Wilhelm Jensen
Dietwald Werneken
Wilhelm Jensen

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Neuntes Kapitel.

Der Brief Jordan Warendorps übte eine tief erschütternde Wirkung auf Dietwald Werneken aus. Mehr als er selber gewußt, hatte der Wiederbeginn des alten hansischen Ansehens aus Vorväterzeit ihm am Herzen gelegen und heimlich-unbestimmte Hoffnung darauf sich in ihm an den neuen Burgemeister Lübecks geknüpft gehabt. Nun war's, als ob plötzlich die Sonne im Westen untergehe und lange, dunkle Schatten bis in den erwachenden Frühling des fernen Ostens herüberwerfe. Ein fröstelnder Schauer hatte den jungen Ausbreiter der evangelischen Lehre zu Nowgorod bei der zweimaligen Mitteilung des Briefes über das weltliche Verhalten der lutherischen Prediger in den Städten überronnen und ihm manchen Tag auch die Freudigkeit an seinem eigenen Wirken mit einem Schatten durchkältet. Ihm kam halb schreckhaft Böske Westerlings gleichmütige Rede ins Gedächtnis, Menschenwort sei das eine wie das andere. Aber dann floß ihm frischer Mut, indem er sich tröstete, nur halb enthalte der Spruch des Alten Wahrheit; daß Menschen wohl hüben und drüben eitel, schwach und verblendet seien, doch das reine, befreiende Wort bleibe, seiner irdischen Schlacken ledig geworden, in göttlicher, untrüblicher Klarheit bestehen. Für dieses, wie es in ihm selber lebe, Anhänger zu werben, bilde noch in gleicher Weise seines Erdenberufes höchste Aufgabe und besten Lohn, fast mehr noch als zuvor, da die Botschaft vom Westen her jede Wunschesregung in ihm erstickt hatte, in die dortige, ›mit großer Falschheit umgehende Welt‹ zurückzukehren. Tröstlich lag gegen diese die friedfertige Stille der verödeten Stadt um ihn. In der gleichmäßig ruhevoll aufblühenden, hinwelkenden und in den langen Winterschlaf zurückfallenden Natur, unter dem treuherzig-einfachen, ihm immer mehr mit vollstem Vertrauen anhängenden Rest der deutschen Bevölkerung empfand er sich bei dem Gedanken an die niedrige Gesinnung, Arglist und Begier drüben beinahe wie in einer Heimat, und verdoppelten Eifers nutzte er den neu begonnenen Sommer zur Weiterförderung des geistigen und leiblichen Wohles seiner Landsleute. Selbstverständlich war Elisabeth Warendorp auch mit dem Aufhören des Schnees nicht in den Wald zurückgekehrt, sondern als Wirtschafterin in seinem Hause verblieben und nahm in noch erhöhterem Maße als früher seine Unterrichtstätigkeit in Anspruch, damit sie späterhin in deutschen Landen nicht an Kenntnis hinter andern ihres Standes und Geschlechtes zurückstehe. Er hatte den livländischen Knechten bei ihrer Rückkehr nach Dorpat ein Antwortschreiben an Jordan Warendorp mitgegeben, darin er Kunde von dem Auffinden einer leiblichen Base desselben übermittelt, die er ihm zu kommender Zeit in sein Haus führen werde. Noch begehrte das Mädchen keineswegs danach, sondern hörte mit bänglicher Miene drauf, wenn er von dem künftigen Verlassen Nowgorods und ihrem Verbleiben im Hause des Vetters zu Lübeck sprach, wie sie nicht traulichern und bessern Aufenthalt auf Erden finden könne. Elisabeth meinte dagegen, solcher sei für sie hier im alten Kaufhof, sie wünsche sich nicht andern; weder zur Sommerzeit noch im Schnee könne es an einem Ort in der Welt heimlicher sein. Dietwald versetzte drauf: »Weil du nicht andern kennst als diesen; deine Augen werden sich gar freudig verwundern, wenn sie die Stuben in der Dankwardsgrube gewahren. Und, mich deucht, mehr als andere muß es dich nach deinem Vetter verlangen, dich unter einer Sippschaft deines Blutes gesichert zu fühlen.«

Elisabeth hob zögernd den Kopf und erwiderte: »Ihr seid ja auch mein Vetter –«

Er entgegnete: »Weit her, nicht mit dem Namen zu heißen;« aber sie fiel ein: »Mich deucht, grad' so, wie Herr Jordan Warendorp, denn er stammt von der gleichen Ältermutter mit mir. Wenn Ihr ihn Euren Vetter benennt, müßtet Ihr auch mich Eure Base heißen.«

Dietwald Werneken lachte: »Du willst mir Zeugnis ablegen, daß du bei der Rechenunterweisung wohl aufgemerkt hast. Ich vermag nichts dawider zu reden, Base Elisabeth; laß uns denn einstweil gute Sippschaft selbander halten, bis daß ich dich unter deines wirklichen Vetters Obhut geliefert.«

Daß aber in ihrer Blutsverwandtschaft keine Täuschung waltete, hatte der Pechler sogleich gesprochen, als er mit hochfrohem Erstaunen zum erstenmal die Kunde der überraschenden Entdeckung vernommen. Sein wasserblaues Auge verweilte prüfend auf dem Gesicht des jungen Kaufmanns, dann nickte er: ›Ist kein Trug dran, seid aus einer Wurzel mit ihr gewachsen, Herr Werneken, die ihre Arme weit durchs Erdreich verzweigt. Scheinet Euch wenig gleich zu sehen, daß man sonder Vermutung keine Ähnlichkeit finden mag. Doch wer solches Vorwissen erlangt, dem redet's etwas deutlich aus Eurer beider Angesicht. Nehmet Ihr zwei Schößlinge von einem alten Stamm und verpflanzet sie in unterschiedlichen Boden, gutes Land und Gestein, gebet ihnen andern Wind und andere Sonne, da wachsen sie an Größe und Gestaltung auch in gar mannigfaltiger Verschiedenheit auf. Aber doch bewahren sie ein Gemeinsames ihrer Art; wessen Blick das ausgefunden, verbleibt nicht in Zweifel, daß sie vom gleichen Lebenssaft ausgeflossen. So kündet sich's aus Euren Antlitzzügen, und es hat nach dem Ratschlusse desjenigen geschehen müssen, dessen Wille und Hand über uns ist, daß Ihr hierhergekommen, Eure Sippe unter besserer Hut gedeihen zu lassen, als sie bei uns geraten. Dafür weiß ich ihm Dank, daß ich gernwillig bereit bin, mich in den Schnee zu legen und darunter abzuwarten, was er weiter fügen mag, denn das Leben bedeucht mich als eine Arbeit, die geringen Lohn trägt. Ihr aber habet guten Gewinn von Eurer Handelsfahrt getragen, Herr Werneken, den Ihr wohl noch einmal höher schätzen mögt als heut. Solltet ihn alsbald in Sicherheit bei Euch daheim bergen, wie man ein Lamm nicht im Walde unter den Wölfen belaßt. Ich rate Euch solches fürwahr nicht, weil es mir leichtfällt, Elisaweta nimmer alsdann mit meinen Augen zu gewahren. Doch ich bin von Kindesbeinen in diesem Land erwachsen und weiß, daß es nicht gedeihlich für Euer beider Art ist. Es liegt wohl eine geraume Weile mit Friedfertigkeit drüber, aber in einer Nacht einmal brechen Stürme herein, gar wilden Geschnaub's, keiner weiß es vorher, eh' der böse Wind über ihm heult.«

In Dietwald Wernekens Gemüt traf gar mancherlei zusammen, das ihm die letzte Mahnung des Alten von Tag zu Tag im Gedächtnis wachrief. Er hatte im Fortschritt dieses Sommers mehrfältig Anzeichen wahrgenommen, daß die Geistlichkeit sowohl der russischen als der römischen Kirche zu Nowgorod, welche bisher seine Anwesenheit völlig unbeachtet gelassen, Aufmerksamkeit auf die sonntägliche Zusammenkunft der Deutschen im Kaufhofe zu verwenden begonnen, und es war ihm hinterbracht worden, daß der päpstliche Priester sogar auf der Kanzel seiner Gemeinde Verbot und Strafandrohung in bezug auf die Teilnahme an jener nachmittäglichen Vereinigung auferlegt habe. Unter solchen Bewandtnissen erschien es dem jungen Kaufmann aber ratsam, eine möglichst rasche Vollendung seines Werkes herbeizuführen, damit kein Wiederabfall von der evangelischen Lehre in den Gemütern der innerlich Bekehrten eintreten könne. So faßte er den Entschluß einer Reise nach Dorpat hinüber, um von dort mit einem lutherischen Prediger zurückzukehren, der die hinlänglich Vorbereiteten nach den kirchlichen Vorschriften mit feierlichem Bekenntnis in den Bund der gereinigten Glaubenssatzungen zu einer festgeschlossenen Gemeinde aufnähme. Von Dorpat aus sollte alsdann Elisabeth eine Schiffsgelegenheit benutzen, um nach Lübeck zu gelangen, und Dietwald sagte sich, daß es sich ihm noch als eine dritte Pflicht hinzugeselle, mindestens einige Tage im Hause Goswin Wulflams zu verweilen, um dem Hochbejahrten noch einmal seinen Dank für die so vielfältig betätigte väterlich-herzliche Gesinnung zu sprechen. Besonders dies letztere Vorhaben drängte ihn mehr und mehr zu eilender Zurüstung für die weite Fahrt; es befiel ihn mit einer wachsenden Ängstlichkeit, daß der alte Herr aus dem Leben scheiden könne, ehe die Rückkunft seines Gastes ihm noch einigen freudigen Trost mit ins Grab gegeben – welcher Art, war Dietwald Werneken nicht deutlich, doch in seiner Brust klopfte es mit rascherem Schlage, wenn er der Ankunft in Dorpat gedachte. Sobald er die nötigen Vorkehrungen getroffen, im Beginn des Septembermondes wollte er aufbrechen. Dann blieb noch ausreichende Zeit zur Rückkehr nach Nowgorod, bevor der Winter einfiel und den Weg mit Schnee versperrte.

