimper und rollten glänzend in den weißen Bart herab. Nun hob er den Gesegneten auf und legte die Arme um seinen Nacken und küßte ihn.

»Lea,« fuhr er mit freudebebender Stimme fort, »richte ein Mahl für unser Volk und laß es auf den Markt tragen, daß die Armen sich sättigen, denn uns ist Freude widerfahren.«

Die Untenstehenden jauchzten zu den Worten und eilten auf die Erweiterung der Gasse zu, die Markt geheißen wurde. Dort lagerten sie sich um den Brunnen in der Mitte und harrten fröhlich des Dankmahles, das ihnen versprochen.

Caleb aber führte den heimgekehrten Sohn in das Innere des Hauses, wo die Frauen seiner warteten. Er selbst stieg die Treppe hinauf und ging in sein Schlafgemach, während die Mutter den Jüngling umhalste und küßte. Sie schluchzte und lachte, sie drängte ihn von sich und bewunderte seine Schönheit und schloß ihn wieder in die Arme und erstickte ihn fast mit heftiger Liebkosung. Dann nannte sie ihn mit tausend zärtlichen Namen, endlich ließ sie ihn los und faßte die Hand des Mädchens, das hinter ihr stand und führte es ihm entgegen.

Es war dämmernd auf dem Flur, doch Hellem blieb stehen und that keinen Schritt vorwärts. Staunend hing sein Auge an der hohen Gestalt, die vor ihm stand und die Arme nach ihm ausstreckte. Er fuhr wie erwachend mit der Hand über die Stirn:

»Bist Du Tharah, meine Schwester?« sagte er ungläubig.

Sie lachte fröhlich und die weißen Zähne traten blendend aus ihrer Lippe.

»Tharah ist es, mein Kind, das ich für Dich geboren«, jubelte Lea, »heiße sie nicht Schwester, denn Du wirst sie mehr lieben als eine Schwester.«

Zaghaft stand der Jüngling, er bewegte sich unschlüssig auf die erröthende Mädchengestalt zu.

»Tharah!« wiederholte er noch einmal, und mit dem Klang des Namens schwanden alle bitteren Gedanken, die ihn vorhin durchfluthet, wie Nebel zurück, und wie Sterne aus zerrissenem Gewölk blitzten die schwarzumrahmten Augen der Jungfrau ihm ins Herz.

»Höre nicht auf Lea,« lachte sie schelmisch, »ich bin Deine Schwester und küsse meinen Bruder«, und sie trat hastig an den Zögernden hinan und schloß ihre Lippen auf seinen Mund.

Nun kamen die Mägde des Hauses; nacheinander schritten sie herzu und küßten den Gewandsaum des Sohnes vom Hause. Aller Augen leuchteten, stumme und laute Freude wechselte auf den Lippen. Nur Hellem schwieg, von tausend neuen Gefühlen überwältigt; seine Hand lag schüchtern auf dem weißen Nacken Tharahs, die neben ihm die Treppe hinaufstieg. Ihm war plötzlich, als müsse er sich auf sie lehnen, als sei er so schwach, daß er ohne sie zusammenbrechen würde, und er sagte zu sich selbst mit matter Lippe: »Es ist die Freude.«

Hinter ihnen ging Lea; sie schwankte ebenfalls, mit zitternden Händen stützte sie sich auf das Geländer und zog sich an ihm empor. Wie eine Trunkene folgte sie den Kindern, von denen ihre Augen nicht wichen; das greise Haar hing aufgelöst an ihrem Gesicht herunter, über dem das Glück wogte und wie mit unsichtbarer Hand die Runzeln der Stirn ausglättete und zerrieb.

So führte Tharah den Bruder in das obere Gemach; es war finster darin, durch die dunkelschweren Vorhänge fiel aus der dumpfen Judengasse kaum mehr ein leiser Schimmer. Doch im Augenblick als sie eintraten, entzündeten die voraufgeeilten Mägde hellaufleuchtende Flammen, die in der Luft zu schwimmen schienen und das Zimmer mit geheimnißvoll lieblichem Schein übergossen. Ein fremder Wohlgeruch wie Specerei des Ostens strömte mit ihnen aus und durchwürzte die Luft, es wurde heller und heller, und man sah, daß die Flammen aus schwebenden Ampeln aufstiegen, die kunstvoll wie ein zierlicher Blumenkelch aus Metall gebogen, an Seidenschnüren vom Plafond herabhingen, und aus ihrer Tiefe blühte das sanfte Naphtalicht auf, wie eine biegsame Elfengestalt, die in blauem Gewande neckisch emporsteigt.

