Wilhelm Jensen
Dietwald Werneken
Wilhelm Jensen

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Fünftes Kapitel.

So zog um die Mitte des Maimonats Dietwald Werneken auf einem starkgebauten Hochseeschiffe durch das grüne Land die Trave hinab. Die Gestalt und Bauart des hochbemasteten Fahrzeuges erschien noch fast unverändert als die nämliche der beiden letztvergangenen Jahrhunderte, seine Sicherung wider feindlichen Überfall hatte dagegen erheblichen Vorschritt gemacht, da das Deck sich auf den Kastellen derartig wehrhaft mit verschiedenen Feuergeschützen, weitrohrigen Totenorgeln, Kartaunen, Feldschlangen und Falkonetten ausgerüstet zeigte, daß es jedes gewöhnliche seeräuberische Gelüst auf den ersten Anblick in heilsamer Entfernung von sich abhalten mußte. Dergestalt lief's, der Zeitforderung gemäß, halb als Handelsschiff, halb als Kriegsschiff in die Ostsee hinaus und ebenso bildete Dietwald Werneken ein eigenartiges Gemisch, wie die Tage es nicht selten gewahrten. Zugleich als ein tiefinnerlich begeisterter Vorfechter der befreienden evangelischen Lehre und als ein klugbedachtsamer, geschäftskundiger Kaufmann segelte er der fernen, fast unbekannt gewordenen Ostfremde zu. Mit wohl überrechnender Erwägung stand seine Absicht dahin, zuförderst bei dem Handelsfreunde in Dorpat möglichst genaue Kenntnis von der Lage der Verhältnisse in Nowgorod zu gewinnen und sich dort auch mit allem sonst Erforderlichen für die Weiterreise zu versehen. Schweren Herzens noch gewahrte er allmählich die hohen Türme Lübecks in Duft und Dunst hinter sich zerrinnen, denn ein warmer Anhauch hatte unter ihnen sein Innerstes berührt, und es war wohl, wie Frau Erdmute gesprochen, daß sich ihm dort eine freundliche Heimat auftun gewollt und er aus ihr in kalte, lieblose Fremde davonzog. Aber sie hatte nicht gewußt, daß ihm allzusehr und zum erstenmal in heimlich-pochender, ungekannter Art bei ihrem traulichen Wesen und glücklich-stillen Frauenwalten ein Sehnen das Herz gefüllt, und daß er allzu deutlich empfunden, als ein redlicher Mann nicht für länger andauernde Zeit in ihrer Nähe verweilen zu dürfen. So war's nur ein kurzer, lieblicher Traum eines heimatlichen Gefühls gewesen, aus dem Wind und Welle jetzt ihn erweckt. Doch es durchströmte ihn etwas aus der frischen Seeluft, das ihm die herbe Verengung seiner Brust mit einem Trost erweiterte, er habe in tapferer Überwindung rechtschaffen gehandelt, wie es eines Mannes Pflichtgebot sei einem Weibe gegenüber, von dem alle eigensüchtigen Gedanken sich abwenden müßten. Das blies der Wind beinahe mit einem Aufschauern freudigen Mutes um die Stirn, als rausche daraus ihm eine Stimme zu, sein Blut habe sich der Ehrenhaftigkeit kraftvoller, treu und ehrlich gesinnter Vorväter würdig bewiesen, von denen auch vielleicht die blaue Welle hier dereinstmals gesehen, daß sie schweren Sieg über ihr eigenes Herz erstritten. Weit hinüber gen Nord stieg jetzt im späten Sonnenlicht ein flimmernd weißes Geleucht gleich dem Aufblitzen eines Wogenschaumkammes aus der ruhigen See, und Dietwald Werneken befragte den Schiffer, was für ein heller Punkt dort vom Wasser emportauche. »Die Kreidefelsen von Mönnsklint, Herr, man schauet heut weit, bräch' das Dunkel nicht ein, gewahrten wir vielleicht bald gar die Dünen von Falsterbo.« Doch dämmernd kam die milde Nacht, und unter glitzerndem Sternendach wanderten die mäßig geschwellten Segel dahin. Von dem fremdartigen Reiz der Seefahrt wundersam bezaubert, verblieb Dietwald bis zum Anbruch des Morgens auf dem Deck. Leise summten Wellen und Wind, und immer friedlicher ward es in seiner Brust. Wie ein Fleckchen Erde, wohin nur der Traum ihn einmal gebracht, lag das freundliche Haus in der Dankwardsgrube zu Lübeck hinter ihm zerronnen, aber das tröstliche Gefühl, daß die Welt noch so heimelnd warme Stätte besaß, und das Bildnis des lieben, schönen Frauenantlitzes darin durften ihn überall auf seinen Wegen in die Fremde begleiten. Mit einer süßen Müdigkeit fielen zuletzt die Lider zu, und als er sie wieder aufschlug, war das Nachtdunkel um ihn gewichen und grüßte morgensonnenbeglänzt die waldgrüne Berginsel Bornholm ihm in die erwachenden Augen. Der Kurs des Schiffes hielt sich nordwärts um sie, folgte der schwedischen Küste entlang zur Südspitze von Öland und weiter bis Gotland, segelte diesem an der ganzen Ostseite dahin und wandte sich erst dann gradhinüber der kurländischen Küste zu. So blieb es bis auf das letzte Stück fast überall irgendwo in Landsicht und huldigte noch einem Rest der Überlieferung aus Vorväterzeit, wenn die Möglichkeit sich bot, die Fahrt auf völlig offener See auch durch Einschlagung eines beträchtlichen Umweges zu kürzen. Doch war dieser im vorliegenden Falle nur geringfügig, um so erheblicher dagegen der Umstand, daß Dietwald zu Lübeck nur Seebeförderung bis Riga zu erlangen vermocht hatte und hier zuzuwarten genötigt war, bis ein anderes, leichter gebautes Schiff nach Dorpat unter Segel ging. Mit dem mußte er den weiten Rigaer Meerbusen wieder zurückbefahren, um durch den bedrohlichen Mogösund das Finnische Meer zu erreichen und das langgedehnte Ufer Estlands umkreisend, den Hafen des kleinen Städtchens Narwa anzulaufen, dem gegenüber seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts sich mit gewaltigen Türmen die russische Zwingburg Iwangorod drohend emporhob. Hier bog die Fahrt wieder gen Süden, durch die Narowa, den Abfluß des großen Peipussees und über diesen selbst weiter bis zur Stelle, wo von Westen her der Embach in ihn einmündete, welcher, schon seit Jahrhunderten mehr und mehr versandend, die Annäherung zu tief gehender Fahrzeuge an die in seinem