Doch es geschah nicht nach dem Plan, den er entworfen. Menschenberechnung und Wunsch hatten ihn ausgesonnen, aber ein stärkerer Wille trat ihm entgegen. Zwei Tage vor dem festgesetzten Reiseaufbruch überlief es Dietwald Werneken bei seinen emsigen Zurüstungen einigemal mit einem wunderlichen Schaudergefühl; als er an seiner Arbeit noch eine Weile fortgefahren, befiel ihn in der heißen Mittagssonne plötzlich ein zähneschlagender Frost. Es zog ihm schwarz an den Augen vorüber, kaum besaß er noch die Kraft, aus dem Pelzraum, wo er bei der Verpackung von Biberfellen beschäftigt gewesen, in seine Stube zu gelangen und dort auf seine Lagerstatt hinzufallen. Da verwandelte sich die Eiseskälte seiner Glieder in brennende Glut, wie siedendes Öl, das von einem Hammerwerk immer schneller getrieben wurde, strömte das Blut ihm nach dem Gehirn und überschwemmte alles darin, auch den mit tausend Nadeln bohrenden Schmerz, zu todesgleicher Bewußtlosigkeit.

Dann kam ihm zum erstenmal eine dumpfe Empfindung, aus der langsam eine verschwommene Gedankenvorstellung herauswuchs. Er hatte unendliche Zeit lang im Grabe gelegen, nun war er an einem andern Ort, er wußte nicht wo, denn der wechselte unablässig, doch manchmal sah und hörte er wieder. Häufig saß er mit Jürgen Wullenweber und Marx Meyer in fremden, rätselhaften, sonderbar beleuchteten Gegenden; sie beide, und er selber mit, klirrten ganz von Eisenrüstung, und plötzlich bewegte sich der Boden schwankend auf und nieder, denn es war ein Schiffsdeck, wildes Gerassel und Geschrei tobte auf, doch Jürgen Wullenwebers mächtiger Stimmruf übertäubte alles: »Wo bist du, Klaus Warnow, daß ich dir die Totenglocke der Hanse um deinen Schurkenhals binde und dich mit ihr ersäufe!« Da war er selber der verräterische Admiral, ein furchtbarer Stoß traf seine Brust, er stürzte rücklings in die Wellen, sank, und wie heulende Glocken brauste das Wasser ihm ins Ohr. Dann hob jedesmal die Hand Erdmute Warendorps ihn beim qualvoll erstickenden Versinken aus der Tiefe herauf und bettete ihn sanft auf einen warmen, sonnigen Rasenhang –

Woher kam sie stets im Augenblick der höchsten Gefahr? Oder war sie immer da und wartete, nur daß er sie zu anderer Zeit nicht sah, als in seiner Todesnot?

Manchmal verschloß das Wasser ihm auch die Lider zu fest, um sie öffnen zu können. Doch dann fühlte er, daß ihre Hand ihn rettete. Er kannte sie ganz genau, es gab keine andere, die ihr gliche. Nur hegte er in sonderbarem Irrtum immer wieder die Meinung, sie müsse sich rauh und hart anfühlen, und jedesmal doch war sie weich und zart. Sie brauchte sich nur auf seine Stirn zu legen, so hob sie ihn empor, und er ruhte friedlich und schmerzlos auf dem grünen Strand.

Oder hatte er von allem dem nur oftmals geträumt und befand sich gar nicht im Schlachtgetümmel und Meergewoge, sondern lag ausgestreckt auf einem Bett? Erdmute Warendorp kam auch nicht mehr, jemand anders hatte ihre Stelle eingenommen. Obwohl ihn jetzt immer tiefe Ruhe umgab, fehlte ihm etwas. Er wäre lieber ab und zu wie früher in dem Wellengetose versunken, damit die weiche Hand sich wieder auf seine Stirn gelegt und ihn sanft emporgehoben hätte.

Es verging noch lange Zeit, dann kam Dietwald Werneken das Bewußtsein, er sei krank und liege in Fiebereinbildungen. Die Erinnerung kehrte ihm, daß er im Lagerraum bei der Arbeit von Frost und Ohnmacht befallen worden, bis an sein Bett gelangt und darauf niedergesunken sei. So lag er noch jetzt, mutmaßlich seit manchen Wochen, und alles war nur ein Gaukelspiel seines kranken, brennenden Hirnes gewesen. Elisabeth mußte ihn in der Besinnungslosigkeit gefunden haben – wie er sein Denken gewaltsam anstrengte, gewahrte sein Gedächtnis einen Augenblick die lange Gestalt und das grauumhaarte Gesicht des Pechsieders über das Bett herabgebückt. Offenbar hatte sie ihn in ihrer Ratlosigkeit herbeirufen lassen. Soweit war ihm ein Besinnungsvermögen zurückgekommen, doch obwohl sein Kopf sich völlig ohne Schmerz fühlte, trieb ihm vor den Augen das Fieber noch immer Einbildungsgestalten auf. Er hatte die Lider weit geöffnet und sah zum erstenmal alle Dinge der Stube in einem rötlichen Spätnachmittagslicht deutlich vor sich. Aber an seinem Lager, mit zusammengelegten Händen, schweigsam gegen das Abendrot hinausblickend, saß Folka Wulflam.

Er wußte, daß sie es nicht sei, sondern ein noch fortdauernder Betrug seiner fiebernden Sinne. War es überhaupt in Wirklichkeit ein Menschenwesen oder nur ein von ihm selber aus leerer Luft gebildetes Hirngespinst?

Darüber sann er nach, indem er sich sagte, wenn es unbeweglich bleibe, sei es das letztere, und sein Blick blieb regungslos darauf haften. Geraume Zeit, dann konnte er sich nicht täuschen, es saß etwas leiblich Lebendiges vor ihm. Eine Brust hob sich atmend auf und nieder.

Das Denken fiel ihm noch schwer, aber allmählich schritt er doch zu der Erkenntnis vor, wer es einzig sein könne, den seine Wahnvorstellung mit den Zügen Folka Wulflams bekleide. Und zugleich kam ihm etwas, das ihm zuvor noch nie in den Blick gefallen; aus dem Gesicht, der Erscheinung seiner Hausgenossin rede, seitdem sie den weißen Pelzrock abgelegt, dann und wann ein Zug, der in Wahrheit an einen ähnelnden im Antlitz Folka Wulflams gemahne. Das unterstützte offenbar die einbildnerische Täuschung; es dauerte noch eine Weile, bis er sich soweit als Herr über seine geringe Kraft empfand, eine Bewegung ausführen zu können. Nun hob er langsam die Hand nach derjenigen der neben ihm Sitzenden und brachte halbflüsternd von den Lippen:

»Elisabeth –«

Sie hatte seine Armregung nicht bemerkt und bebte schreckhaft zusammen, doch ihm war bei dem Versuch zu reden die Sprachfähigkeit besser als er vermutet erwacht, und er fügte kräftiger hinterdrein:

»Ich war wohl lange krank, Base Elisabeth, und deine Hand hat mich sorglich behütet?«

Da flog die Sitzende auf und stieß aus: »Redet Ihr noch immer von Sinnen und kennt mich nicht?«

Das traf ihn wie ein Schlag wider die Stirn, der ihn jählings in Bewußtlosigkeit zurückzustürzen drohte. Es war nicht nur Folka Wulflams Antlitz und Gestalt, sondern auch ihre Stimme. Er suchte den machtlosen Kopf aufzurichten; nun sprach sie rasch: »Legt Euch zurück. Ihr seid noch zu schwach.«

Erschöpfung zwang ihn, ihr Geheiß zu befolgen, er lag einige Augenblicke mit geschlossenen Lidern, dann wußte er, daß es keine Fiebereinbildung mehr, sondern Wirklichkeit sei, und er fragte mühsam aus seinen umirrenden Gedanken heraus:

»Ihr habt Euren Oheim verlassen?«

»Er hat mich verlassen –«

Es war ihr entflogen, der Ausdruck ihrer Miene sprach, daß sie drüber erschrak. Der Kranke öffnete die Augen und sah sie halb abwesenden Blickes an. »Er ist gestorben?«

Folka Wulflam nickte. »Sanft und still – regt Euch nicht auf – wenn Ihr kräftiger seid, sag' ich Euch seinen letzten freundlichen Gruß.«

Das Sprechen fiel Dietwald wiederum schwer, nur halb verständlich brachte er, sie mit dem Blick umfassend, hervor:

»Und Ihr saßet hier – und die weiche Hand, die mich immer aus den Wellen heraushob, war die Eurige?«

Sie schwieg eine Sekunde lang, dann erwiderte sie hastig: »Ihr sehet, ich saß bei Euch –«

Abbrechend fügte ihr Mund noch eine Mahnung zur Ruhe drein, doch er vernahm sie nicht mehr, denn eine linde Ohnmachtsbetäubung hatte ihm die kurze Besinnung wieder genommen.

