Wilhelm Jensen
Dietwald Werneken
Wilhelm Jensen

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Siebentes Kapitel.

So war es auch über Nowgorod Frühling geworden, doch nicht wie im deutschen Land. Nur kurze Tage blickte die Sonne märzenhaft lind herab; als sie den Schnee aufgezehrt, begann sie rasch heiß zu brennen, und schwüler Sommer überkleidete fast zusehends den eben noch winterlich verödeten Boden mit grüner Decke. Der Ausgang des Mai knüpfte an den Herbst an, wie wenn nur der Schlaf und Traum einer Nacht dazwischen gelegen: alles war wieder so wie damals geworden, und die einförmige Untätigkeit Dietwald Wernekens hatte sich in das regsame Wirken vom Morgen bis zum Abend zurückverwandelt. Das Einliefern kostbarer Tierfelle hub aufs neue von allen Seiten her an, am Sonntagnachmittag füllten die deutschen Fischer, Jäger und Ackerbauer in größerer Anzahl als früher den Schütting des gotischen Kaufhofs. Die herbstlich in ihre Gemüter hineingestreute Aussaat hatte auch in der Stille des Winters Keime getrieben, zeigte sich unter dem fortgeschmolzenen Schnee lebendig erwacht. Freudig gewahrte Dietwald ihr wachsendes Verlangen nach voller Erkenntnis der evangelischen Lehre, und der Tag reichte ihm kaum hin, alles zur Ausführung zu bringen, was er sich am Morgen als Aufgabe vorsetzte. Es kam hinzu, daß er eine neue Pflicht übernommen, die ihn täglich mindestens eine Stunde lang in Anspruch nahm. Das Pflegekind des Pechlers war schon frühzeitig am folgenden Morgen zurückgekehrt, um nach der Lerche zu sehen. Dann hatte sie nach längerem Zögern offenbar schweren Herzens mit einem plötzlichen Ruck das Silberkettchen von ihrem Halse gezogen und auf den Tisch gelegt. So stand sie wortlos da, und Dietwald brachte erst mit Mühe aus ihr hervor, worauf ihr sonderbares Behaben abziele. Zuletzt entnahm er aus ihrem Stottern, daß sie die Kette und allen Inhalt des Schmuckkästchens, wenn er ihr angehörte, dafür hingeben würde, begreifen zu lernen, was lesen heiße und was die schwarzen Zeichen auf den Blättern des Buches bedeuteten. Sie hatte die ganze Nacht unablässig darüber nachgedacht: unverkennbar regte sich ein geheimer Trieb in ihr, den sie als Mitgift ihres Blutes empfangen, der sich nur bis dahin im Schatten des Waldes nicht entwickeln gekonnt, doch nun plötzlich sehnsüchtig nach Ernährung begehrend hervorbrach, und ihr Blick hing mit ängstlicher Erwartung an der Miene des jungen Kaufmanns. Das war ihm allerdings nicht in den Sinn gekommen, als Fibellehrer einem Kinde Unterricht im ABC zu erteilen, und er stand eine Weile unschlüssig, ohne etwas zu erwidern. Aber hatte ihn nicht der Zweck, unter den deutschen Überresten in Nowgorod zu lehren und zu nutzen, hierhergebracht? Wie er das in atemloser Spannung zuharrende Mädchen betrachtete, war's ihm, wenn er ihre Bitte verweigere, als ob er im Begriff stehe, den Fuß zertretend auf ein freudig aus dem Erdreich heraufstrebendes Frühlingspflänzchen zu setzen, und diesem Gefühl des Augenblicks folgend, sprach er rasch: »Ich will's versuchen, Elisabeth, ob du achtsam und ausdauernd bist.« Er nahm lächelnd das Silberkettchen, legte es ins Kästchen und fügte hinzu: »Dies gehört dafür aber wieder mir, und du bekommst es nur zurück, wenn du dich nach einem Vierteljahre als gute Schülerin bewiesen und es so weit gebracht hast, wie ich's von dir verlange, um den Unterricht nicht aufhören zu lassen.« Sie stand und gab, wie vom Glück betäubt, keine Antwort darauf, bückte sich nur und küßte, nach russischem Brauch Vornehmen gegenüber, seinen Gewandsaum. Doch er wehrte ihrem Kopf mit der Hand und sagte: »Das ist unwürdig, Elisabeth! ob Menschen verschieden sein mögen an Kenntnissen und irdischer Habe, sind doch alle gleiche Geschöpfe Gottes, daß keines vor ihm mehr gilt, als ein anderes; und wer jemand Dank für etwas sprechen will, der reicht ihm die Hand dar.« Damit erfaßte er freundlich die ihrige, und diese berührte ihn mit starkem Gegensatz körperlichen Gefühls zu der weichen Glätte ihrer Stirn, die er eben zuvor bei der Abwehr einen Moment gestreift, denn die Hand war vom Sammeln des Holzes im Walde und sonstiger Hülfsleistung bei dem Gewerbe des Pechsieders rauh und hartschwielig gleich einer in Kälte, Hitze und Nässe verarbeiteten Manneshand.