hügelumwellten Talbett gelegene Stadt Dorpat untersagte. So verstrichen durch den weiten Seeumweg, zu dem die trostlose Straßenbeschaffenheit des festen Landes zwischen Riga und Dorpat nötigte, und bei den vielfältig ungünstigen Segelbedingungen in Sund, Meerbusen, Flußströmung und Landsee mehrere Wochen, bis das Schiff an den Embach gelangte, und es war an einem Abend schon im Beginn des Julimonds, als sich zum erstenmal das alte Hansebundglied Dörpt oder Dorpat aus grünem Gelände vor Dietwald Werneken emporhob. Umfangreich, altertümlich, stattlich und freundlich lag es vielgetürmt und burggekrönt zu beiden Seiten des brückenüberspannten Embach als zweite Hauptstadt des vormaligen Deutschherrenlandes Livland, dessen Unabhängigkeit der Heermeister des Schwertbrüderordens Walter von Plettenberg in der Mitte des vorigen Jahrzehnts erkauft, es zu einem weltlichen Fürstentum umgewandelt und, obwohl selbst bei der römischen Kirche verblieben, die Einführung der lutherischen Lehre darin frei verstattet hatte. Es waren zumal in Dorpat unruhvolle Tage gewesen, als ein vormaliger Mönch aus dem Kloster Belbuck dort die Reformation gepredigt, die Heiligenbilder verbrannt und auch die russischen Kirchen nicht verschont hatte; manche Vorgänge und Personen hatten nicht undeutlich an das Treiben der Wiedertäufer zu Münster gemahnt. Jetzt aber war schon seit geraumer Zeit gesicherte kirchliche und weltliche Ordnung hergestellt, und überrascht gewahrte der Hamburger Ankömmling das anmutvoll von einem Kranz üppigen Pflanzenwuchses umrahmte Stadtbild, das er hier im hohen Norden keineswegs mehr so lebensfreudig erwartet hatte, und erkundigte sich am Landungsplatze des Schiffes alsobald nach der Wohnung seines Geschäftsfreundes, Herrn Goswin Wulflams. Während er diese Frage stellte, mußte er unwillkürlich den Kopf verwenden, denn hart neben ihm lief eine schmale, scharfgebaute Jolle unter vollem Segel bis an den Uferrand des Flusses, bog sich geschmeidig dran hin, zugleich reffte die Hand des Insassen behend das gebauschte Linnenwerk, und das kleine Fahrzeug lag unbewegt da. Es war geschehen, wie wenn ein Reiter sein Pferd in gestreckt fortjagendem Lauf plötzlich regungslos festgehalten, und Dietwalds Blick haftete, von der Schaubietung angezogen, auf der kühngewandten Handhabung des Bootes. Dann jedoch nahm der Ausdruck seines Erstaunens noch zu, denn der Schiffer, der jetzt ans Land sprang, kennzeichnete sich sofort an Gestalt und Antlitz nicht als ein Mann, sondern als ein hochgewachsenes, von kurzem, glänzend braunem und wellenartigem Haargelock umflogenes junges Weib. Ihre Tracht hielt ungefähr eine Mitte zwischen männlicher und weiblicher, schien eine von ihr selbst auserdachte Kleidung zu sein, welche Schicklichkeit mit möglichst geringer Behinderung ihrer Bewegungsfreiheit verband; ein locker geknüpftes Tuch umschloß den elfenbeinfarbig aufglänzenden Hals, darüber richteten sich einen Augenblick die beiden etwas mandelförmig geschnittenen, dunklen Augen auf den gelandeten fremden Schiffsgast. Dann bückte das Mädchen sich ans Wasser zurück, das Tau ihrer Jolle um einen Ankerpfahl zu befestigen, und Dietwald schlug, von einem bereitwilligen Führer geleitet, den Weg nach dem unfern gelegenen Hause seines Handelsfreundes ein. Er fand in Goswin Wulflam einen würdigen Herrn von weit vorgerückterem Alter, als er vermutet, doch nahm derselbe den unerwarteten, weithergelangten Ankömmling mit überaus freundlicher Zuvorkommenheit auf, duldete nicht, daß Dietwald eine Herberge bezog, sondern führte ihn sogleich in eine wohleingerichtete Gaststube und sprach zuversichtlich die Erwartung aus, der hochwillkommene unbekannte Geschäftsfreund werde, solange er sich in Dorpat aufhalte, unter seinem Dache verweilen. Bald saßen sie in eifriger Beredung über den Hierherkunftszweck des jungen Hamburger Kaufmannes zusammen, und Herr Goswin Wulflam sprach oftmals seine hohe Freude aus, daß er durch sein Schreiben die Anregung zu dem kühnbeherzten, bedeutsamen Entschluß in die Seele Dietwald Wernekens gelegt habe. In der Tat lauteten die inzwischen aus Nowgorod neu eingetroffenen Nachrichten noch günstiger als die früheren, und der Berichterstatter glaubte die besten Erwartungen auf einen glücklichen Erfolg des Unternehmens setzen zu dürfen. Er erwies sich ebensosehr als tief überzeugter Anhänger der evangelischen Lehre, wie als begeisterter Vorkämpfer zu Dorpat für die Wiederbefestigung der alten Hansemacht und baute ausschließlich alle Hoffnung, daß diese zur ehemaligen Blüte zurückkehren könne, auf die Verfassungsumgestaltung zu Lübeck und den neuen Burgemeister Wullenweber, der sich bereits als klug und tatkräftig gegen die Dänen wie gegen die Niederländer bewährt, und von dem ringshin an der Ostsee ein besonderer Ruf umgehe. Keiner wisse recht, worauf dieser ziele, aber er laufe umher wie der laut vorausbrausende Südwind, wenn der Frühling herankommen wolle. Mit hoher Anteilnahme horchte Goswin Wulflam deshalb auf die Erwiderung seines Gastes, in welcher dieser von seinem mehrmaligen Zusammensein mit Jürgen Wullenweber Kunde gab, und wohl zwei Stunden gingen so unter lebhafter Zwiesprache hin. Doch dann, als Dietwald bei einer Pause Gelegenheit nahm, sich artig nach den häuslichen Umständen seines Wirtes zu erkundigen, veränderte dessen vorige Beredsamkeit sich zu wortkarger Entgegnung, daß er bereits seit vielen Jahren Witwer und kinderlos sei und nach dem Tode seiner Gattin, um der unertragbaren Einsamkeit zu wehren, eine Tochter seines zu Reval seßhaft gewesenen, verstorbenen Bruders an Kindesstatt zu sich genommen habe. Die bewohne das Haus mit ihm, sonst lebe er völlig allein.