Wochen verrannen noch, ehe Dietwald Werneken das Bett verlassen konnte. Als er sich zum erstenmal erhob, um schwankenden Fußes in das Nebengemach hinüber zu gehen, tanzte draußen ein zierliches, leichtes Flockengegaukel durch die Luft. Die meisten Sternchen zergingen, wo sie den Boden berührten; es war noch nicht Winter, aber er kündigte sich an. Fast zwei Monate hatte der Kranke in wildem Fieber, dann in tiefer Mattigkeit und langsam vorschreitender Genesung gelegen; auf einen Stock gestützt, betrat er die Wohnstube, in der Elisabeth Warendorp und Folka Wulflam sein Kommen erwarteten.

Er wußte, wie die letztere hierher gelangt sei. Nach dem Begräbnis ihres Oheims war sie von Dorpat zu Pferde aufgebrochen und im Geleit einiger Knechte eines Abends im gotischen Kaufhof eingetroffen. Goswin Wulflam hatte noch in seiner friedlichen Todesstunde oftmals von Dietwald geredet und mehrfach die Besorgnis ausgesprochen, daß dieser des Geldes für das nach Dorpat übersendete und dort verwertete Buntwerk benötigt sei, zuletzt die Hand seiner Bruderstochter mit der Bitte gefaßt: »Willst du mich in Ruhe sterben lassen, so gelob' mir, es ihm zu bringen.« Dann war er seufzerlos hingeschieden und Folka in den Sattel gestiegen, die dem Sterbenden geleistete Zusage zu erfüllen. Sie wußte, daß sie ihre übernommene Pflicht keiner andern Hand vertrauen durfte, um der sichern Ausführung gewiß zu sein, und so war sie gekommen, erstaunt, Elisabeth hier zu finden und zu vernehmen, wer diese sei. Und nicht minder staunend hatte die letztere die Ankunft der fremden Reiterin begrüßt. Als sie eingetreten, war schon dämmernder Abend vom Himmel gefallen, und in dem ungewissen Schein hatte Elisabeth im ersten Augenblick vermeint, es sei eine Schwester Dietwalds, von der sie nie gehört. Erst bei heller Beleuchtung war ihr völlig die Ähnlichkeit an Gestalt und Zügen zerronnen, so daß sie nachher nicht mehr begriffen, wie das Zwitterlicht und wohl auch die Überraschung ihr solche vorgaukeln gekonnt.

Nun saßen sie zu dreien beisammen, Dietwald Werneken war's gleich einem, der im Traum sieht und hört. Er fragte, ob er sich getäuscht, daß der Pechler an sein Bett gekommen, und Elisabeth erwiderte, sie habe in ihrer Not nach dem Alten geschickt, er sei lange Zeit Tag und Nacht im Hause verblieben und nur fortgegangen, um im Walde Kräutersäfte zum kühlenden Trunk für den Kranken zu bereiten. Auch habe er eine Schlucht im Walde gewußt, drin sich den Sommer hindurch oftmals noch ein Schneerest forterhalte, und von diesem, wenn das Fieber zu heftig gestiegen, auf die Stirn Dietwalds gelegt.

Solche Antwort gab Elisabeth, doch von selbst redete sie nicht, saß gesenkten Blickes, stumm und blaß. Folka dagegen sprach viel, oft wie in einer unruhigen Hast. Aber sie war sanft und weiblich, nach der Schriftmitteilung ihres Oheims kaum mehr als die nämliche zu erkennen, die sie gewesen. Es vergingen Stunden, ehe Dietwalds Lippen eine Frage an sie hervorbrachten, vor deren Erwiderung er bangte: Wann sie nach Dorpat zurückzukehren gedenke? Sie entgegnete nach kurzem Schweigen:

»Das Haus dort ist leer, wie Eures in Hamburg war. Wenn ich Euch nicht zur Last falle, verweile ich eine Zeitlang.«

»Doch wie wollt Ihr –?« stotterte er, zum erstenmal mit einer leichten, freudigen Röte auf den von der langen Krankheit gebleichten Wangen – »Ihr seid eine zarte Jungfrau – wie könnt Ihr in diesem zerfallenen Hause –?«

Sie fiel ein: »Elisabeth hat schon ein Jahr lang gekonnt, hab' ich vernommen.«

»Ihr wollt Euch doch ihr nicht vergleichen? Sie ist's anders gewöhnt und dieses Haus ein Schloß für sie, doch für Euch eine unwürdige Hütte.«

»Es scheint. Ihr wollt mich nicht darin herbergen –«

Sie machte eine scherzende Bewegung, wie wenn sie aufstehen und die Stube verlassen wollte, Dietwald Werneken zuckte empor und faßte den Ärmel ihres Gewandes. »Euer Anblick wird mir täglich Beschämung einflößen, Euch Eure Gastfreundschaft von Dorpat so dürftig zu vergelten.«

Elisabeth stand plötzlich auf und ging hinaus. Der Blick Folka Wulflams folgte ihr nach, sie erwiderte: »Dürftig? Wessen bedarf man denn? Seid Ihr nicht auch aus Eurem reichen Hause in diese Dürftigkeit gezogen? Ihr kennt Euer Schloß zu Nowgorod selber noch nicht, glaub' ich; wenn Ihr Euch schon kräftig genug fühlt, kommt, und ich will Euch zeigen, welche gute Unterkunft ich in den alten Mauern für mich ausfindig gemacht.«

Auch sie hatte sich, wie von einer Unruhe gefaßt, erhoben und gegen die Tür bewegt; Dietwald empfand plötzlich die Kraft in seine Glieder zurückgekehrt, ihr nachzuschreiten, und sie ging ihm zur Stube voran, die sie während seiner Krankheit auf der andern Seite des Kaufhofes mit weiblichem Geschick für ihr Unterkommen eingerichtet.

Als der junge Kaufmann sich wieder allein befand, stand er am Fenster und blickte schweigsam gegen die windziehenden Wolken hinaus. Aber die Gedanken in seinem Kopfe drängten sich gleich den letztern, redeten, fragten hastig durcheinander.

Warum war sie gekommen? Hatten Goswin Wulflams Augen besser in ihrem Gemüt gelesen? hatte der alte Herr auch darin recht gehabt, daß im Herzen seines Gastes noch ein unbekanntes Land sei, dahin er bei seiner Umschau in der Welt nicht geraten?

Jedenfalls war es ein wohltuendes, schön befriedigendes Gefühl, dem Toten Dankbarkeit bewahren zu können. Der Abschiednehmende hatte gesprochen, wenn er dies je vermöge, werde es seines innerlichsten Begehrens Erfüllung sein. Und auch Folka Wulflam selber schuldete er Dank, daß sie die Mühsal des weiten Weges nicht gescheut, um ihm mit eigener Hand die Geldsumme zu überbringen, deren er in der Tat nachgerade bedürftig geworden.

Nun war's geschehen, wie er es früher manchmal geträumt, sie saß am Herd, dessen flackernder Schein ihm ihr schönes Antlitz überhellte. Draußen heulten Stürme, an jedem Morgen konnte der wachende Blick auf nächtlich weiß ausgebreitete Decke fallen. Wenn es plötzlich einmal so war, konnte sie nicht mehr nach Dorpat zurück, sondern mußte den ganzen Winter hindurch im gotischen Kaufhof verbleiben, und sie redete von keinem Aufbruch. Freilich hatte der alte Pechsieder aus der Wetterkunde eines halben Jahrhunderts vorverkündigt, der Schnee werde erst spät in diesem Jahre kommen.

So vergingen die Tage. Überraschend schnell war Dietwald zum Gewinn seiner Kräfte und mit einer noch weit höhern Freudigkeit als vor seiner Krankheit zur Wiederaufnahme der frühern Tätigkeit zurückgelangt. Auch zum Unterricht Elisabeths, doch diese hatte sich sonderbar verändert. Er mußte sie oft tadeln, sie war unaufmerksam, lässig und vergeßlich. Manchmal schien's, als alle Belehrung seit mehr denn anderthalb Jahren spurlos an ihr vorübergegangen und sie erst heute aus dem Walde zu ihm gekommen sei, daß er nicht begriff, wie er so häufig über ihre raschen Fortschritte erstaunt gewesen. Unverkennbar besaß sie keinen Antrieb zum Lernen mehr, und er verlor die frühere Lust am Lehren. Er sagte es ihr, und sie nahm sichtlich alle Denkfähigkeit ihres Kopfes zusammen; aber vergeblich; sie hatte alles vergessen, was sie gewußt. »Da ist es unnütz, daß wir fortfahren,« sprach er unmutig, und sie ging schluchzend hinaus. Folka Wulflam saß stets daneben, »Begreift Ihr's, daß ein Mensch sich in kurzer Zeit so verändern kann?« fragte Dietwald.