So also hatte sich zu der übrigen Tätigkeit Dietwald Wernekens der tägliche Unterricht Elisabeths hinzugesellt. Sie kam, der Abrede gemäß, stets zur gleichen Morgenstunde, doch so früh diese sie zum Aufbruch aus dem Walde nötigte, fand sie jedesmal vorher noch Zeit, einen Strauß wilder Blumen zu sammeln und mitzubringen. Dann saß sie in ihrem weißen Pelzrock über den Tisch gebückt, und ihr Ohr und Auge wich keine Sekunde lang von den Unterweisungen des Lehrmeisters ab. Wochen hindurch war ihm ihr Kommen von einer gleichzeitigen Anfüllung der Stube mit Veilchenduft unzertrennlich. Sie hatte bemerkt, daß die kleinen blauen Blumen ihn besonders erfreuten, und füllte täglich seinen Wasserkrug neu damit an. Doch eines Morgens sah er staunend auf ihre Hand, die keine Blüten, sondern ein niedlich geflochtenes Riedkörbchen mit roten Walderdbeeren hielt. »Treibst du Hexenkunst?« fragte er ungläubig; sie erwiderte: »Ich weiß die Stelle, wo immer die ersten reif sind.« Wie er sich besann, war keine Zauberei im Spiel, der Fortgang der Zeit hatte naturgemäß Erdbeeren an die Stelle der Veilchen gesetzt. Aber unglaubhaft schien es dennoch, daß der Sommer unvermerkt so weit vorgerückt war. Das rief plötzlich auch ein anderes Gedenken in ihm wach. Sein Auge verweilte kurz auf dem bereits eifrig über die Bibel vorgebeugten Mädchen, er trat an den Schrank, kam zurück und hängte ihr unvermutet das Silberkettchen um den Nacken. »Das Vierteljahr ist noch nicht vorüber, aber du hast es schon verdient. Fahre so fort, Elisabeth!«

