Wilhelm Jensen
Dietwald Werneken
Wilhelm Jensen

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Drittes Kapitel.

Der Vorort der Hanse war der allgemeinen bürgerlichen und kirchlichen Bewegung, welche alle übrigen ihrer Städte erfaßt, erst zuletzt nachgefolgt. Seit länger als hundert Jahren, dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts, hatten die Geschlechter zu Lübeck eine in starre Satzungen einzwängende Herrschaft geübt und unter ihr ebensowohl das freiheitliche Aufstreben der Gewerkszünfte als die untersten Schichten der Stadtbevölkerung mit eiserner Kraft niedergehalten. Durch diesen langen Zeitraum vieler Menschenalter war die Geistlichkeit und die Aristokratie unablässig fest verbündet gewesen, keine Änderung der Verfassung und keine Anteilnahme der Innungen und Gilden an der Regierung aufkommen zu lassen, wie solche im Gange des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts wechselnd bestanden. Dauernd jedoch hatte das Junkerregiment mehr oder minder in den Händen kraftvoller Vertreter der bevorrechtigten Stände gelegen, welche, wenn sie auch eigensüchtig mit Druck und Zwang im Innern ihre Gewalt behauptet, doch zugleich die Blüte des Gemeinwesens ins Auge gefaßt und nach außen hin die stolze Machtstellung, Wohlfahrt und alte Namensehre der Hanse mit politischer Klugheit und Stärke aufrecht erhalten hatten. Aber bald seit Menschengedenken hatte die patrizische Herrschaft dies ruhmvolle Erbteil großer Vorväter verloren, nur ihre Selbstsucht immer unverhohlener und hochfahrender gesteigert, doch an die Stelle ehemaliger Kraft und Staatsweisheit war Schwäche, Unverstand und Fahrlässigkeit getreten, unter denen die deutsche Hanse mehr und mehr zu einem blutlosen Schatten ihrer mächtigen Vergangenheit hinzuschwinden drohte. So war es möglich gewesen, daß der deutsche Kaufhof zu Nowgorod von dem Großfürsten des Moskowiterreiches überfallen, zerstört und ungestraft von ihm blutige Greuel an seinen Inhabern verübt worden; so wankte und brach überall in den nordischen Reichen das Ansehen und der Vorrang der Hansen, ward von Jahr zu Jahr hier und dort, in Dänemark, Norwegen und Schweden die nährende Blutader ihres Reichtums ihnen durch erstarkende Fürstengewalt verengender umschnürt. Nicht mehr in den Geschlechtern, nur noch im untern Kaufmannsstande und in den Gewerken lag die Lebenskraft, das Angedenken der hohen Vorzeit und verlangender Trieb, diese wieder zu erneuern, doch das Einverständnis und Bündnis des patrizischen Rates mit dem päpstlichen Domkapitel, den benachbarten Landesfürsten und Rittern, den Junkern der wendischen Städte und dem aristokratischen kaiserlichen Reichsregiment fügte sich zu unzerbrechlich ineinander, als daß eine Auflehnung dawider Aussicht auf Erfolg geboten hätte. Da war unerwartet im Beginn des dritten Jahrzehnts ein Sturm über das gesamte Deutsche Reich hereingebrochen, der zwar anfänglich nichts mit den weltlichen Angelegenheiten der Menschen gemein zu haben, sondern nur eine Umänderung ihres kirchlichen Glaubens und ihrer Anschauung überirdischer Dinge herbeizuführen schien. Aber rasch trat zutage, daß die Lehre Martin Luthers sich nicht auf eine geistliche Neuordnung und Umstoßung der alten Hierarchie beschränkte. Allerorten und besonders in den Hansestädten atmete die Menge des Volkes durstig auch einen befreienden Anhauch ein, den bürgerlichen Druck, unter den sie gefesselt lag, abzuschütteln; in schneller Erkenntnis stemmten zu Lübeck sich der Rat und die Klerisei einmütig mit vollstem Kraftaufgebot der wittenbergischen Verkündigung entgegen, und es gelang ihnen geraume Weile hindurch so sehr, ihrer Ausbreitung gewaltsam vorzubeugen, daß sie noch im Jahre 1528 lutherische Schriften vom Büttel