Sie antwortete: »Kurze Zeit ändert manchmal viel.«

Es war ihr, wie es schien, unbedacht entfahren, und sie schloß die Lippen danach fest zusammen. Ihm stieg Röte über die Schläfen, und seinen Blick in den ihrigen heftend, versetzte er: »Ihr habt recht, unbewußt geschieht es manchmal.« In den Augen Folkas lag ein stumm-sonderbar prüfender Ausdruck und sie wiederholte langsam: »Ja, unbewußt – mancher weiß nicht, was in ihm geschehen.« Sie stand unter einem Vorgeben auf und verließ gleichfalls die Stube, wie sie's fast immer alsbald tat, wenn Elisabeth davongegangen, wohl stets in einer unauffälligen Weise, doch schien's, als suche sie das Alleinsein mit ihm zu vermeiden. Sie kamen sich unter vier Augen niemals näher, es blieb wie eine Scheidewand zwischen ihnen, obgleich ihm grade dieses Gefühl wachsendes Verlangen regte, sie zu durchbrechen. Nur wenn sie zu dreien waren, besonders abends am Herd, da verharrte Folka Wulflams Blick in dem seinigen, und ihre Lippen erwiesen sich ernsthaft und launig beredt. Dann mißfiel ihm oft Elisabeths Haltung, Benehmen und stummes Wesen dagegen; er erkannte jetzt erst, wie linkisch, bäurisch und einfältig sie sei, und sagte sich, ihm liege die Pflicht ob, sie darüber zu schelten. Häufig versetzte dies ihn beinahe in Zorn, und sie ging leise weinend fort. Aber dann tat ihm dieser Ton im Ohr weh, daß er ebenfalls aufstand und, den Arm um ihre Schulter legend, tröstend sprach: »Sei nicht betrübt, Kind; du bist eben als ein kleines Lamm im Wald aufgewachsen, wenn du erst zu deinem Vetter nach Lübeck kommst, wird es besser mit dir werden.« Als sie einmal so schüchtern-beschwichtigt auf ihren Sitz zurückkehrte, sagte Folka Wulflam: »Warum tadelt Ihr so oft an dem Kinde?« und sie legte einen leisen Ton auf ihr letztes Wort. Sonst mischte sie sich nicht in die Erziehungsweise Dietwalds ein, war gegen Elisabeth selbst jedoch von gleichmäßig unveränderter Freundlichkeit, die äußerst vorteilhaft von dem wortkarg-scheuen, wenig einnehmend umgewandelten Behaben des Mädchens abstach.

Nur bei dem Unterricht in der evangelischen Lehre befand sich Folka selten zugegen. Sie hatte am ersten Tage gesagt: »Ihr wißt, ich bin römisch und mein Glaube ist, Gott und Menschen Treue zu halten,« und sie betätigte dies, indem sie täglich dem Kirchendienst in der Kathedrale der heiligen Sophia beiwohnte. Der trotz dem Dezemberbeginn sich noch immer hinauszögernde Winterschnee hatte die Wege nicht versperrt, und das Hinübergelangen zum Stadteil an der Wolchowbrücke blieb wie im Sommer ermöglicht. Doch der Tag begann spät und endete früh. Dietwald Werneken aber suchte im Gesprach immer häufiger Anlaß, die Rede auf Fragen der Religion zu verwenden und so in mittelbarer Weise der Erkenntnis des gereinigten Evangeliums Eingang bei Folka Wulflam zu erwirken. Öfter wiederholte er mit merklichem Nachdruck, daß in der neugewordenen Zeit der Glaube es vor allem sei, der die Menschen verbinde und voneinander trenne. Allein die Zuhörerin schüttelte den Kopf und entgegnete: »Ich tue nach dem, was Ihr sprecht, denn ich will mit meinen Vätern verbunden bleiben, von denen Ihr Euch abgetrennt. Mit wem verbände mich der neue Glaube, der mir für sie Ersatz darböte? Wenn Ihr auf ein ewiges Leben hofft, muß Euch grauen bei dem Gedanken, darin einsam zu weilen, nicht mit denen zusammen, die Eurer Art auf Erden gewesen.«

Über diese theologische Frage hatte auch Dietwald Werneken schon manchmal vergeblich nachgesonnen und wußte nichts darauf zu erwidern, als: »Unsere Augen sind hier unten im Dunkel, dort im Lichte des unvergänglichen Tages werden sie gewahren und begreifen, was sie nicht zu erkennen vermocht.« Aber noch über ein anderes dachte er, ebenso vergebens eine Aufhellung des Dunkels suchend, nach. Weshalb war Folka Wulflam nach Nowgorod gekommen? Hatte ihr Oheim sich getäuscht und sein eigenes Gefühl ihm falsch gesprochen? War es doch, ihrem verwandelten Wesen zum Trotz, nur die alte Lust an abenteuerlichem Umherschweifen, an einem kühnen Ausritt in die Weite gewesen, die sie hierhergeführt? Oft deuchte ihr Blick ihm andere, stumme Sprache kundzugeben, aber ihr Wort und ihr Tun, wenn sie sich allein befanden, widerredete jener. Und oftmals hatte er im Begriff gestanden, ein Wort hervorzubringen, das die unsichtbar-unverständliche Scheidewand zwischen ihnen niederbräche, doch es war ihm auf der Zunge gestockt, er wußte nicht, weshalb.

So war's einmal nicht lang nach Mittag noch, allein der kurze Tag, unfern der Sonnenwende, ließ schon leis dämmernde Schatten hereinfallen. Folka Wulflam hatte den Kaufhof verlassen gehabt und kam aus der Kathedrale zurück. Ihr Gesicht mühte sich, eine Erregung zu verbergen, Dietwalds Blick haftete staunend auf der noch übergewöhnlich erhöhten Schönheit ihrer Züge. Er brach den Elisabeth erteilten Unterricht ab; Folka wandte sich an die letztere mit einer kurzen Äußerung, die unverkennbar den Zweck verfolgte, das Mädchen zum Fortgang aus der Stube zu veranlassen. Die Angesprochene blieb jedoch unschlüssig, mit einem irren Blick der angstvoll weit geöffneten Augen auf Folka verweilend, stehen, bis Dietwald Werneken sie beinah heftig anfuhr: »Hast du nicht gehört? So geh doch und sieh draußen nach!« Da schrak sie zitternd zusammen und folgte dem Geheiß.

Die allein mit Dietwald im Zimmer Verbliebene sagte: »Der Wind dreht sich nach Ost, er wird Schnee bringen.« Sie trat an den Tisch, auf dem das Kästchen mit den Gedenkzeichen an die Eltern und Geschwister des jungen Kaufmanns stand, und fügte, den Deckel öffnend, nach kurzem Schweigen hinzu: »Wenn Ihr noch von Nowgorod fort wollt, müßt Ihr Euch beeilen.«

War es das, was sie ihm zu sagen beabsichtigt, weshalb sie das Hinausgehen Elisabeths veranlaßt hatte? Sie redete nicht mehr, ihre Hand nahm das Messing-Amulet aus der Truhe, das sie ihm zu Dorpat gegeben, und spielte damit. Nun entgegnete er leicht stotternden Tones:

»Warum sollt' ich von hier wollen? Außerhalb dieses Hauses enthält die Welt nichts mehr für mich.«

Sie erwiderte: »Ich weiß, Euer Herz ist genügsam.« Es tönte halb vernehmbar ein wunderlich bitterer Aufklang aus der hastigen Antwort, dann fügte sie hinzu: »Gebt mir dies zurück, Ihr braucht es nicht mehr.« Es war zum erstenmal, daß er sie mit ihrem Namen anredete: »Weshalb gabt Ihr es mir, Folka?«

»Ich gab's, damit es Euch behüten solle.«

»Und soll's das hinfort nicht mehr?«

»Ihr hütet Euch selbst.«

Das Blut strömte Dietwald Werneken ins Antlitz, er wolle fragen: »Wovor?« doch das Wort blieb ihm stecken. Folka Wulflam hatte die Kapsel geöffnet und den verdorrten Schlangenkopf daraus hervorgenommen. Es war zwischen ihnen noch nie von dem seltsamen Inhalt des Amulets geredet worden, und nun fragte er:

»Warum legtet Ihr den Kopf in die Höhlung hinein?«

»Es war mein Bild.«

Er verstand ihre Entgegnung nicht. »Euer Bild?«

»Ihr machtet mich der Schlange gleich, tatet mir, was ich ihr, daß ihr Zahn nicht mehr Übles antun konnte.«

Ein Lächeln umflog seinen Mund, doch der scherzende Ton, den er in seine Antwort legen wollte, verwandelte sich ihm auf den Lippen zu ernsthaftem Klang. »Ich tötete Euch doch nicht, Folka.«

Sie sah zu ihm auf und wiederholte: »So wie ich sie,« und zurückblickend, bog sie mit den Fingern die dürren Kiefer des Schlangenkopfes voneinander. »Doch das Gift ist noch in den Zähnen,« fügte sie halblaut drein.

Nun fuhr Dietwalds Hand mit einer plötzlichen Bewegung des Schrecks nach der ihrigen und hielt sie. »Laßt! Ihr seid unvorsichtig und könntet Euch dran verletzen.«

Ihre Brust hob sich mit schnelleren Atemzügen, sie erwiderte gezwungen lachend: »Wem würd' es schaden? Oder fürchtet Ihr nach dem irdischen auch für mein ewiges Leben?«

Sie hielten, dicht beisammenstehend, ihre Blicke ineinander geheftet, vernahmen beide nicht, daß sich leise die Tür hinter ihnen öffnete. Dietwald Werneken versetzte, von einem Zittern überlaufen:

»Ihr wißt, Folka, es ist der Glaube über jenes Leben, welcher Menschen auch in diesem irdischen getrennt hält.«

Doch fast eh' er zu Ende gesprochen, streckte sich ihre Hand hastig aus, ihre Augen leuchteten zauberhaft aus tief aufglühendem Antlitz und sie stieß hervor:

»Ich gab Euch mein Amulet, gebt mir Eures, daß es mich behüte, und ich will Eures Glaubens werden, Dietwald Werneken.«

Sie hatte das kleine Goldkreuz aus dem Kästchen gehoben, von dem sie wußte, daß seine Mutter es getragen und daß er mit besonderer Liebe daran hänge. Er hielt noch ihre andere Hand und antwortete stockenden Atems: »Ihr wollt Euch zur evangelischen Lehre bekennen, Folka? Schöneren Gewinn könnte das Kreuz nicht –«

Da fuhr beider Kopf herum, denn hinter ihrem Rücken tönte ein halberstickter, bitterlicher Schmerzenslaut, und ihre Augen trafen in das Gesicht Elisabeths. Dietwalds Mund entflog unwillig die Frage: »Weshalb störst du uns?« Dann setzte er verwundert hinzu: »Was treibst du?«

Auch der Blick Folkas ruhte mit Verwunderung auf der Befragten. Sie trug nicht die Gewänder, in denen jene sie bisher gesehen, sondern den zottigen Schafspelz mit den weißen Linnenärmeln. Als müsse sie mühsam nach den Worten suchen, brachte sie hervor:

»Ihr bedürft meiner nicht mehr – und ich bin zu töricht, um zu lernen, so daß ich Euch nur Ärgernis bereite –«

Sie hielt, zum weiteren Sprechen unfähig, an. »Was willst du denn?« fragte er.