In der Tat hatte sie seine Bedingung für die Zurückgäbe des kleinen Zierats mehr als erfüllt, und das mochte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, ihm die Monate so kurz erscheinen zu lassen, wie mancher Wintertag ihn gleich einer Woche bedünkt. Sie lernte nicht nur nach seiner Forderung achtsam und ausdauernd, sondern auch mit rascher Auffassung, und ihr Gedächtnis war von außerordentlicher Treue; dem genauen Wortlaut nach wußte sie noch um Monde später die geringfügigsten Äußerungen ihres Lehrers zu wiederholen. Es war, als ob ihre geistigen Fähigkeiten von frühester Kindheit her auch gleich den Keimblättem eines Pflänzchens regungslos unter dem Schnee gelegen und auf tauende Frühlingssonne gewartet, um sich, von ihr belebt, mit überraschender Schnelligkeit weiter zu entwickeln. Doch nicht allein aus der Triebkraft emporstrebender Natur, zweifellos wirkte ein anderes, eine Mitgift, die sie von Vätern her in sich trug, hinzu. Sie war keine Pflanze des Feldes, sondern aus einem Garten ins Gestrüpp verweht und verwildert und suchte unbewußt mit innerlichem Drang zur Art ihrer Gattung zurückzugelangen. Und wie ihre Begierde zum Lernen immer mehr wuchs, so erhöhte sich die Freude Dietwalds am Lehren. Schon seit geraumer Zeit war es nicht beim Unterricht im Lesen allein geblieben, wie von selbst hatte sich eine tägliche Erläuterung der Glaubenserneuerung durch Martin Luther dazugesellt, und wenn es möglich war, trug das Mädchen der letztern Unterweisung noch regeren Eifer entgegen, als der erstern. Der junge Bekehrer erachtete es indes als Pflichtgebot, seine religiöse Einwirkung nicht ohne Vorwissen und Beipflichtung der Pflegeeltern Elisabeths zu üben, und begab sich öfters zur Pechhütte in den Wald hinaus, um bei ihren Insassen gleichfalls die Saat der evangelischen Lehre auszustreuen. Doch der Alte schüttelte ruhig den Kopf dazu: »Eines redet so und das andere so, Menschenwort ist beides. Das Eurige mag wohl besser sein, Herr Werneken, aber mich bedünkt, es weiß keiner mehr, als die Bäume da. Sie haben hier gestanden, eh' die Menschen auf die Welt gekommen, welche heut leben. Ich hab' ihnen bei Tag und Nacht oft zugehört, sie reden, daß man nichts weiß, als was man mit Augen um sich gewahrt. Alle Blätter werden im Frühling lebendig, wachsen im Sommer groß und welken im Herbst ab; dann fällt der Schnee darauf. Es ist Einer, aus dessen Hand und Willen das geschieht, aber ich kenne ihn nicht, und mich deucht, er will's nicht, daß ich ihn kennen soll, sonst spräch' er zu mir mit deutlichem Wort. Ob er den Schnee wieder von mir wegtauen läßt, weiß ich nicht, glaub's kaum, er müßt's denn mit allem Getier ebenso im Sinne tragen. Besser an Gemütsart sind die meisten Menschen nicht, und wenn Asche aus dem Holz geworden, brennt's nicht wieder. Man kann nichts weiter, als arbeiten und rechtschaffen sein, wie wir's in uns haben, daß man soll, um zufrieden zu sein. Kommt der Winter, so leg' ich mich in den Schnee hinein und wart's ab. Was sollt' ich noch mit einem andern Glauben, den Leute mit ihrer Zunge reden und nicht anders mit Augen und Ohren vernommen, als ich.«

Dabei verblieb der einsame Waldbewohner, der schon seit einem Menschenalter außer allem Zusammenhang zum Kirchendienst in der Kathedrale der heiligen Sophia gestanden, mit unbeirrbarem Gleichmut, doch unverkennbar strebte er sorgfältig und eifrig danach, für seine Pflegetochter die von glücklicher Fügung gebotene Gunst zu nutzen und ihr dasjenige zuzuwenden, für das er selbst kein Bedürfnis empfand. Mit einer, seiner rauhen Erscheinung seltsam stehenden, feinfühligen Dankbarkeit sprach er manchmal: »Sie ist nicht von unserer Art und braucht's anders. Ich konnt's ihr nicht geben, es ist wohl Gottes Wille gewesen, daß Ihr hierherkommen solltet, Herr, und Ihr tut ein Werk an ihr, das Euch nicht gereuen wird. Sie ist zu gut für Pech und Kohlenruß, mich hat's oft verwundert, daß sie so säuberlich dabei geblieben, als wüchsen jeden Morgen frische weiße Blätter um sie herum.«

Dietwald Werneken sah einen Augenblick nachsinnend drein:

»Habt ihr doch manches gegeben, Westerling, das sie von andern Leuten nicht leicht mitbekommen hätte.« Es war auch ihm schon vor der letzten Bemerkung des Alten aufgefallen, daß die grobe Linnenwäsche und der einzige zottige Pelzrock des Mädchens täglich die gleiche Frische bewahrten. Sie mußte mit emsiger Sorgfalt für die stete Sauberkeit derselben bedacht sein, und ebenso erschienen ihre kleinen, jetzt in der günstigern Jahreszeit unbeschuht getragenen Füße immer, als ob sie erst eben vorher einen frischen Quell verlassen.