Goswin Wulflam brach kurz von dem Gegenstande wieder ab und lenkte das Gespräch auf die politische Lage der Verhältnisse zu Nowgorod zurück, doch trat jetzt bald die Ankündigung dazwischen, daß die Nachtmahlzeit bereits harre, und er führte seinen Gast in das Speisegemach hinüber. Der Tisch stand für drei Personen gedeckt, es befand sich indes niemand als eine Magd in der Stube, und Herr Wulflam fragte beim Eintreten: »Ist Folka noch nicht heimgekommen?« Die Befragte erwiderte: »Sie hat mir Auftrag gegeben, zu vermelden, daß sie müde sei und zu schlafen begehre.« – »So vermeld' ich zurück, mein Wunsch heiße sie herabkommen, um einem Gaste die Ehre des Hauses zu erweisen.« Die Magd ging, der Hausherr stand sichtbar in unsicherer und ungeduldiger Erwartung. Dann jedoch drehte er, fast Erstaunen kundgebend, den Kopf, eine Seitentür öffnete sich, die Gerufene schritt über die Schwelle und sprach: »Ihr wünscht, Oheim, daß ich zu Tisch mit Euch sitze, aber Ihr werdet mich nicht nötigen wollen, mit Euch zu speisen, da ich keinen Hunger fühle.«