»Zurück zu meinem Vater, in den Wald,« sagte sie leise.

Er antwortete: »Du redest in der Tat höchst töricht, dein Kopf ist müde und einfältig, leg' dich schlafen!«

Aber sie schüttelte die Stirn. »Ich kann ia wiederkommen – laßt mich heute.«

Fest Entschlossenes lag in ihrem sonderbaren plötzlichen Vorsatz; der junge Kaufmann blickte verdutzt ungewiß auf Folka, die achselzuckend rasch sprach: »So laßt sie gehen, wenn sie will!«

Einen Augenblick stand das Mädchen noch mit unschlüssigem Zaudern, faßte dann jedoch kurz zum Abschied seine Hand und sagte: »Habt Dank, daß ich so lang bei Euch sein gedurft,« und sie wandte sich zur Tür.

Warum? Er begriff es nicht, hatte er wirklich in der letzten Zeit zu viel mit ihr gescholten? Er stand wie sonderbar betäubt von einem körperlichen Gefühl, das ihn durchronnen. War es ihre Hand gewesen, die eben in der seinigen gelegen, oder die weiche, warme Traumeshand, die sich in seinen wilden Fiebereinbildungen so oft auf seine Stirn gelegt und ihn aus dem tobenden Meergewoge an den stillen, sonnigen Strand gehoben? Hatte er ihre Hand denn so lange nicht in der seinigen gehalten, daß ihm fremd geblieben, sie sei nicht mehr rauh und hart, sondern, von der Arbeit im Walde entwöhnt, sanft und zart geworden, wie die Erdmute Warendorps?

Noch nicht dieses Gedächtnis-Gefühl allein durchlief ihn wunderlich, auch vor seinen Augen rann es seltsam, wie ein aus weiter Ferne heraufgekommenes Bild. Er hatte dies lang verloren gehabt, und es kam ihm, daß er sich oftmals danach gesehnt, ohne es zu wissen. Da stand er auf einmal wieder vor ihm, anvertraut und eigenartig in natürlicher Unmut, wie es so manche Winternacht am Herd gesessen, wenn draußen der Sturm geheult und das flackernde Licht der roten Flammen über die kleinen nackten Füße gefallen. Gute, trauliche Stunden waren es gewesen, voll in sich befriedigt, ohne andern Wunsch – und nun hoben die Füße plötzlich das Bild auf, um ihn zu verlassen. Sein weißes Lamm ging von ihm – ein Frösteln überlief ihn, ihm war's, als bleibe er allein in einer ungeheuren, nie mehr auftauenden Schnee-Einöde zurück. Er hatte ihm weh getan, und es ging fort.

So mit dem traurigen Gesicht konnte er's nicht von sich lassen, wär's nur auch für einen Tag. Ratlos sah er ihr nach, wußte nicht, was er wollte, – da schoß ihm etwas durch den Kopf, und hastig, verwirrt sprach er: »Vergebt, Folka – Euch wird an dem Kreuzchen nichts liegen – aber sie hatte es immer gern und bat mich einmal drum und ich schlug's ihr ab –«

Und rasch das kleine Goldkreuz fassend, das Folka noch in der Hand hielt, trat er dem Mädchen an die Schwelle nach, hängte ihr die Schnur um den Nacken und redete liebreich tröstend: »Nimm es heut, Elisabeth, daß du weißt, ich wollte dir nicht wehe tun. Der Anfangsbuchstabe deines Namens steht ja darauf, so war's wohl für dich bestimmt. Und nun bleibst du, nicht wahr, und bist wieder fröhlich?«

Ein irrer Ton des Glücks kam unter dem zottigen Fell aus ihrer Brust hervor, ihre Finger klammerten sich fest um das kleine Kreuz und sie stammelte: »Habt Dank – aber ich muß doch fort –«

Hinter dem Rücken der beiden hatte es Folka Wulflam wie ein vom Haupt bis zur Sohle rüttelnder Schlag durchzuckt. Sie stützte einen Augenblick die Hand auf den Tisch zurück, doch nun trat sie mit einem hastigen Schritt heran, faßte unter der Tür den Arm des Mädchens und sprach ruhig:

»Bleib', Elisabeth! Warum wolltest du fortgehen? Du bist nicht entbehrlich hier im Hause –«

Sie zog die Willenlose auf ihren Sitz zurück, dann wandte sie sich lachend gegen Dietwald Werneken: »Das war eine töricht überflüssige Aufregung – aber Ihr wäret unvorsichtig, den Schlangenkopf so lange zu bewahren und mich erst Sorge tragen zu lassen, daß sein Gift kein Unheil mehr bringt.« Und mit dem Otternkopf ans Fenster tretend, warf sie ihn rasch in den dämmerung-überwebten Schutt draußen hinaus.

Folka Wulflam war den Abend hindurch noch beredter und heiterer als gewöhnlich, Scherzreden und ausgelassene Laune wechselten auf ihren Lippen. Doch zum erstenmal erinnerte sie Dietwald an den Eindruck, den er bei seiner Ankunft in Dorpat von ihr empfangen. So atmete ihre Brust wieder in hohen, freien Zügen, manchmal flog ein stolz funkelnder Blitz zwischen ihren Lidern empor. Elisabeth hatte ihre Kleidung anbehalten, sie stand und ging wortlos, mit einem traumhaften Gesicht. Lächelnde Freudigkeit sprach aus den auf ihr verweilenden Augen Dietwald Wernekens, als sie später am Herde saßen, doch erstaunt nahm er gewahr, daß der weiße Pelzrock ihr zu eng und noch kürzer als früher geworden schien. Zum erstenmal sah er halb ungläubig, es war nicht das Kind mehr, das er vor bald zwei Jahren mit der erstarrten Lerche auf dem Stamm am Waldrande angetroffen; im stillen Gang der Zeit war unvermerkt eine blühende Jungfrau daraus erwachsen. Wie hatten die andern Gewänder ihm dies bis heut so völlig verhehlen können? Oder hatte sein Blick seit langem fast nur gedankenlos auf ihr verweilt? Nun sprach Folka Wulflam plötzlich:

»Dich muß so frieren, Elisabeth,« und diese flog zusammen. Sie gewahrte, daß Dietwalds Augen auf ihr ruhten, und sichtlich kam ihr mit jähem Erröten erst jetzt die Besinnung, das Gefühl, daß der weiße Pelz sie noch weniger bedecke als früher. »Ja, es ist kalt trotz dem Feuer,« erwiderte sie, schnell aufstehend, und begab sich in ihre Kammer, um ihre Kleider zu wechseln. Der junge Kaufmann sah noch auf den leer gewordenen Sitz. Wie lieblich hatte das aufflammende Rot ihren seit Monaten blaß farblosen Wangen gestanden! Er war unmutig über Folka, daß diese ihm durch ihre Äußerung das altvertraute Bild weggescheucht: sie regte sich nicht, um gleichfalls den Raum zu verlassen, wie sie es sonst nach dem Fortgehen Elisabeths stets kurz darauf tat. Eine Weile saßen beide schweigend, dann fragte Dietwald:

»Wollt Ihr morgen also in der Unterweisung der evangelischen Lehre bei mir beginnen, Folka?« Sie wandte mit einem Ruck den Kopf. »Ich? Wozu?«

Verwundert wiederholte er: »Wozu? Ihr spracht –«

Nun fiel sie lachend ein: »Ihr habt mir den Preis nicht gegeben, den ich verlangt. Ich bin auch eines Kaufmanns Tochter – ohne goldenen Lohn ist nichts auf Erden, noch im Himmel.«

Er antwortete ernsthaft: »Ihr solltet nicht mit so Wichtigem Scherz treiben –«

»Scherz? – Ihr habt recht, ich trieb Scherz. Was glaubtet Ihr dran!«

Die oft verhaltene Frage drängte sich ihm über die Lippen. »Ja, ich glaubte, das sei der innerliche Grund Eures Hierherkommens gewesen – weshalb denn kamet Ihr sonst?«

Ein stolzer Blick ihrer dunklen Augensterne ging über sein Gesicht, doch ihr Mund lachte wiederum. »Weil die Lust mich trieb, Nowgorod kennen zu lernen und zu sehen, an welcher Dürftigkeit ein Mann wie Ihr sich genügen kann.«

Elisabeth trat in ihrer andern Kleidung wieder herein, und jetzt stand Folka Wulflam rasch auf. »Was wollt Ihr?« fragte er.