Vergnügt ruhte Hellem's Blick auf dem morgenländischen Reichthum des heimathlichen Hauses, von dem sein Auge in der Fremde lange entwöhnt. Mit rauher Schale, schmutzbedeckt, lag das Muschelthier unbeachtet zwischen Unrath und widrigem Gewürm im feuchten Meeresschlamm vergraben, drinnen aber blitzte und funkelte heimlich der wunderbare Glanz, mit dem es seine verschlossene Kammer übergossen; schimmernde Wände, wie seine mächtigsten Feinde sie nicht zu erwerben vermochten, in denen es seine Schätze barg, und darin lebte es ein geräuschlos friedliches Leben, für die Verachtung und Armuth seiner dürftigen Außenseite entschädigt durch das stille freudige Bewußtsein, daß sie den Reichthum umschloß und vor begehrlichen Blicken versteckte.

Ein halbes Jahrhundert hatte die Sonne den Mauscheljuden verbrannt und der Regen die Fäden in seinem schlotternden Rock ausgelöst, wenn er mit dem Sack auf dem Rücken unter die Christen hinauswanderte und um einen Heller feilschte, und Schimpfworte hinunterschluckte in seinen Bart, und die Knochen von den Gassen hob, welche die Hunde übrig gelassen, damit er jetzt im weißen Feierkleide seiner Väter, gegürtet mit seidenem Tuch, herausschreiten konnte aus seinem Schlafgemach, würdevoll, mit sicherem Fuß, wie der Hohepriester Judas, der vor die Bundeslade trat. So kam er festlich hervor, auf den verwunderten Jüngling zu, den jetzt die Frauen verlassen, um ebenfalls das Gewand der Freude anzulegen, wie ihre Mütter es nach dem Gebot der Propheten gethan, wenn ihr Herz jauchzte. Nochmals umarmte er den Sohn und hieß ihn willkommen, während draußen die Mägde geschäftig das Festmahl rüsteten und fröhlich ihr Gesang bei der Arbeit das Haus durchklang.

Caleb faßte den Jüngling am Arm und zog ihn in dem Prunkgemach umher. Er zeigte ihm das goldene Geschirr, das aufgethürmt umherstand und in dem magischen Licht seltsam und märchenhaft erglänzte; kostbare Gemälde in schweren Goldrahmen hingen an den Wänden, schwarzlockige Frauen- und Männergestalten traten lebendig aus ihnen hervor und kündeten mit begeisterten Zügen die Geschichte ihres Volks, da es noch in Hoheit an den Ufern des Jordan thronte und die Majestät Zions seine Stirn umleuchtete. Alle aber überstrahlte ein Bild, das lebensgroß zuerst dem Beschauer entgegentrat. Heimlich drängte Hellem den langsamen Schritt des Alten darauf zu; dann stand er davor und ein göttlicher Schauer rann wonnevoll durch seine Glieder. Es war, als ob Tharah's dunkle Augen selbst ihm in die Seele hinabtauchten, auf den weichen, stolzen Lippen zitterte ein sehnsüchtiges Wort ihm entgegen. Ihm kam ein hastiges Gefühl des Neides und des Hasses wider den Maler, der es verstanden, dessen Auge es erlauscht, dessen Hand es wiedergegeben, doch es verflog unter der Allmacht der wunderbaren Schönheit, die wie feuriger Wein seine Sinne berauschte, und mit künstlerischem Blick nahm er jede Falte des Gewandes wahr, die vollendet erschien wie das Ganze. Eine leichte Krone schwebte über dem Haupt des Mädchens, ihre Perlen leuchteten matt über dem dunklen Gelock, wie ferne Irrlichter aus der Nacht, dann floß es in schwarzen Wellen herab und ringelte sich wieder empor und überfluthete die weißen, hervorblitzenden Schultern. Juwelenagraffen hielten einen weiten Mantel, der, mit Hermelin verbrämt, ihre Gestalt bis zu den Füßen umwallte, doch er flatterte im Wind, und enganliegend kam das Gewand unter ihm hervor und verrieth jede Form des schlanken Leibes bis zum Gürtel, der, aus Silber gewirkt, es zusammenwob; allein man sah kaum sein Gewebe, denn er war mit Saphiren und Smaragden bedeckt, und wie das Licht auf ihn fiel, veränderte sich sein Glanz wie ein strahlenüberflossenes Meer. Wie eine Jungfrau in königlicher Pracht trat sie aus dem Rahmen. Draußen, in der Welt der Lebendigen, war ihr der Schmuck der Christenfrauen verwehrt, und in demüthigem Gewande mußte sie wie eine Magd ihre Reihen durchschleichen; aber in ihre Kammer blickte Niemand als der Mond und die Gestirne, und heimlich hüllte sie den jungen Leib in den Glanz, der ihrem Volk verboten, und war sie keine Edeldame, die zuversichtlich das Haupt auf den Gassen erheben und im schleppenden Sammetgewand einherschreiten durfte, schöner war sie und reicher und beglückter, denn die Hoheit der Töchter ihres Volkes war ihr Erbe und der Zauber des Morgenlandes wob seinen Schimmer um ihre Stirn.