Dietwald Werneken hatte die Hereingetretene einen Augenblick ungewiß angeschaut, dann erkannte er überrascht in ihr das Mädchen, das bei seiner Ankunft die Segeljolle an der Flußböschung gelandet. Sie trug jetzt andere, völlig weibliche Kleidung und erschien darin noch höher an Gestalt als zuvor, wie gleichfalls der unbedeckte Scheitel ihre außergewöhnliche Schönheit noch erhöhte. Ihr Kopf hob sich klein, doch ausnehmend kraftvoll, als sei er aus einem festen Gestein herausgemeißelt, von dem schlanken Hals, darunter ließ das Gewand Schultern, Brust und Arme in den weichen Rundungen einer blühend entwickelten Jungfrau hervortreten. Sie hatte den Gast mit einer kurznachlässigen Verneigung begrüßt, nahm schweigend ihren Sitz am Tisch ein und machte beim Niederlassen, wie es schien gewohnheitsmäßig, mit den Fingern ein Kreuzzeichen über Gesicht und Brust. Doch berührte sie die Speisen nicht und beteiligte sich nicht am Gespräch; nur wenn Dietwald sie anredete, gab sie eine flüchtige Antwort. Er sprach, daß er sie bereits erblickt, als er vom Schiff ans Land gestiegen, und sie versetzte: »Wenn Ihr's nicht getan hättet, müßtet Ihr blind gewesen sein.« Wie er fragte, ob sie zuweilen mit ihrem Boot bis auf den Peipussee hinaussegele, gaben ihre Lippen geringschätzig Erwiderung: »Er ist ein Teich für Enten und Frösche, die Schwäne lachen über ihn, wenn sie drüber hinziehen.« Zu weiterm öffnete sie kaum den Mund, erhob sich, sobald die beiden andern ihre Mahlzeit beendet hatten, und verließ mit einem gleichgültig, nur halb vernehmbar hingeäußerten Nachtgruß die Stube. Es besaß etwas Peinliches für Dietwald, daß sein Wirt nach ihrem Fortgang wohl eine Minute lang in wortlosem Schweigen verharrte, und er unterbrach dies mit der Frage: »Ist Eure Nichte noch beim römischen Glauben verblieben, Herr Wulflam?« Der Angesprochene nickte: »Ihr sahet, daß sie ein Kreuz schlug; sie ist abergläubischen Gemüts und Papistin, weil wir andern es nicht sind; wären wir römisch, so würde sie sich vielleicht zu Luther bekennen. Freilich war ihre Mutter eine Polin und hat sie bis zu ihrem Tode am alten Glauben gehalten, aber wenn der Trotz nicht von weiter her schon in ihrem Mut gesteckt, wär's leichter, über ihn Herr zu werden.«

Ton und Inhalt der Erwiderung beließen wider die Absicht des Sprechers keinen Zweifel, daß er nicht Herr über den Eigenwillen seiner jungen Hausgenossin sei; Dietwald entgegnete in einiger Verlegenheit: »Es scheint, daß sie Dorpat und Eure Gegend umher nicht in besonderer Gunst hält.«