»Nach den Pferden sehen,« entgegnete sie. »Treue Freunde sind selten, drum muß man gut für sie sorgen, auch wenn sie vier Beine haben. Man weiß nicht, wann man ihrer bedarf.«

Sie zündete am Herd eine Laterne an und ging in das Stallgemäuer hinüber, wo ihr Pferd und dasjenige Dietwalds, die im Sommer frei umhergeweidet, für den Winter untergebracht waren. Elisabeth hatte stumm ihren Sitz wieder eingenommen, auch der junge Kaufmann sprach geraume Weile nicht, doch trotz der Umänderung ihrer Gewandung sah er sie jetzt immer wie zuvor in dem weißen Rock sitzen, aus dem ihm die jungfräuliche Verwandlung ihrer Gestalt entgegenblickte. Dann kam ihm auf einmal etwas, wonach er noch niemals gefragt:

»Wie bald traf Folka eigentlich hier ein, nachdem ich krank geworden und im Fieber lag?«

Das Mädchen sann kurz nach. »Es war am Abend vorher, ehe Ihr zum erstenmal zur Besinnung gelangtet und redetet.«

»So war es während der ganzen Zeit deine Hand, Elisabeth –«

Er faßte mit einer plötzlichen Bewegung ihre Hand und fügte nickend hinterdrein: »Ja, sie war's – ich glaube, ich hab' ihr noch nicht einmal gedankt.«

Sie blickte ihn verständnislos an, die Tür ging auf, Folka Wulflam kehrte zurück, und mit einer ängstlichen Hast zog Elisabeth ihre Hand aus der seinigen, daß er überrascht fragte: »Was hast du? Zürnst du mir noch immer?«

Nun lachte die hereingetretene: »Euch zürnen? Ich denke, das stritte wider die gereinigte Lehre, wie Ihr sie heißt. Die Pferde sind klüger als wir, sie schlafen, um morgen kräftig zu sein. Tu's auch, Elisabeth, dein Kopf ist müde. Wenn dein Vetter noch wachen und über dunkle Heilsfragen nachsinnen will, laß es ihn allein tun! Nicht wahr, du zürnst niemand, auch mir nicht, daß ich dich abgehalten, heut nacht im Walde zu schlafen?«

Wie ein ungewiß stammelndes Dankeswort redete es aus dem Blick, mit dem Elisabeth Warendorp verwirrt auf die letzte Ansprache Folkas entgegnete, und sie ließ sich widerstandslos von ihr mit zur Nachtruhe hinüberführen.

Das Licht des nächsten Tages brach noch später als sonst an, der Himmel lag mit schwerer, grau-dunkler Decke über der weitgedehnten Trümmerstadt. Früher noch als gewöhnlich verließ Folka den Kaufhof und wandte sich der Sophienkirche zu, sattelte, nach einer Stunde heimkommend, ihr Pferd, wie gemeiniglich am Vormittag, und ritt fort. Noch gegen ihren Brauch traf sie heut erst um Mittag wieder ein; als sie draußen abstieg, gewahrte Dietwald Werneken verwundert vom Fenster aus, daß an der Mähne ihres Pferdes Wassertropfen herabfielen. Wie sie erst nach einer Weile in die Stube eintrat, hatte sie ihre Kleider gewechselt; der junge Kaufmann fragte erstaunt: »Hat es geregnet, wo Ihr gewesen seid? Hier ist kein Tropfen gefallen.«

Sie versetzte: »Wenn Ihr gesehen, daß ich naß geworden, muß ich wohl in den Regen gekommen sein.«

»Und zuvor waret Ihr in der Kirche?«

Er legte einen hörbaren Ton des Unmuts auf die Frage, sie gab achselzuckend Antwort:

»Glaubt Ihr, ich hätte klüger getan, hier bei Eurem Unterricht zu bleiben? Für mich vielleicht – laßt uns essen, mich hungert.«

Die Mittagsmahlzeit hatte schon auf sie gewartet, und Elisabeth trug die grobirdenen Schüsseln mit den gewohnten einfachen Speisen auf. Folkas Benehmen besaß etwas Wunderliches, Ruhiges und doch Hastendes zugleich. Sie aß mehr, als sie sonst pflegte, und forderte einigemal die andern auf, dasselbe zu tun. »Esset! Man lebt nicht von Luft.« Dann stand sie auf, legte die Überreste des Brotes, gesalzenen Fleisches und gedörrten Störfisches zusammen, füllte sie in ein Linnensäckchen und umschnürte dies sorglich mit einem Hanfband.

»Wozu tut Ihr das?« fragte Dietwald.

»Ich denke an morgen. Nehmt Euer Gold und was Euch wert ist ebenso. Das Goldkreuz braucht Ihr nicht mehr zu verpacken.«

Sein Erstaunen wuchs, er blickte sie an, als ob er an ihrem Verstande zu zweifeln beginne. Sie fügte, gleichmütig in ihrer Beschäftigung fortfahrend, hinzu:

»Ich sprach Euch gestern, der Schnee komme. Seit heut morgen weiß ich, er kommt in dieser Nacht. Wenn Ihr noch fort wollt, ist es Zeit.«

Nun fiel er ein: »Ihr fiebert, Folka, und redet irr!« Doch sie erwiderte gelassen: »Ihr fiebertet, als ich kam, nicht ich: mein Blut ist so kühl wie Eures. Der Schnee kommt nicht weiß heut nacht, sondern rot. Glaubt Ihr, daß Ihr Euren Gott ungestraft nach Nowgorod gebracht? Er schützt Euch nicht, aber meiner tut's, den Ihr verschmäht.«

Von einer dunklen Schreckempfindung befallen, sprang der junge Kaufmann auf. »Was bedeutet das?«

»Daß die Großfürstin Helena guter Laune ist und auf die Fürbitte des Woiwoden Obolenski ihren Kindern zum Christgeschenk die Erlaubnis gegeben, die Häuser der übriggebliebenen deutschen Ketzer in Nowgorod heut nacht anzuzünden und mit ihren Bewohnern zu verbrennen.«

Dietwald sah sie starr vor Entsetzen an, sein Mund brachte kaum hervor: »Woher wißt Ihr –?« Sie antwortete mit einem scharfen Aufzucken der Lippen, das fast wie ein Lachen erschien: »Weil ich keine Ketzerin geworden, sondern treu an meinem Glauben und seinen Priestern gehalten.«

»Und das sprichst du so ruhig, Weib –«

»Was kümmert's, wann Menschen sterben? Früher Tod ist kein Unglück.«

Dietwald hatte einen Blick in die schon tief einbrechende Dämmerung hinausgeworfen. Nun stürzte er nach seinem Schwert und gürtete es mit zitternden Händen um. Doch Folka Wulflam trat ihm entgegen: »Was wollt Ihr?«

»Du fragst?« stieß er aus. »Die Bedrohten warnen!«

»Zu spät, Ihr könnt's nicht mehr.«

»So will ich mit ihnen untergehen!«

Er wollte hinauseilen, ihre Hand hielt ihn. »Ich sagte: Ihr könnt's nicht, denn man fahndet auf Euch im Hinterhalt; Ihr würdet zu keinem hingelangen. Ihr dürft's nicht, wenn Euch dran liegt, das zu retten, was vielleicht in Eurer Macht steht.«

Ihre Hand machte eine leicht deutende Bewegung gegen Elisabeth, und sie setzte gleichmütig hinzu: »Tut, was Ihr wollt, es steht bei Euch.«

Sein Blick war mit jähem Schreck der Deutung ihrer Hand gefolgt. »Und was können wir?« stammelte er.

»Warten, bis die Nacht kommt.«

Folka entgegnete es in der nämlichen Gelassenheit, mit der sie alles Voraufgegangene gesprochen. Unwillkürlich hatte Dietwald seinen Arm schützend um Elisabeth gelegt, als ob diese schon im nächsten Augenblick von der Gefahr bedroht sei; ratlos stand er wie betäubt. Folka Wulflam allein bewahrte ihre unbeirrbare Ruhe: kurz mit dem Gesicht über die beiden hinstreifend, sprach sie: »Ich wußte, Ihr würdet Euch besinnen und den Entscheid treffen; es wäre auch schade um den langen Unterricht gewesen, keine Frucht zu tragen. Das wollt' ich hindern, verübelt's mir nicht, daß ich mein Gewissen dafür belastet und gesagt, ich haßte Euch, Herr Werneken, und Euer Untergang in den Flammen werde ein köstliches Schauspiel für mich sein. Ich habe dadurch den Vorteil gewonnen, daß man mich betraut hat, das Zeichen zum Beginn desselben zu geben. Vielleicht kostet's mich meine Seligkeit, denn ich mußt' es aufs Kreuz schwören, daß Ihr mir verhaßt seied wie der Tod.«

Sie lachte diesmal in Wirklichkeit und ordnete mit klarer Besonnenheit die noch erforderlichen Vorkehrungen an. Willenlos taten die beiden andern nach ihrem Geheiß, doch der junge Kaufmann ließ keinen Augenblick die Hand Elisabeths von der seinigen. Aus Folkas kurzen Mitteilungen ergab sich, daß der Kaufhof im Halbbogen umher bis an die Wolchow bewacht sei; man befürchtete Feuerwaffen bei ihm, deshalb warte man auf die Nacht und bis sie das abgeredete Zeichen gebe. Dietwald stammelte, angstvoll Elisabeth haltend: »Wie soll ich sie dann lebend hindurchbringen?«

Folka zuckte die Schulter. »Euer Glaube wird schwach, deucht mich, meiner ist stärker, denn er vertraut auf den alten Gott, der die Kinder Israels durch das Rote Meer führte. Wenn der Himmel Eure Rettung will, so wird sie geschehen.«

Elisabeth stieß plötzlich aus: »Mein Vater im Wald – auch er weiß nicht – ich muß zu ihm –«

Sie wollte besinnungslos zur Tür, eine Sekunde stand Folka regungslos, doch nun eilte sie dem Mädchen nach und sagte, heftig den Arm desselben fassend:

»Hast du noch Gedanken an andere, Törin!« Aber mit sanfterer Stimme fügte sie rasch hinzu: »Dein Herz ist gut, laß es ruhig sein! Die Alten im Walde wird niemand suchen; wenn sie den Sturm hören, wissen sie sich zu bergen, bis er vorüber ist. Sturm kommt und legt sich, und man lebt weiter.«