Es erfaßte gewaltsam die Augen des Betrachtenden und wie verzaubert hingen sie an dem Bilde. Neben ihm stand die langaufgereckte Gestalt des Alten, mit über der Brust verschränkten Händen; wohlgefällig und behagungsvoll ruhten auch seine Blicke auf dem Gemälde. Er murmelte leise mit den Lippen, sein Kopf nickte hin und her.

»Die Steine liegen Stück für Stück in der Schatulle und sie sind werth eine halbe Grafschaft,« sagte er, mit den Lippen schmatzend. »Siehst du den grünen vorn an der Brust, er ist wie eine Nuß aus dem besten Jahr, und ich würd' ihn nicht lassen unter eintausend Goldgülden.«

Doch Hellem's Augen ruhten auf dem weißen Busen, an dem der kostbare Smaragd funkelte; ihm war, als ob die anmuthige Rundung, die sich unter dem anschmiegenden Gewand erkennbar fortsetzte, sich höbe und senkte, und er seufzte – –

»Was seufzst Du, mein Sohn Hellem?« fuhr der Alte, ihn schlau anblickend, fort, »Du hast Recht, es ist ein todtes Kapital und trägt keine Percente. Aber es könnt' kommen ein Tag, wo Profit dabei wär, daß man sie könnt nehmen und in die Tasche stecken, und hätt' sie bei sich, wenn –«

Er brach ab, der Jüngling blickte ihm verwundert in die Augen, die plötzlich einen irren, unruhvollen Ausdruck angenommen. Einige Secunden sah der alte Caleb im Zimmer umher, dann ging er schnell auf ein großes Bild zu, das dem Portrait des Mädchens gegenüber hing und mit einem seidenen Vorhang verschleiert war. Mit einem Ruck zog er die Hülle an einer Schnur zurück und sagte leise:

»Sag' mir einmal, mein Sohn Hellem, was Du hältst von dem Gemälde?«

Der Jüngling hatte einen Schritt vorwärts gethan, dann stieß er einen Schrei aus und blieb wie eingewurzelt stehen. Er überflog das farbenreiche, bunt mit Figuren bedeckte Bild; ihm war, als schlügen ihm die Flammen, die über den gemalten Dächern der zusammenstürzenden Gebäude aufloderten, wirklich entgegen, als rieche er den feuchten Qualm, der im Vordergrund aus den versengten, sich im Todeskampf wälzenden Körpern aufstieg, als ersticke ihn der Rauch des flammenden Gebälks, der zum Himmel aufwogte und es ungewiß ließ, ob er den Tag zur Nacht verfinsterte, ob das leckende Feuermeer die Nacht zum Tag erhellte.

Aber es war nicht das, was ihn starr vor Verwunderung, vor Schreck innehielt. Es war das Gesicht des greisen Mannes, der unter den brechenden Quadern begraben lag und, von den Flammen umzüngelt, vergeblich in Todesqual aufrang; es war das greise Haar einer Matrone, das, um die Faust eines rohen Kriegsknechtes geschlungen, blutrünstig die Haut von der Stirn riß, während der mit Nägeln beschlagene Stiefel des Soldaten den hülflosen Nacken zerquetschte, – es war vor Allem das wunderbare Mädchenantlitz, das von düsterer, verzweifelter Angst entstellt, aus dem Rahmen gegenüber herabgestiegen zu sein schien und mit der Kraft des Wahnsinns gegen die Hände des lachenden Siegerhaufens kämpfte, der mit gierigen Blicken die Arme nach ihr ausstreckte.

»Ich hab' es anfertigen lassen nach meiner Angabe, und es hat mich gekostet eine ungeheure Summe, aber es ist ein guter Künstler gewesen,« sagte Caleb.

Doch der Jüngling hörte ihn nicht; er sah nur das unheimlich verzerrte Gesicht, die krampfhaften, grellen Augen des Mädchens, deren süßer Glanz noch eben erst ihn beseligend überflossen. Er sah jetzt nicht die Kunst des Malers, die jede Muskelanspannung in den ringenden Armen ausgeprägt, nicht die göttliche Wiedergabe des Lebens, – er sah nur das Leben selbst, die Angst, das Verderben, die wilde, namenlose Verzweiflung, und seine Faust ballte sich und er sprang auf das Bild zu –

»Sag' mir, mein Sohn Hellem, was Du hältst von dem Gemälde?« wiederholte der Alte monoton.