»Sie war bis zu ihrem sechzehnten Jahre in Reval und lief dort bei Sturm und Nacht, wenn die Lust sie ankam, mit ihrem Segel ins Meer hinaus, daß sie zuweilen tagelang nicht heimkehrte; drum heißt sie den Peipussee einen Ententeich. Die Natur hat sich vergriffen und ein Weib aus ihr geschaffen statt eines Mannes. Gott besser's! Ob ihr Vater es vermocht hätte und gefehlt hat, weiß ich nicht: ich kann's nicht.«

Unverhüllt trat jetzt zutage, weshalb Goswin Wulflam zuvor rasch von der Darlegung seiner häuslichen Umstände abgebrochen und was sein tägliches Leben bedrückte. Er hatte diesem mit dem Kinde seines Bruders einen Widerstand gesellt, den er nicht zu bewältigen vermochte. Die beiden gingen sich fremd und abgetrennt vorüber, zum mindesten das Mädchen ihm, während aus seinen Blicken und seinem Verhalten gegen sie bei der Mahlzeit das Trachten gesprochen, jeder Neigung von ihr entgegenzukommen. Unverkennbar hing sein Herz mit Bekümmernis an ihr, und daraus entsprang Schwäche seines Willens, ihren starren Sinn mit Gewalt zu bezwingen. Um nicht völlig erwiderungslos zu bleiben, fragte Dietwald:

»Ist die Jungfrau allzeit so schweigsam?«

Sein Wirt fiel ein: »Ihr habt ihr nicht gefallen, sonst hätte sie Euch herausgefordert, morgen zu Roß oder zu Kahn mit ihr zu wetten – verzeiht, Herr Werneken, das Wort, das mir entfahren, darf Euch nicht kränken, ich weiß nicht, ob es ein Lobspruch und begehrenswert sein möchte, ihr Wohlgefallen zu regen. Bisher hat niemand zu Dorpat, nicht Mann noch Weib, solche Gunst bei ihr gewonnen. Lasset uns bei einem guten Becher von Erfreulicherem reden und Euch beweisen, daß mindestens in unsern Kellern der alte Hanseruf Dorpats noch nicht zu Wasser geworden.«

Er ging, um bald mit einer mächtigen Erzkanne edelsten hispanischen Weines wiederzukehren, und den Becher gegen den seines Gastes stoßend, sprach er: »Nordländisch Willkommen, lieber Herr! Habt Dank, daß Ihr mir so guten Abend heut bereitet, auf den ich am Morgen nicht gehofft, und laßt freundlich gesinnt ihm noch manchen nachfolgen, einem einsamen Manne wohlzutun. Ich bin ohne Sippe und echte Freundschaft in unserer Stadt, und wenn das Alter heraufrückt, wird man der Kälte gar abhold, daß man gern von Eurer wärmern Heimatgegend vernimmt.«

»Bin vielmehr erstaunt gewesen, so heiße Sonnenglut und saftgrünes Land bei Euch anzutreffen,« entgegnete Dietwald, »mich deucht, um nichts anders als bei uns.«

»Seid in der Hochsommerzeit gekommen, Herr Werneken, sind gar kurze Hochzeitsflitterwochen zwischen Himmel und Erd'. Drauf folgt kaltes Blut und lange Trübsal unter weißer Decke – werdet's noch verspüren zu Naugard – kein Herbst und Frühling wie im schönen Wendland.«