Dann war der erwartete Augenblick gekommen, dunkel lag die Nacht herabgefallen. Gesattelt standen vor dem Hause die beiden Pferde, deren Hufe Folka sorglich mit Leinwandstücken umwickelt, Dietwald Werneken hatte das eine bestiegen und hielt Elisabeth vor sich auf dem Sattel. Nun trat Folka Wulflam rasch noch einmal in den Kaufhof, entfachte an den Herdkohlen einen Fichtenspan und warf ihn auf einen Haufen von zusammengeschichtetem Reisig. Zwischen ihren Lidern hervor schoß ein heißer Strahl in die züngelnden Flammen nieder. Ihr Mund stieß aus: »Brenne zu Asche und flieg' in den Wind!«

»Was tatet Ihr noch?« fragte Dietwald in unruhiger Ungeduld, als sie zurückkam. Sie antwortete:

»Ich habe mein Gelöbnis erfüllt, das Zeichen zu geben. Ihr wißt, ich schwur's aufs Kreuz. Jetzt fort!«

»Doch wohin?«

»Mir nach!«

Sie lenkte behutsam den geräuschlosen Auftritt ihres Pferdes gegen Westen, Menschenauge unterschied kaum etwas auf dem Boden, doch das der Tiere fand sich ohne zu straucheln über das verwilderte Schuttfeld. So ritten sie eine Weile, bis der junge Kaufmann fragte:

»Wohin, Folka? Wir kommen gegen die Wolchow.«

Sie bog den Kopf zurück und raunte: »Schweigt! Die Nacht hat Ohren.«

Doch zugleich klangen unweit zur Linken russische Rufe auf: »Da reitet etwas – heran – die gottverfluchten Ketzer haben Wind!«

Pfiffe und Geschrei tönten auch von der rechten Seite, Folka Wulflam stieß aus: »Peitscht! Sie verlieren uns im Dunkel! Gradaus!«

Die Pferde sprangen heftig an, da fiel von rückwärts ein Schein durch die Finsternis und wuchs blitzschnell zu einem roten Licht. Dietwald Werneken drehte erschreckt den Kopf. »Der Kaufhof brennt und macht die Nacht zum Tag!«

»Ihm geschieht nach Recht, was wollte er noch zu Nowgorod!« rief Folka drein. Doch jetzt tönte das russische Geschrei lauter und näher: »Da sind sie! Greift sie! Sie können nicht fort! Treibt sie gegen den Fluß!« Und rundum tauchte es von speerbewaffneten schwarzen Gestalten auf.

Schnaubend jagten die gepeitschten Pferde, höher stieg das Geloder der Flammen aus dem alten gotischen Kaufhof, Tageshelle fiel in Wirklichkeit über die nächtliche Trümmerstatt. Fast ohne Gedanken trieb Dietwald sein Roß vorwärts. Da wälzte plötzlich dicht vor ihm, voll vom Brande überhellt, hochgeschwollen die Wolchow ihre gelben, strudelnden Wasser. Hinter den Flüchtenden tobten, wie eine Meute, die das Wild gestellt, die Verfolger.

In dumpfer Verzweiflung hielt er sein Pferd, doch Folka Wulflam schoß auf dem ihrigen gradaus gegen den wogenden Fluß, und furchtlos gebot ihr Ruf:

»Mir nach! Hinein, und links hinab! Der Kaufhof tut zum letztenmal seinen Dienst und zeigt den Weg!«

Sie drängte ihr zögerndes Roß in die Wellen, wo diese am heftigsten aufschäumten; besinnungslos folgte Dietwald ihr nach. Ihm war's wie im Fiebertraum, daß ihre Gestalt nicht vor ihm versank, aus dem wilden Gestrudel ragte ihr Pferd bis an die Mitte der Brust empor, und so blieb das seinige ebenfalls. Vorsichtig bog sie im Zickzack durch die Wolchow und mechanisch lenkte er in gleicher Weise hinterdrein. Doch nun erhob sich ein Wutgebrüll der vordersten, am Flußrand eintreffenden Russen, zischend flog ein Spieß dicht neben dem jungen Kaufmann vorüber, ein zweiter folgte. Und plötzlich stieß er einen Schrei aus, der Kopf des Pferdes vor ihm tauchte in das gurgelnde Wasser hinunter, sein Fuß mußte die schmale Furt verfehlt haben. Noch über dem Schaum getragen, griff die Reiterin nach der Mähne, Dietwald hielt inne und bog sich, den Arm vorstreckend, entsetzt nach ihr hinüber. Doch von einer Welle jetzt aus dem Sattel gerissen, rief Folka Wulflam gebieterisch: »Laß mich und schütze dein Weib, Dietwald Werneken!« Speere klatschten um ihn, mit schnaubenden Nüstern suchte hastig sein Pferd von selbst den Furtweg an das nahgerückte jenseitige Ufer. Als er dies erreicht hatte, wandte er schreckvoll den Blick zurück, da arbeitete auch das andere Pferd sich schwimmend ans Land, und Folka hielt sich, lang nachfließend, an der Mähne. Er sprang ab, um ihr heraufzuhelfen, aber sie sprach: »Ich brauche deine Hand nicht,« und schwang sich behend selbst empor. Umblickend fügte sie hinzu: »Ihr seht, ich kam nicht umsonst naß heut mittag heim: der Regen, in den ich geraten, betrog mein Kreuz, doch dem Eurigen war er dienlich, sonst läg' es zerschmolzen in der Asche. Jetzt weiter!«

Unwillkürlich hob seine Hand sich nach ihrer Stirn. »Ihr blutet, Folka!« Ein Speerwurf hatte ihre Schläfe gestreift, doch sie lachte »Das sind nur rote Wassertropfen, die der Wind austrinkt!« und sie flog auf ihr Pferd zurück und peitschte es, daß sie windschnell dahinstiebte. »Das ist ein lustiger Nachtritt!« – Kaum vermochte Dietwald ihr zu folgen: die Wolchow brauste jetzt sichernd zwischen ihnen und ihren vorherigen Bedrängern, noch heller ward die Nacht, rund umher loderten neue Feuersäulen aus den zerstreuten deutschen Häusern Nowgorods auf. Die Großfürstin Helena hatte nur eine Weile in den Armen des Fürsten Obolenski vergessen gehabt, das Werk ihrer Vorgänger auf dem moskowitischen Thron fortzusetzen; nun holte sie für ihren unmündigen Sohn, den die Welt um ein Menschenalter später ›Iwan den Schrecklichen‹ benennen sollte, das Versäumte nach. Mit schauderndem Gefühl sah Dietwald Werneken das Brandgeleucht den Himmel röten. Das war seines Wirkens trostloser Erfolg und Ausgang. Doch dann fiel sein Blick auf das Gesicht Elisabeths, das mit geschlossenen Lidern wie schlafend unter ihm an seiner Brust lehnte. Ohne einen Angstlaut oder eine Regung der Furcht hatte sie sich ruhig an ihm gehalten, als sie die Wolchow durchkreuzt; über ihren Zügen lag's wie Schimmer eines traumhaften Glücks. Und sein Herz klopfte ihm plötzlich, daß sein Kommen nach Nowgorod doch nicht vergeblich gewesen, denn das Beste, was dort verblieben, brachte er gerettet mit heim. Und auf einmal brauste es ihm seltsam im Ohr – was für ein Wort hatte Folka Wulflam ihm im wilden Aufruhr der Wogen zugerufen, als er sie versinken zu sehen geglaubt?

Es klang ihm nicht im Ohr allein, es durchlief ihn vom Scheitel bis zum Fuß. »Laß mich und schütze dein Weib!« hatte sie gerufen. Stumm, fast scheu, doch mit unverwandten, weitgeöffneten Lidern sah er auf das jungfräuliche Antlitz vor sich nieder. So ritten sie weglos durch die Nacht über das weite, ebene Land.

Allmählich verblaßte der Widerschein der Brandstätten am tiefhängenden Gewölk, der letzte Überrest aus einstmaligen stolzen Tagen der deutschen Hanse zu Nowgorod war in Asche gefallen. Nach etwa dreistündigem Ritt hielt Folka, jäh ihr Pferd bändigend, an und sprang vom Sattel. »Hier können wir Ausrast halten.« Ihr scharfer Blick hatte eine roh aus Baumstämmen zusammengeschichtete Hütte erspäht, vermutlich eine sommerliche Hürde für Vieh gegen nächtlich umstreifende Wölfe. Im Winkel lag etwas Heu, und Reisig fand sich leicht umher, das Dietwald Werneken mit Stahl und Zündschwamm in Flammen zu setzen gelang. »Wollt ihr essen?« fragte Folka, ihre folglich mitgeführten Vorräte herbeiholend. Aber niemand besaß Hunger, und sie fuhr fort: »So laßt uns das Feuer nutzen, die Wolchow etwas aus unsern Kleidern zu trocknen, da wir nicht andere haben, wie ich heut mittag. Wir müssen uns freilich mit einem Sitz auf dem Boden genügen, doch sonst, deucht mich, ist's hier, wie wir am Herd zu sitzen pflegten.«

So saßen sie wie am Herd des gotischen Kaufhofes um die flackernden Flammen, und Folka Wulflams Lippen sprudelten von lustigerer Rede und ausgelassenerer Laune, als noch je zuvor, bis sie, ihre beiden Genossen anblickend, sprach: »Eure Lider fallen, legt euch zum Schlaf, wir haben weiten Weg morgen.«

Der junge Kaufmann streckte sich nach kurzer Weile in einen Winkel auf das Heu, Elisabeth wollte an der Wand gegenüber das gleiche tun, doch Folka faßte ihren Arm. »Da ist es kalt, sei nicht töricht!«

»Was soll ich?« fragte das Mädchen erstaunt; Folka Wulflam erwiderte: »Dahin, wo dein Platz und Wärme für dich ist.«

Sie führte Elisabeth zur andern Seite hinüber und zog sie rasch zu Dietwald Werneken nieder. Dieser hatte sich, verwirrt zu ihr aufblickend, halb emporgerichtet und stotterte:

»Was wollt Ihr, Folka?«

»Daß Ihr Eure Braut nicht frieren laßt. Das Feuer erlischt bald. Eure Arme werden besser die Wärme bewahren.«

Ein doppelter, seltsamer Aufschrei erwiderte auf die mit leicht scherzendem Ton verhallten Worte. Folka Wulflam wandte sich rasch ab und trat vor die Tür der Baumhütte hinaus.