Die Frage rief den Jüngling zur Besinnung.

»Thu' es fort, Vater,« schrie er auf, »es ist entsetzlich!«

Caleb sah mit glanzlosen Augen darauf hin.

»Was haben sie für Gold fortgeschleppt aus den Häusern,« murmelte er, »und nach Rom gebracht, wo sie das Gebäude aufgebaut haben, worin der Pabst sitzt, und setzt noch heute uns den Fuß auf den Nacken. Was für eine reiche Stadt war Jerusalem, wo die Vornehmen aßen von goldenen Schüsseln. Aber es ist ein sehr gutes Gemälde, und ein guter Maler aus unserem Volk, und ich habe ihn gut dafür bezahlt.«

Er ließ den Vorhang wieder zurückfallen, und der Jüngling athmete wieder auf. Es war ihm wie ein wüstes Traumbild, das wesenlos in Nacht verschwunden, und sein Herz fing ruhiger an zu klopfen. Doch der Alte trat ihm näher, er blickte noch einmal sorgsam im Zimmer umher, dann fuhr er leise fort:

»Siehst Du, mein Sohn Hellem, deshalb ist es gut, daß meine Tochter hat Diamanten, die so viel werth sind, als eine Grafschaft, sie mag leben, wo sie will. War Jerusalem eine schöne Stadt, schöner als das Haus des alten Caleb in der Judengasse in Cölln, und ist doch verbrannt von dem Feuer, was kam von Rom, und das Volk ausgetrieben und ist arm geworden. Sei stille, mein Sohn Hellem, ich habe lange in der Welt gelebt und weiß, es ist gut, wenn man hat Diamanten. Du wirst nicht reden von dem Bild mit den Frauen, denn ich habe ihnen verboten, den Vorhang anzurühren, weil ich weiß, sie würden sich erschrecken. Aber es ist gut für Männer, daß sie das Bild ansehen –«

Er wendete lauschend den Kopf, das geheimnißvoll düstere Feuer in seinen Augen erlosch plötzlich, und heiterer, festesfroher Glanz strahlte von seiner Stirn und von seinen Lippen, die vergnügt ausriefen:

»Siehe, wie Tharah, meine Tochter, sich für ihren Bruder geschmückt hat, der aus der Fremde heimgekommen. Sie ist wie eine Tochter Zions wenn ihr Herz jauchzt, und an ihrem Kleid würde man von fern sehen, daß sie wie keine ist in der Stadt, und daß sie die Tochter sein muß vom alten Caleb.«