am Kaak auf dem Markt schimpflich verbrennen und Reiseprediger des ›gereinigten Wortes‹ in den Turm werfen – ›eintürmen‹ – zu lassen vermochten. Doch zeigte ihr Trachten, den großen Zug der Zeit in der Seele der Menschen zu erdrücken, sich vergeblich. Ringsum schritten die übrigen Hansestädte, selbst Hamburg, mit der Einführung der Reformation und dem Verbot des alten Gottesdienstes voran, eine ausnehmend weltliche Angelegenheit bot zunächst die Handhabe, dem Protestantismus auch zu Lübeck Eingang und Anerkennung zu erwirken. Der Stadtsäckel bedurfte einer neuen Steuerausschreibung, und der Ausschuß der Volksvertretung weigerte ihre Bewilligung, bevor der Rat die Zulassung der evangelischen Lehre gestatte. Aus diesem kleinen Beginn aber erwuchs mit außerordentlicher Schnelligkeit eine völlige Umgestaltung nicht nur der kirchlichen, sondern auch der bürgerlichen Verhältnisse. Dem auflodernden Glaubenseifer der Menge gesellte sich ein ebenso rückhaltloser und tatkräftiger Freiheitsdrang hinzu. Bald hatte ein neuerwählter Gemeindekörper der ›Vierundsechziger‹ seine Macht derartig gesteigert, daß er die Aufsicht über den gesamten städtischen Haushalt ansprechen und Rechenschaftsablage für die letztvergangenen Jahre zu fordern vermochte. Der bestürzte, eine allgemeine Volksempörung befürchtende Rat fügte sich und lieferte die Schuldregister der Stadt zur Begutachtung aus. Damit war es um das Ansehen des alten Regiments geschehen, die Vierundsechziger hielten fortan in Wirklichkeit die Gewalt in Händen. Rasch wurden sämtliche Kirchen, außer dem Dom, zu protestantischen umgewandelt, lutherische Prediger eingesetzt, der römische Klerus und die Mönche aus der Stadt vertrieben, die Klöster zu Schulen und Armenhäusern verändert. Auf Ansuchen der Bürgerschaft kam Dr. Johannes Bugenhagen aus Wittenberg und verlieh der evangelischen Neugestaltung feste gesetzliche Ordnung; heimlich rief der aristokratische Rat zu Augsburg die Beihülfe des Reiches an, und Kaiser Karl V. erließ eine Strafandrohung zur Herstellung des alten Gottesdienstes und sprach gleichzeitig die Absetzung der Vierundsechziger aus. Doch in seiner eigenen schweren Verwicklung mit dem Schmalkaldischen Bunde gebrach ihm jegliches Vermögen, seinem Gebot Gehorsam aufzunötigen, und im Jahre 1531 entflohen die beiden Burgemeister Nikolaus Brömse und Hermann Plönnies aus Lübeck, um den Herzog Albrecht von Mecklenburg um gewaltsame Vollstreckung des kaiserlichen Mandates anzugehen. Allein auch dieser Versuch blieb gleich erfolglos, erhöhte nur den allgemeinen Unwillen gegen den zum größten Teil katholisch verbliebenen Junkerrat, rief mehrfachen wilden Ausbruch von Volksaufständen hervor und führte dahin, daß am 8. März des Jahres 1532 an Stelle des verstorbenen Herrn Gottschalk Lunte aus der Mitte der Vierundsechziger Herr Jürgen Wullenweber auf den Sitz des ersten Burgemeisters erhoben wurde. Dieser stand in den kraftvollsten Mannesjahren, war im Beginn des letzten Jahrzehnts des verwichenen Jahrhunderts zu Hamburg geboren und hatte sich als junger Kaufmann in Lübeck niedergelassen. Er entstammte einer Handelsfamilie, die jedoch nicht zu den Geschlechtern und den ›großen Hansen‹ gehörte, und hatte sich vom ersten Bekanntwerden der Lehre Martin Luthers durch furchtlos glühenden Eifer für ihre Ausbreitung und Einführung hervorgetan. Dann war er nach der Umgestaltung der Lübecker Verfassung im Jahre 1531 als Vollmachtsabgesandter der Stadt nach Kopenhagen gegangen, um im Interesse der Hanse zusammen mit andern Sendboten aus Rostock und Stralsund sich Klarheit in den höchlichst verwickelten nordischen Verhältnissen zu gewinnen. Dort war nach dem Tode seines Vaters Johann um das Jahr 1513 der Enkel des oldenburgischen