Als sie zurückkam, fiel ein matter Schimmer mit ihr herein; sie stand einige Augenblicke und schaute unbeweglich auf den Boden nieder, wo Elisabeth Warendorps blonder Kopf, von Dietwald Wernekens Arm fest umschlossen, ruhig schlafend an seiner Brust lag. Dann rief die Hereingetretene: »Wacht! Es ist Zeit zum Aufbruch,« und die Schläfer fuhren empor. Ungläubig suchten sich ihre Augen, ihre Hände hatten sich im Schlaf nicht verlassen. »Diesmal war es kein Traum, Elisabeth,« lächelte er, doch noch mit halb traumhafter Stimme, und zog ihre Hand an seine Lippen. Ein liebliches Rot blühte über die Wangen des Mädchens, sie sprach leise: »Dein Herz hat mir geredet, während du schliefst, es ist wahr, sonst könnt' ich's nicht glauben.« Dann erst kamen sie zu klarem Bewußtsein und blickten verwirrt staunend auf Folka Wulflam, die weiß überschneit vor ihnen stand. Dietwald sprang auf und faßte ihre Hand. »Euch danken wir alles, Folka, unser Leben, unser Glück! Ihr sahet die Liebe, die meine Augen nicht sahen, wußtet, was ich nicht gewußt –«

Sie antwortete: »Ja, Ihr waret blind und ich mußte für Euch sehen. Zu Pferd! Wir müssen weit.«

Nun fragte er verwundert: »Woher seid Ihr so weiß?«

»Ich war töricht und ging in den Schnee. Jetzt werdet Ihr's mir danken, daß ich gestern Eurer heutigen Frühmahlzeit gedacht.«

Sie genossen von den Speisen, dann ritten sie durch dichtes Flockengewirbel davon. »Wohin?« fragte Dietwald; »wir irren im Schnee und finden keine Richtung.« Folka Wulflam hob sich tief atmend im Bügel, ihre Hand deutete zuversichtlich durch das Gestiebe. »Sorgt nicht. Dort liegt das Meer, meine Brust kennt seinen Gruß.«

Es war ein weiter Weg, viele Tage, wochenlang durch eine unwirtliche, fast menschenlose Welt unendlicher Wälder und Sümpfe. Doch der Himmel begünstigte die nordwärts Dahinreitenden; nur dann und wann tändelte der Winter bis jetzt mit seinem weißen Spielzeug, aber häufte keine undurchdringliche Masse davon auf dem Boden an. Die Flüchtenden trafen nur so oft auf eine armselige Ortschaft des trostlos öden Landes, daß sie sich vor dem Verhungern zu schützen imstande waren. Zumeist in roh abgezogene, ungegerbte Wolfsfelle gekleidet, starrten die Bewohner der Dorfhütten die Fremden stumpf-neugierig als etwas Unbekanntes, nie Gesehenes an; vielfach wußten sie selbst nichts von dem Wert und Gebrauch des Geldes. Doch fanden Reiter und Pferde, denen jetzt der Mond zur Hülfe kam, stets früher oder später am Abend eine Unterkunft, deren kärgliche Mahlzeit, trübes Licht und frostige Luft Folka Wulflams heitere Laune würzte, erhellte und vergessen ließ. Es war eine seltsame Brautheimführung, aber durch den Zwang der Umstände gewann sie eine märchenhafte Schönheit. Was strenge Sitte sonst als undenkbar erachtet hätte, gebot hier allnächtlich die rauh anatmende Wildnis. Und mit kindlich holder Unbefangenheit barg Elisabeth auf dem kalten Lager ihr Gesicht an Dietwald Wernekens Brust, und das Geflüster ihrer Lippen klang leise durchs Dunkel. Es redete immer von dem Nämlichen, wie solche Liebe winterlich in ihnen aufgekeimt, lange Zeit tief unterm Schnee, daß ihre Herzen selbst nichts davon geahnt. Nur zuweilen flüsterte Elisabeth: »Ich wußte nicht, was es sei, aber es war nicht allein um die Lerche, daß ich mit dir wollte.« Dann sprachen sie heimlichen Tones von der Zukunft Glück, doch sie hätten lauter zu reden vermocht, denn es war kein Ohr zugegen, das ihnen lauschte. Ohne daß sie's wußten, saß Folka Wulslam draußen in der Mondnacht, manche Stunde lang. Wenn sie endlich hereintrat, tönte ihr der Doppelatemzug ruhigen Schlafes entgegen, und lautlos streckte sie sich an der andern Seite des rohen Obdachs auf ihr einsam-kaltes Heu- oder Strohlager hin.

So vergingen fast drei Wochen, bis düster der hohe Zwingturm von Iwangorod vor ihnen in die Luft stieg, und drüben jenseit der Narowa lag Estland mit den braunen Dächern der Stadt Narwa. Der milde Winter hatte auch dem Fluß kein Eis bis jetzt gebracht, und als die Ankömmlinge mit einer Fähre über ihn hinsetzten, sprach der junge Kaufmann: »So ist wohl auch die Schiffahrt noch frei, daß wir vielleicht ohne langen Aufenthalt weitergelangen mögen. Ihr habt mir nicht Antwort gestern auf meine Frage gegeben, Folka; uns bindet unvergeßlicher Dank an Euch, und vieles, das wir gemeinsam befahren, denk' ich, verknüpft auch Euer Leben mit dem unsrigen. Zudem steht Euer Haus in Dorpat leer und einsam, wie meines in Hamburg gewesen. Doch jetzt zieht in das letztere froher Stimmenklang ein, gesellet die Eurige hinzu, Folka, und verweilet drin fortan mit uns als in Eurer Heimat, daß unser herzliches Gedenken Euch nicht in der Ferne suchen muß.«

Die Angesprochene nickte: »In das leere Haus zu Dorpat – nein –« und sie fügte scherzend hinzu: »Allein kann man auf der Pilkentafel nicht spielen, habt auch Ihr eine solche in Eurem Hause?«

Die Fähre landete an, und sie kamen nach Narwa. Dietwald hatte richtig vermutet, das Meer war völlig eisfrei, und ein starkes Vollschiff aus Stralsund wollte sich trotz dem Januarmond in einigen Tagen zur Rückfahrt getrauen. So beschloß er hocherfreut, die unverhofft schnelle Gelegenheit zum Verlassen der nordischen Welt zu nutzen, und Folka stimmte schweigend ein.

Es war ein sonnenheller Morgen, als sie an Bord gingen, scharfer, kalter Ostwind pfiff vom blauen Himmel. Staunend trat Elisabeth über die Zugangsbretter aufs Deck in die unbekannte Seewelt hinüber, Dietwald folgte ihr, dann drehte er den Kopf nach Folka zurück. Doch sie setzte den Fuß nicht auf die Brücke, sondern verschwand im selben Augenblick seitabwärts vor seinem Blick. Verwundert eilte er an die Schiffsbrüstung, da schaukelte unter dieser ein Boot auf dem bewegten Wasser, und darin stand Folka Wulflam grad so, wie er sie zum erstenmal im Hafen zu Dorpat gewahrt. Ihr glänzend braunes Haar flog im Wind, die dunklen Augensterne blitzten kühn unter den schön gebogenen Brauen. Ihre Hand löste das Segel des kleinen scharfgebauten Fahrzeuges, nun traf ihr Blick den von oben nach ihr suchenden, und sie rief lachenden Mundes:

»Fahret wohl, Dietwald Werneken! Ich will Reval aufsuchen, meiner Väter Heimat. War's Euer Ernst, ich solle am Ofen Euren Kindern vom Schnee zu Nowgorod erzählen, aus dem sie gewachsen? Ihr mögt's geglaubt haben, denn Ihr tragt nichts in Euch von Wisimars, meines Vorvaters Blut! Wenn es in mir matt und alt geworden, komme ich vielleicht einmal, Euch zu suchen; aber wenn Ihr vorher meiner gedenkt, sucht mich in Wind und Welle gleich ihm, nicht in Eurem grünen Schnee zu Hamburg!«

Ihre Hand zog kraftvoll das flatternde Segel an, es bauschte, bog sich, und wie ein Pfeil schoß das Boot seewärts hinaus. Und wie ein Blitz schoß es wundersamlich vor den Augen Dietwald Wernekens, als sei es nicht die Gestalt und das Antlitz Folka Wulflams gewesen, sondern Elisabeth Warendorp, die das Segel davongerissen. Sprachlos verwirrt wandte er sich um, da stand Elisabeth hinter ihm, mit weit geöffneten Lidern stumm und atemlos dem Boote nachschauend. Auch das Schiff stieß jetzt vom Ufer ab, und der Wind schnellte es rasch in den Finnischen Meerbusen hinaus, doch unerreichbar flog das kleine Fahrzeug vor ihm auf.

Ferner, immer mehr zusammenrinnend, blitzte das weiße Segel im Sonnenlicht, zuletzt verschwand es wie eine Möwe über der hochwellenden See.


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