Und seine Augen zwinkerten und er lachte und glättete den silbernen Bart. In Hellem's Brust vibrirten noch die sonderbaren Worte des Alten, und der seltsame Ausdruck, mit dem sie gesprochen. Da trat vor seinen gehobenen Lidern das Bild auf ihn zu, wie es vor dem Auge des Malers gestanden. Sie trug dasselbe Gewand und die Edelsteine blitzten in ihrem Haar und auf den Spangen des Gürtels, nur der Mantel fehlte, daß sie noch schlanker und lieblicher aussah und ihre Arme voll und feingeädert aus den gefältelten Spitzen des kurzen Aermels hervortraten. Und der Rest des beängstigenden Todestraumes schwand in der Seele des Jünglings vor der schönen Wirklichkeit des Lebens. Auch die Reden des greisen Caleb verhallten in seinem Ohr, kühner und freier fühlte er sich als zuvor, und schritt muthig auf Tharah zu und küßte sie. Seine Zunge ward beredter und er zog das Mädchen an sich und ließ sich neben ihr nieder auf den weichen, nachgiebigen Teppich; immer hastiger flüsterte er in ihr Ohr, daß sie lachte und das Blut höher in ihre Schläfen hinaufstieg. Dann kam Lea, die Mutter, in reichem, pelzverbrämtem Kleide, das ehrbar langfaltig auf ihre Füße hinabfloß. Sie klatschte in die Hand und es öffnete sich die Thür. Herein traten die Dienerinnen in schmuckem Gewande und trugen in silbernem Geschirr dampfende Speisen auf den Tisch. Sie stellten vergoldete Pocale vor die Wartenden und sprengten wohlduftendes Oel durch das Zimmer, eifrig häuften sie Weihrauchstauden im Kamin und entzündeten sie, daß ein feiner köstlicher Rauch wie Nebelschleier den Plafond des hohen Gemaches umzog. Nun winkte der Hausherr, die Mägde verneigten sich und gingen, und sie saßen vergnüglich um den Tisch, auf dem seltene Blumen mit tiefrothem Kelch wie Mädchenlippen verstohlen sich leise bewegten. Schattenlos lag die Freude auf allen Wangen, sie aßen den lecker bereiteten Salm, der statt des Wassers frischgrünendes Kraut zwischen den Kiemen hervorschnob; nach dem Wasser entsandte die Luft ihren Tribut, Tauben und Feldhühner kamen auf Platten von edlem Metall und verschwanden wieder; sie aßen Pasteten und feinen, duftreichen Kohl, dann erschien auf gewaltiger Schüssel ein Kalb, unzerstückelt gebraten und wohlgemästet wie jenes, das den verlorenen Sohn bei der Heimkehr empfing. Doch sie kosteten nur von dem braunen, würzedurchzogenen Rand, denn sie waren gesättigt, und Lea rief die Dienerinnen und hieß sie das Kalb nehmen und zu der harrenden Menge hinübertragen auf den Markt. Behaglicher streckten sich nun alle auf die schwellenden Polster, der Wein durchkreiste freudig und feurig ihre Adern und öffnete weit das Herz. Auch die Frauen tranken lebhaft und erheiterten mit Scherz und Gelächter das Gespräch. An die Schulter des Jünglings streifte Tharah's dunkles Haar und er hielt den Arm um ihren Leib und tastete mit dem Finger über die Juwelen ihres Gürtels. Manchmal machte sie eine Bewegung sich aufzurichten, doch er zog sie zurück und ihre Augen glänzten Widerspruch zu ihren Worten. Lachend saß Lea, die Mutter; der alte Caleb schlürfte den Wein zwischen den Lippen und prüfte ihn mit der Zunge und sagte:

»Hellem, mein Sohn, es ist Zeit, daß du freist und vermehrest unser Geschlecht. Gesegnet ist mein Haus, und auf welche Dein Auge fällt, kannst Du begehren. Ich will gehen und werben für Dich; sie werden Caleb nicht von der Thür weisen, wenn er kommt zu werben für seinen Sohn. Willst Du die Tochter des reichen Gomer, oder willst Du Miriam, das Kind Asser's, von dem der Erzbischof von Cölln leiht Judengold, zu errichten seine Christentempel. Oder hast Du gefunden in Frankfurt, oder sonst eine Tochter aus unserm Volk, die Dein Herz wünscht? Ich will den Wein trinken zu ihrem Wohl und will werfen eine Perle in das Geräth, daß der Vater soll aussagen, daß sie kann kommen von niemand anders als von dem Sohn des alten Caleb.«

Tharah's schwarze Brauen zogen sich etwas zusammen bei den Worten des Vaters, sie richtete sich plötzlich auf und. entfernte den Kopf von der Schulter des Jünglings. Doch dieser lachte fröhlich auf und erwiederte:

»Habe Dank, Vater, und vergieb mir, wenn ich die Tochter des reichen Gomer verschmähe, und das Kind Asser's mein Herz nicht rührt. Niemand hat mein Herz gerührt bis zum heutigen Tage, auch nicht in Frankfurt oder sonst wo ich gewesen. Aber wenn es geschehen, da komme ich zu Dir und bitte, daß Du um mich werbest, und die ich gewählt wird nicht abschlagen, um was der Vater sie bittet.«

Er lachte wie er es gesagt, und der alte Caleb schmunzelte und trank mit vergnügten Augen den eingeschenkten Wein. Auch Tharah lachte und ihr Kopf bog sich versöhnt an seine frühere Ruhestatt zurück, aber am Lautesten lachte Lea und rief:

»Du heißest ihn Vater zu früh, es ist gut, daß er nicht ist Dein Vater, Hellem, und daß ich nicht bin Deine Mutter –«

Sie stieß es achtlos in ihrer Fröhlichkeit heraus, sie hätte es gern zurückgehabt als es kaum gesprochen. Doch es war schon zu spät und ein Schatten hatte sich über die heitere Stirn des Jünglings gedrängt, sein Gesicht ward ernst und er fragte:

»Habt ihr von meinem Vater gehört durch die sieben Jahre?«

Caleb warf einen zornigen Blick auf Lea, die den Kopf senkte, und griff sich heftig in den Bart: »Ich habe nichts vernommen von Isaschar, dem Sohn Samai's,« antwortete er schnell, »als daß er ist in die Welt gegangen mit seiner Schande, und ist verschollen unter unserm Volk, es sind nun zwei und zwanzig Jahr. Es ist nicht sein Name genannt worden in meinem Hause bis heute, und es ist wohlgethan, daß er nicht werde genannt wieder. Ich werde Dir sagen zu seiner Zeit, mein Sohn Hellem, warum, da Du bist gekommen in die Jahre um es zu begreifen, und da einmal der Name ist aufgerührt worden von Lea, die das Schicksal hatte ihm gestellt auf den Weg, daß er mußte verderben. Ich will nicht lügen, und sagen was ich weiß, und daß ich vernommen, daß Isaschar, der Sohn Samai's ist gezogen gegen Süden und soll gestorben sein in diesem Jahr an einer Krankheit, welche haust in den Bergen.«

»An der Pest?« rief der Jüngling schmerzlich, »ist mein Vater an der Pest gestorben?«

»Ich weiß nicht, ob sie heißt Pest, die Krankheit,« fiel der Alte rasch ein, »aber ich hab' gehört, daß er ist gestorben daran, und beerdigt unter einem Kreuz und daß es gut ist für ihn. Laß uns nicht mehr davon reden, mein Sohn Hellem. Du kannst nicht haben Trauer um einen Menschen, den Du nicht gekannt und der Dir nicht hat Gutes erwiesen als daß Du lebst. Ich will Dir mittheilen Alles, wenn Du mich frägst, warum er ist ausgestoßen aus seinem Volk und von mir, der ich doch der Sohn bin von Samai, seinem Vater, daß er hinging, und hat gelebt mit einer Christin, die er verlassen, und die gestorben ist im Wochenbett, daß ich Dich heimlich zu mir genommen, da Lea, mein Weib unfruchtbar gewesen bis zu der Zeit, und Dich aufgezogen als meinen Sohn. Laß uns reden jetzt von etwas Anderem beim Wein, denn unser Herz soll heute fröhlich sein und guter Dinge. Sag' mir, was es ist mit der Pest, von der Du gesprochen und was es hat auf sich damit. Es ist Einer weit heraufgekommen aus den Bergen, der davon gewußt hat und gesagt, es sei tödtlich die Krankheit, wenn ein Mensch sie hat, und nur ansehe einen andern Menschen. Ich aber habe bei mir gedacht, da ich hörte, daß die Krankheit unser Volk verschonte, daß es sei wie die schwarzen Blattern, mit denen der Herr die Knechte des Pharao schlug und habe mich gefreut in meinem Herzen, daß es sei eine Rache von ihm an den Christen für die Bedrückung von unserm Volk.«

In Hellem's Seele drängten sich die Gedanken. Ein Geheimniß lag über seiner Entstehung, das er nie vernommen, nach dem ihn in Kindertagen nie zu forschen und zu fragen verlangt. Er wußte stets, daß der alte Caleb nur sein Oheim sei, doch er nannte ihn Vater und die freundliche Lea seine Mutter; es stand, so weit er zurückdenken mochte, kein anderes Bild vor seinen Augen, das ihn erinnernd an sich zog. Jetzt plötzlich übermannte es ihn mit schmerzlicher Sehnsucht, die Nacht, welche seinen Ursprung umgab, zu erhellen; er fühlte einen dumpfen Schmerz in der Stirn und sonderbar unstäte Gesichter gaukelten vor ihm auf und reizten und ermatteten ihn, doch er gehorchte der Mahnung des Vaters und scheuchte sie zurück. Und allmälig stahl wieder ein Lächeln sich auf seinen Lippen, wie Jener weiter redete. Halb schelmisch und halb wehmüthig-traurig, wie der Alte vertrauensvoll auf den Herrn, den gewaltigen Jehova, baute, an dem sein Glaube, trotz der tausendjährigen Heimsuchung, nicht wankte und nicht wich, – auf den treuen Gott des treuen Volkes, an dem er unerschütterlich hing, und den Bruder verfluchte, der von ihm gefallen, wie die Kinder des alten Bundes ihrer Sippe fluchten, die sich von Moses Gesetz fremden Götzen zugewandt, – von dem er glaubte, daß er die Pest in die Welt gesendet, um die Schmach Israels zu rächen an seinen Unterdrückern.