Grafen, Königs Christian des Ersten, als Christian der Zweite auf den Thron Dänemarks, Norwegens und Schwedens gelangt, hatte mit launenhaft wilder, unerhörter Härte, Grausamkeit und Rachsucht geherrscht, besonders überall in seinen Ländern den Adel gewaltsam zu Boden gepreßt und vor allem im ›Stockholmer Blutbad‹, um Schweden völlig zu unterwerfen, sich als erbarmungsloser, wortbrüchig tückischer Wüterich erwiesen, wie die Geschichte kaum seinesgleichen zuvor gekannt. Ein Todfeind der Edeln, der Geistlichkeit und der Bürger, zeigte er sich dagegen als Freund der Bauern, hatte diese vielfältig aus der schweren Bedrückung durch ihre Herren befreit und dadurch ihre begeisterte Anhängerschaft gewonnen, auf die er hauptsächlich sein blutiges Regiment gestützt. Doch in Schweden zuerst stand das Volk gegen ihn auf, und Gustav Erichson entriß ihm dort die Krone; die deutsche Hanse, deren Handel er durch hohe Mauten, heimliche und offene Gewalttaten zu unterdrücken trachtete, rüstete Schiffe gegen ihn, überfiel die dänischen Küsten, eroberte Helsingör und die Insel Bornholm und half, als im Jahre 1523 der Reichsrat Dänemarks Christiern den Zweiten der Krone verlustig erklärte, seinem erwählten Nachfolger und Oheim, König Friedrich dem Ersten mit Waffengewalt zur Besitznahme seiner Länder. Christiern der Zweite suchte landflüchtig bei seinem Schwager, dem deutschen Kaiser Karl dem Fünften, Unterstützung, rüstete in den burgundischen Landen ein Heer und landete vermittels niederländischer Schiffe zu Opslo in Norwegen, dessen ländliche Bevölkerung ihn mit Jubel empfing und seinen Fahnen zuzog. In solcher Bedrängnis wandte König Friedrich von Dänemark sich angstvoll um Beihülfe nach Lübeck, welches besonders, weil die Niederländer sich im Bunde mit dem vertriebenen König zeigten, sofort den bevorstehenden Krieg als den ›seinigen‹ erklärte und vier Orlogsschiffe nach Kopenhagen entsandte, die dort von dem Reichsrat in ehrerbietiger Dankbarkeit mit der Ansprache empfangen wurden: »Die Lübecker hätten in solcher Not sich nicht als Nachbarn, sondern als Väter Dänemarks bewiesen.«

Also lagen die Dinge, als Herr Jürgen Wullenweber, aus dessen eifrigen Betrieb dieser rasche Beistand hauptsächlich ins Werk gesetzt worden, sich gleichfalls selber nach Kopenhagen begeben, um über den gemeinsamen Kriegszug Verhandlungen zu pflegen. Er hielt sein Augenmerk vor allem auf einen Punkt gerichtet, daß nämlich Dänemark als Hauptersatz für die hansische Mithülfe hinfort den Niederländern die Fahrt durch den Sund sperren solle, welche von Jahr zu Jahr mehr durch ganze Kauffahrteiflotten den Handel in der Ostsee an sich zu reißen drohten. Inzwischen nahm der Krieg durch die lübische Schiffsmacht für Christiern den Zweiten unheilvolle Wendung. Er wurde geschlagen und ließ sich, auf keinen Waffenerfolg mehr hoffend, durch Knud Gyldenstern, den Bischof von Odensee und Befehlshaber der dänischen Flotte, verlocken, unter Zusicherung freien Geleites zu einem mündlichen Ausgleich mit seinem Oheim nach Kopenhagen zu kommen. Doch hier eingetroffen, ward er mit hinterhältischer Wortbrüchigkeit von den Dänen ergriffen und im ›blauen Turme‹ zu Sonderburg auf der schleswigschen Insel Alsen mitsamt seinem Hofzwerge »zu ewigem Gefängnis« eingekerkert. Welchen Anteil die Hansen an dieser Treulosigkeit genommen, ward nicht offenbar. Ihre Hauptleute waren nur zur Kriegsführung, nicht zu einem Verhandlungsabschluß bevollmächtigt gewesen und hatten den Geleitsbrief nicht mit untersiegelt gehabt. Damit entschuldigten sie sich nachher, der ›Gewissensbeirrung‹ der öffentlichen Meinung in den Städten wegen des Bruches von ›Brief und Siegel‹ gegenüber, daß sie an dem Verrat nicht tätliche Mitschuld getragen.