Dergestalt aber war der Unterricht Elisabeths für Dietwald allmählich fast zum eifrigst betriebenen Gegenstande seiner Tätigkeit geworden und verrann die Zeit, daß es ihm eines Tages beinahe unglaublich erschien, als er vergilbt fallende Blätter um sich gewahrte. Länger schon als ein Jahr war er zu Nowgorod gewesen, und ihm kam zum erstenmal die Erinnerung, daß er sich gesagt, es sei unmöglich, einen zweiten Winter in der Einöde seines Hauses zuzubringen. Bald mußte der Schneefall eintreten und auch seinem Lehren ein Ende machen, da das Mädchen dann nicht mehr zu ihm gelangen konnte. So erwog er seine Rückkehr nach Dorpat. Zog ihn auch ein unbestimmt heimliches Begehren dorthin, den Winter hindurch als Gast in Goswin Wulflams Hause zu verweilen? Manchmal kam's ihm so, wenn er das kleine Amulet in der Hand hielt und ihm aus der Höhlung die braune Haarlocke entgegensah. Ungewiß ging er mehrere Tage umher; als nun sein Weg ihn halb ohne Absicht zur Waldhütte geführt, sprach er: »Ich komme wohl zum letztenmal heraus, Westerling, und werde Abschied von Euch nehmen müssen.« Er erklärte weshalb; Elisabeth stand wortlos daneben, nur in ihren Augen zitterte plötzlich eine betäubende tödliche Angst. Doch sichtbar befiel auch den Pechler ein schmerzlicher Schreck, dann hatte er seine ruhige Überlegung wieder erlangt und äußerte: »Wenn Ihr fort wollt, weil Ihr den Winter lang zu einsam und untätig wäret, Herr Werneken, da könnten wir miteinander, deucht mich, wohl beidem begegnen. Eure Wirtschafterin ist schwach und krankhaft, wie Ihr öfter gesprochen; nehmet Elisaweta an Stelle der gebrechlichen Alten. Sie ist kräftig und bedachtsam, für Euren Haushalt zu sorgen; Ihr aber lasset Euer Gotteswerk nicht unvollendet verderben, denn wenn sie allein wieder bei uns verbleiben müßte, da weiß ich, würde ich sie vor mir in den Schnee legen.«

Aus dem Ton seiner schlichten Worte sprach eine zärtliche Sorge für das Mädchen und ergreifend bescheidene Unterordnung seiner Lebensführung unter das von der Natur feiner geartete Wesen seines Pflegekindes. Dietwald stand, von dem unerwarteten Vorschlag überrascht, mit zaudernden Gedanken. Der Alte hatte wahr gesprochen; er war im Begriff gewesen, ein Unrecht zu begehen, nicht an seiner Schülerin allein, sondern an der ganzen deutschen Bevölkerung der Stadt, um derentwillen er hierher gekommen. Unvollendet ließ er ein Werk, das freudigsten Fortgang gewonnen, verderben; ein doppelt schweres Unrecht beging er, wenn er dies zuließ, weil ihn eine selbstsüchtige Empfindung nach Dorpat davonzog. Er war auch nicht entschlossen gewesen, hatte mit dem Gedanken seines Fortgehens nur gespielt. Nun schnitt er ihn jäh ab und sprach, sich umwendend, freundlich:

»Ihr habt das Rechte gesprochen, Westerling, wie schon oftmals. Wollen wir nach dem Lesen den Winter hindurch versuchen, ob deine Hand auch das Schreiben erlernt, Elisabeth?«

Das Mädchen stieß einen selig erlösenden Freudenschrei aus; sie wollte sich niederbücken, um seinen Gewandsaum mit den Lippen zu berühren, aber schnell kam ihr das Gedächtnis seines Verbots, und sie faßte, kühn und zaghaft zugleich, zum Dank seine Hand, und er fühlte, daß in ihren rauhen Fingern das Blut mit ungestümer Schnelligkeit klopfte.