Schmerzlich wehmüthig lächelte der Jüngling. Welch' entsagungsvolle Zuversicht, welch' zähe Demuth, welche zukunftsfreudige, stolze Siegeshoffnung saß hier harrend und wartend zusammengepreßt in der engen Judengasse zu Cölln. – –

Anders war draußen die Welt, er wußte es. Er hatte sie gesehen und sie hatte Zugang zu seinem Herzen gefunden. Sein Aeußeres hatte ihn begünstigt, daß er unerkannt unter Christen zu leben vermochte, – war es das abendländische Blut der Mutter, das in seinen Adern floß, abgesunken von seinem Haupt war der starre Glaube und die ehernen Formen, in denen er auferzogen. Sie lagen hinter ihm, wie die träumerische Thorheit eines zagenden Kinderherzens, aber mit tausend Banden hing dies Herz an den Lippen, von denen jene Lehren ihm zuerst ertönt, und er ehrte ihren Glauben und die Sitte der Väter, an die ihr Gemüth sich klammerte, wie an einen Halm im stürmischen Meer des langen Elends, und ein alter Schauer aus Jugendzeit durchrann ihn bei den heiligen Bräuchen, die er einst gläubig und hingebend befolgt, wie sie. Unendlich viel schwebte hastig an ihm vorüber, und traurig lächelnd versetzte er auf die Worte des alten Caleb:

»Nein, Vater, auch unser Volk trifft jene Krankheit, die aus dem Morgenlande gekommen wie wir. Viele hat sie schon in Frankfurt hingerafft in der Judengasse, und sie sind zusammen in eine Grube geworfen, weil Niemand wagen wollte, sie zu bestatten; denn wie Du sagst, sie ist tödtlich schon durch den Blick, der Hauch schleppt sie weiter, die Freundschaft tödtet mit einem Druck der Hand und die Liebe mit dem Kusse der Lippen.«

Aufmerksam horchten die Frauen; in Lea's Gesicht lag Freude, daß sich das Gespräch von dem Gegenstande abgewendet, auf den ihr unbedachtes Wort es gebracht. Tharah hatte sich emporgerichtet und blickte dem Geliebten mit zärtlichen Augen ins Antlitz; sie schüttelte den Kopf und sagte lächelnd: »Die Liebe kann den Tod nicht bringen,« und neigte sich zu dem schönen Jüngling hinüber, auf dessen Wangen die Gesundheit und das Glück blühten. Fröhlich wieder schlürfte der alte Caleb den rothfunkelnden Wein und sagte langsam:

»Glaube mir, mein Sohn Hallem, es ist, wie es war, als der Herr Moses gebot, die Hand aufzurecken, daß die Pestilenz kam über das Vieh und die Menschen in Aegyptenland, und wie er zum andernmale die Hand aufreckte, fiel der Hagel vom Himmel und Ungeziefer kam mit ihm und verwüstete die Felder –«

Es waren Tharah's Augen, die den Jüngling übermüthig gemacht, und er lachte und fiel dem Alten ins Wort:

»Sie sind schon gekommen, Vater, denn als ich vor dem Thore stand, kamen Heuschrecken durch die Luft und warfen sich über mich und fraßen das Korn vor meinen Augen –«

»Und als er zum andern Male die Hand aufreckte,« fuhr der Alte in singendem Tone mit weinschwerer Zunge fort, »da ward alles Wasser zu Blut, daß der Strom stinkend ward und die Fische starben im Strom –«

»Der Rhein floß noch glänzend, als ich vorüberschritt, Vater,« lachte Hellem, »und der Salm, den wir heute gegessen –«

Er brach plötzlich ab und starrte ängstlich vor sich hinunter. Seine Pupillen erweiterten sich und ruhten mit unheimlich stierem Ausdruck auf dem rothen Blutstropfen, der vor ihm auf die weiße Damastdecke des Tisches gefallen. Todtenblässe überzog sein Gesicht und der Schweiß brach von seiner Stirn. Langsam rollte er in glänzenden Perlen hernieder und langsam mit ihnen rann zum andern Male ein dunkler Tropfen aus den zitternden Nüstern des Jünglings und fiel, von den Uebrigen unbemerkt, vor ihm auf den Tisch.

Nur Tharah sah, daß eine Veränderung in dem Gesichte des Bruders vorging und neigte sich liebevoll zu ihm. Ihr dunkles Haar legte sich an seine Schläfe, – »küsse mich, mein Freund,« lispelte sie zärtlich, »denn Dein Kuß ist mein Leben.«

Weich, mit unendlich süßer Sehnsucht klangen die Worte in sein Ohr und umschmiegten ihn, wie die lieblichen Arme, die seinen Nacken umfaßten, und er fuhr auf aus der starren Betäubung, die ihn ergriffen, und stieß wild das Mädchen zurück und sprang auf von seinem Sitz. Sein Auge irrte wie wahnsinnig über die Gesichter, die sich verwundert, sprachlos auf ihn richteten, als wollte es durchdringend in ihr Inneres hinabsehen, und dann wandte es sich plötzlich wie von neuen Gedanken entsetzt ab und schweifte in die Luft. Gewaltsame Ruhe zwang er über die verstörten, leichenhaften Züge, und er sagte leise, abgekehrt, als fürchte er den Hauch, der seinen Lippen entströmte:

»Der Wein hat mich betäubt, ich will Luft schöpfen auf der Straße. Sucht mich nicht, ich komme zurück, wenn mir besser ist. Zündet ein Feuer von Weihrauch im Kamin und unterhaltet es fleißig und öffnet die Fenster –«

Er rief es in der Thür und verschwand. Wie ein vom Hahnenschrei aufgescheuchtes Gespenst flog er die Treppe hinunter, auf die Straße in die dunkle Nacht hinaus. Alle seine Glieder waren von Todesmattigkeit durchkältet, gelähmt, sein Athem keuchte, sein Denken verwirrte sich und schwankte fieberhaft wild und irr wie die Gedanken eines Anderen an ihm vorbei. Nur ein Entschluß stand vor seiner Seele, den er mit der Kraft des Willens festhielt, und er eilte vorwärts, den Weg zurück, den er in der Dämmerung gekommen, wie das auf den Tod getroffene Wild mit brechenden Füßen das dickichtumwobene Lager aufsucht, auf einsamer Stätte sein Leben auszuhauchen. Anders floh er davon und nach anderem Ziel, es war der einzige Blitz, der aus seinem Geiste, über den die Nacht hereinbrach, aufzuckte und den lichtlosen Pfad vor ihm erhellte. Die Judengasse hinunter, immer hastiger, immer angstgepeitschter; seine Brust stöhnte und er stürzte zu Boden, ein Blutstrom brach aus seinem Innern und quoll über seine Lippen. Er raffte sich auf und eilte weiter, mit schwirrender Geißel saß der eine Gedanke in seinem Nacken und trieb ihn vorwärts – – da lag das geschlossene Thor vor ihm, kein Ausweg in der Höhe, zur Seite, und er stieß mit dem Kopf wider das eiserne Gitter und brüllte vor Verzweiflung. Er rüttelte an den Stäben, daß sie krachten und sich bogen, aber sie wichen nicht. Er fühlte, wie seine Kraft verrann, wie es vom Herzen erstarrend herauszog und er schrie wie nur der Wahnwitz, wie nur der Jammer der Liebe schreit, da kam ein Licht aus dem Thorhause, und ein Mensch mit langem, schlotterndem Rock, an dem ein Schlüsselbund widerklirrte. Er trat in die Thür und fragte näselnd, wer durch die Nacht schreie und lärme –

»Ich bin krank, ich muß hinaus,« stöhnte Hellem athemlos, »öffne –«

»Wenn Du bist im Ghetto um diese Stunde,« antwortete der Hüter, »so mußt Du sein von unsrem Volk, und weißt; daß ich nicht darf offen machen die Thür, und bötest Du mir tausend Goldgülden, weil die Christen würden Rache nehmen dafür und das ganze Volk strafen, daß ich hätte übertreten ihr Gesetz.«

»Oeffne,« jammerte der Jüngling, »und Dein Volk wird Dich segnen –«

»Wenn Du bist krank,« sagte der Thorwart mitleidig näher tretend und mit der Lampe das Gesicht des Fremden beleuchtend, »so gehe zu Thubal, welcher ist mein Vetter und ein großer Heilkünstler in unsrem Stamm –«

Aber Hellem ließ ihn nicht ausreden, er packte den Arm des Juden und schleuderte ihn gegen das Thor.

»Oeffne,« ächzte er mit letztem Athem, »denn ich tödte Dich und Dein Volk, – ich selbst bin der Tod – ich habe die Pest –«

Der Thorwärter stieß einen dumpfen Schrei des Entsetzens aus, die Lampe entfiel seiner Hand und erlosch, mit zitternden Fingern tastete er nach dem Schlüssel, und die Angel kreischte auf, und er fühlte schaudernd, wie der Körper des Jünglings an ihm vorbeifiel und in dumpfem Sturz auf den Steinrand des Christenbrunnens zusammenbrach, der das Ende der Straße begrenzte.

Es war das Letzte was Hellem vernahm. Er hörte noch, wie der Alte hastig das Thor hinter ihm zuschlug, daß es dröhnend durch die Nacht verklang, und einsam, blutbedeckt und sterbend lag er draußen in der Christenstadt, bleischwere Finsterniß zog über seine Augen und die Besinnung verließ ihn.

 

*

 


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