In der Erwartung aber, daß Dänemark für die geleistete hochwichtige Beihülfe sich den Städten dankbar bezeigen und mit der begehrten Sundsperre gegen die Niederländer vorschreiten werde, sahen die hansischen Abgesandten zu Kopenhagen sich durch unschlüssiges Zögern des hochbejahrten Dänenkönigs hingehalten und dann völlig enttäuscht, da Friedrich der Erste plötzlich im Jahre 1533 starb und der Thron unter äußerst verworrenen Zuständen und Gegenströmungen Jahr und Tag unbesetzt blieb. Der Reichstag vermochte sich nicht zu einer Neuwahl zu einigen, Adel, Bürger und Bauern, die Anhänger der römischen und der evangelischen Kirche standen widereinander. Die Edelleute verfolgten die Absicht, dem ältesten Sohne König Friedrichs aus dessen erster Ehe, dem aristokratisch gesinnten Herzog Christian von Schleswig-Holstein die dänische Krone zuzuwenden, während die andern Parteien zwischen den jüngern Brüdern des letztern schwankten. So führte der Reichsrat, gern dazu gewillt, provisorisch die Herrschaft fort und beschied schließlich das Andrängen der Hansestädte in bezug auf Maßnahmen gegen die Niederländer mit der Entgegnung: »Handel und Wandel in Dänemark müsse den Völkern frei sein, die Lübecker möchten sich beruhigen, bis der erwählte König Beschluß darüber fassen werde.«

Mittlerweile war Jürgen Wullenweber durch die Volkswahl zum regierenden Burgemeister in Lübeck erhoben worden und fühlte sich durch den zutage getretenen Undank des dänischen Reichsrates zu tiefster Erbitterung getrieben. Besser als irgendeinem andern, war seinem Scharfblick während des Aufenthaltes zu Kopenhagen der klaffende Durchriß und Zwiespalt der Bevölkerung Dänemarks zur Erkenntnis gelangt, und an die Trave zurückgekehrt, überzeugte er mit machtvoller Beredsamkeit den Rat und die Volksvertretung so vollständig von der Notwendigkeit, zum Schutze des Ostseehandels einen Krieg gegen die Niederländer zu beginnen, daß ihm unter begeistertem Zuruf die Ermächtigung erteilt wurde, das in der ›Tresekammer‹ bewahrte goldene und silberne Kirchen- und Klostergerät des päpstlichen Gottesdienstes zu Geldmünzen umzuschmelzen und schleunige Kriegsrüstung damit zu fördern. Dann lief als Oberbefehlshaber der lübischen Orlogsschiffe Herr Marcus Meyer, der Freund und treueste Anhänger des neuen Burgemeisters, gegen eine Flotte von holländischen Kauffahrern in die Nordsee, ward indes an die englische Küste verschlagen, dort von dem Tudorkönig Heinrich dem Achten mit hohen Ehren aufgenommen und mit dem Ritterschlag ausgezeichnet. Der eigentliche Zweck des Auszugs ward freilich dergestalt zunächst nicht erreicht, denn im Rücken der Schiffe Lübecks durchsegelten die Niederländer unter ihrem kühnen flandrischen Admiral Gerhard van Merkeren den Sund und taten dem hansischen Ostseehandel gewaltigen Abbruch, bis ein neues Geschwader von der Trave auslief und die holländische Flotte derartig zugrunde richtete, daß nur sechs ihrer Schiffe durch wilde Wintersee und Sturm ans heimatliche Ufer zurückgelangten. Doch es schien, als der Ritter Marx Meyer nun im Frühjahr 1534 gleichfalls aus London über Hamburg gen Lübeck heimkam, daß trotz seinem offenbar mißlungenen Kriegszug der Burgemeister Jürgen Wullenweber keine Unzufriedenheit über seinen langen tatenlosen Aufenthalt am Hofe des englischen Königs an den Tag gelegt hatte.


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