Und so lag der Schnee wieder um den gotischen Kaufhof. Einförmig schritten die Tage, die Wochen, doch anders als im Winter zuvor. Sie waren lang, aber nicht trostlos und entmutigend, als kehre niemals bessere Zeit zurück. Vom Morgen bis zum Abend befanden die beiden Hausbewohner sich fast stets allein beisammen, und beisammen sein hieß für Dietwald Lehren, für das Mädchen Lernen. Er hatte dem Tag bestimmte Zeitmaße für das Lesen, Schreiben, Rechnen und die Religionslehre zugeteilt, doch nicht nur der wirkliche Unterricht, sondern jedes Wort von ihm auch zu andern Stunden bildete eine Bereicherung der Kenntnisse Elisabeths, von der ihr kein Teilchen wieder entschwand. Oftmals fragte er überrascht, woher sie etwas gewußt, denn ihm war längst entfallen, daß es einmal aus seinem Munde gekommen. Und in gleicher Weise empfand er geraume Zeit, daß manches anders um ihn sei, als im vorigen Winter, ohne sich deutlich sagen zu können, was. Es war behaglicher in den öden Stuben geworden, doch erst nach und nach ging ihm die Erkenntnis auf, daß diese wohltuende Veränderung sich aus vielen unmerklichen Kleinigkeiten zusammenfügte. Eine weibliche Hand trug folglich auch für das Geringfügigste Bedacht. Dietwald Werneken erstaunte, wie seine Genossin nach kurzer Eingewöhnung nicht einem im Wald unerfahren aufgewachsenen Kinde, sondern einer umsichtigen Wirtschafterin ähnlich den Erfordernissen des kleinen Haushaltes vorstand. Der Schnee lag nicht völlig so tief, als im Winter zuvor, und er hatte ihr mit leichterer Mühe einen Weg durch die verödete Straße bis zu den Häusern um die Wolchowbrücke gebahnt, wo sie ihre Einkäufe an Lebensmitteln besorgte. Fröhlich kehrte sie, diese im Korbe tragend, täglich mit den bloßen Füßen in den Holzschuhen durch den Schnee heim. Im Ansang hatte er einmal gefragt, ob es sie in dem kurzen Rock nicht friere, doch sie fast verwundert darauf erwidert, anders sei sie's von Kindheit auf niemals gewöhnt, da könne es ihr doch auch jetzt, wo sie viel größer geworden, nicht kalt sein. Und sie fror auch nie, der Wind mochte noch so schneidend Eisnadeln über sie peitschen, sie kam nur mit röteren Wangen aus ihm zurück, denn an die Stelle der früheren Blässe ihres Gesichtes trat mehr und mehr eine zartblühende Färbung. Aber am freudigsten war es ihr dennoch, abends mit Dietwald an den flackernden Flammen des Herdes zu sitzen und zu hören, was er ihr von den Hansestädten des Westens, dortiger Sitte und Lebensführung erzählte. Das geschah Tag um Tag gleich, und ihre Fragen bekundeten ein immer mehr und mehr anwachsendes Verständnis der fremden Dinge, von denen sie selbst die Namen nie zuvor gehört. Nur fiel es ihrem Hausgefährten auf, daß sie seit einiger Zeit ihre Füße manchmal mit einer plötzlichen Bewegung zurückzog, besonders wenn bei höherm Auflodern der Holzscheite ein volleres Licht auf sie fiel. Dann suchte sie dieselben vergeblich mit dem kurzen Rocksaum zu bedecken, daß Dietwald einmal dazu sprach: »Wenn du ruhig sitzest, friert es dich dennoch an den Füßen,« Sie antwortete rasch und zugleich stockend: »Nein –« und ihr Antlitz wurde rot. Er versetzte: »Doch, dein Gesicht redet, daß du es verbirgst, warum hast du's nicht früher gesprochen? Es wäre ein übler Lohn deiner Bescheidenheit, wenn du krank würdest, und es war töricht von mir, nicht eher dafür zu sorgen.« Er hatte in der Tat nie mehr an das Absonderliche ihrer Bekleidung gedacht, sie schien ihm unzertrennlich von dem einfachen Überwurf des geflockten Schafsfelles und den bauschenden Linnenärmeln. Nun ging er am nächsten Tage und ließ ihr lange Frauengewänder herstellen, so gut die herabgekommene Kunst der Gewandschneider zu Nowgorod solche an Stoff und Zuschnitt ins Werk zu sehen vermochte. Als er sie zum ersten Male darin gewahrte, überraschte ihn der Anblick, doch eigentlich nicht mit dem erfreulichen Eindruck, den er davon erwartet. Sie erschien größer, schlanker und völlig anders geworden, er sah sie im ersten Augenblick befremdet an. Vorher hatte sie ihn nicht an ein weibliches Wesen erinnert, jetzt bot sie eine Ähnlichkeit mit jungen Mädchen, wie er sie zu Hamburg gesehen. Etwas Vertrautes war ihm aus der Stube verschwunden, er konnte die Umänderung ihrer Kleidung nicht bereuen, denn sie zeigte sich sichtlich davon beglückt und gewann besseren Schutz gegen die Kälte dadurch, aber das weiße, umzottelte Lamm mit den kleinen, zierlichen Füßen war ihm lieber gewesen. Wenn er jetzt mit ihr am Herde saß, gemahnte ihre Erscheinung ihn an den Wunsch, der im vorigen Winter manchmal in ihm emporgetaucht, daß statt der alten Wirtschafterin Folka Wulflam ihm dort gegenüber sitzen möge, häufiger denn früher mußte er der letzteren gedenken, trat ihre sichere, hohe Gestalt in stolzer Schönheit ihm im Vergleich lebendig vor die Augen. Es kam ihm erst jetzt, daß Elisabeth in ihrer Waldtracht eine gewisse natürliche Anmut besessen, die sie seit der Anlegung der neuen Gewänder verloren. Sie bewegte sich in diesen nicht mehr so behend und ursprünglich, erschien überhaupt nicht als ein fröhliches Kind mehr, hatte oftmals etwas Befangenes, zuweilen fast einen scheuen Aufblick. Nur ihr Lerneifer blieb der nämliche und ihre Freudigkeit, wenn sie als Belohnung ihres Fortschrittes das Schatzkästchen aus dem Schrein hervornehmen und den glitzernden Inhalt durch ihre Finger gleiten lassen durfte. Doch zog sie unverkennbar am meisten das kleine Goldkreuz an, sie hielt es stundenlang mit sorgsamer Vorsicht in der Hand, und ihre scharfen Augen hatten die neuerlernte Wissenschaft daran betätigt, daß sie herausgefunden, der von dem Blätterkranz umgebene, beinahe verlöschte Buchstabe darauf sei ein E gewesen. »Grad' wie mein Name anfängt!« stieß sie bei der Entdeckung beglückt hervor. Dagegen flößte das Messing-Amulet ihr augenscheinlich eine Abneigung ein. Sie griff wohl öfters auch nach ihm, doch die Art, wie ihre Finger es faßten, war eine völlig andere. Eines Tages vermißte Dietwald Werneken die darin enthaltene braune Haarflechte und fand sie erst nach vergeblichem Umhersuchen auf dem Fußboden liegend. »Du bist unvorsichtig gewesen und hast sie herausfallen lassen,« tadelte er Elisabeth unwillig, »künftig werde ich dir die Kapsel nicht mehr für deine Spielerei lassen.« Es war zum ersten Male, daß er ein scheltendes Wort zu ihr sprach. Sie stand mit rot aufglühenden Schläfen, antwortete stotternd: »Verzeiht mir, wenn ich Schuld dran gehabt«, und ging rasch zu einer häuslichen Vorkehrung aus der Stube hinaus.


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