»Stammet nach Eurem Namen auch von dorther, Herr Wulflam.«

Der Befragte hatte mehrfach mit Wohlbehagen seinen Becher geleert, und sichtlich fiel die Bedrückung seines Gemütes allgemach mehr von ihm. »Trinket,« mahnte er seinen Gast, »beim Trunk und guter Rede schwindet die Sorge. Werd' Euch ein Fäßlein an den Ilmen-See mit auf den Weg laden, daß Ihr vorerst des russischen Lebenswassers nicht bedürft. Habt recht, mein Vater ist aus der Stadt Stralsund hierher ins Land gekommen, wo er von dem hochfahrenden Junker Wulf Wulflam entstammt, dem Orlogshauptmann und Freunde von Königen und Fürsten, der im Anbeginn des vorigen Jahrhunderts um Gewalttätigkeit willen von der Blutrache pommerscher Edler erschlagen worden. Ihr habt vielleicht von ihm vernommen, daß er der reichste aller großen Hansen rings an der gesamten Ostsee gewesen, doch trotzdem durch unmäßige Verschwendung dergestalt in Armut versunken, daß die Sage in Wendland ergeht, es habe seine Wittib in Tagen des Alters als die ›arme reiche Frau‹ zu Stralsund an den Kirchentüren in einer silbernen Schüssel Almosen erbettelt. So schwindet Hochmut und Goldesstolz dahin, Herr Werneken, aber der Volksmund erhält sie länger im Gedächtnis der Menschen, als Namen und Angedenken besserer Männer, die sonder eiteln Glanz und prahlende Großsucht zu ihrer Zeit das Gute gefördert haben. Darüber sinnet man wohl manchmal mit weißem Haar in einem einsamen Hause sonderbar nach, wie auch ein Menschenkind und ingleichem selber ein großes Geschlecht eigentlich nur in nämlicher Art eines Baumes heraufwächst, Äste und Gezweig aussendet, eine Weile die Erde um sich schaut, und langsam Ast um Ast wieder abdorrt, bis mit dem letzten auch der Stamm hinschwindet und keine Spur mehr läßt, daß er gewesen. Und doch, will es mich bedünken, erlischt mit einem solchen letzten ein absonderliches Leben, welches eigene Art besessen und in seinem Blut fortvererbt, daß sie stets wieder hervorbricht, wie ein Baum noch nach Jahrhunderten die nämliche Frucht seines Ursprunges zeitigt. Könnten wir zurückschauen, da glaub' ich, daß wir da und dorten unser Abbild fast mehr noch an Geist und Gemüte, als an Leiblichkeit vor uns gewahren und anerkennen würden, wir seien es eigentlich nicht selber, die also denken, tun und wollen, vielmehr die Fortdauer derjenigen, die in uns ihr Lebenstrachten hinterlassen, und dasselbe nach einem Ziel zu fördern streben, das sie nicht zu erreichen vermocht. Da fällt es herb und trübe, als ein freudlos abdorrender Ast ein großes Geschlecht zu beschließen, denn die Wulflams sind durch Jahrhunderte zahlreich in den wendischen Städten gewesen wie Möwen am Seestrand, doch soweit mein Wissen geht, bin ich der Letztverbliebene, der ihren Namen ins Grab legt.«

Der Wein regte die Zunge des alten Herrn zu elegisch vertraulicher Rede, deren Mitteilsamkeit unverkennbar durch großes Wohlgefallen an seinem Gaste noch erhöht wurde. Dieser entgegnete:

»Es ergeht mir gleich Euch, Herr Wulflam, nur daß meiner Vorväter Gedächtnis schneller ausgelöscht worden, als das der Eurigen. Ein Knabe, der seinen Ältervater nicht mehr mit Augen gekannt, vernimmt wenig anderes von ihm als seinen Namen, und wenn es ihn hernach treibt, weitere Kunde zu gewinnen, mag es gemeiniglich zu spät sein. Unterzeiten hat es mich auch wohl bedünkt, als seien zwei Naturen in mir verborgen, ich vermag nicht zu sagen, im Widerstreit miteinander, doch gleich als ob die eine wachen Sinnes in die Welt blickte und andere daneben oftmals von heimlicher Empfindung befallen werde, sie habe dieses und jenes schon einmal zuvor in einem Traume gelebt. Das mag eine solche Hinterlassenschaft sein, von der Ihr geredet, allein darum achte ich nicht minder dafür, daß jeglichem die Pflicht obliegt, über sich selber Herrschaft zu üben und, ob er gutes ober übles Erbteil empfangen, dasselbe mit eigener Kraft unter dem Zaum seiner verständigen Einsicht, seines Willens und Gewissens zu bändigen.«

Goswin Wulflam nickte: »Wer es zu üben vermag, Herr Werneken, dem teilet Ihr gewißlich mit Fug solche Pflicht zu. Aber wie ein Vater öfters von seiner Hinterlassenschaft dem einen Haus und Hof, dem andern Geld und Gut übermacht, so fällt Brüdern auch zuzeiten verwunderlich ein geschiedenes Erbe des Blutes, daß es nicht Verdienst ist, noch zum Vorwurf gereichen kann, dasselbe unwillentlich empfangen zu haben. Es hat in mir von Kindesbeinen auf bedachtsamer Kaufmannssinn gelegen, wie er wohl ursprünglich zu unseres Geschlechtes Ansehn und Reichtum den Grund gefestet, derweil mein Bruder – ich rede es ihm sonder Tadel ins Grab nach – wohl eine andere Erbschaft von jenem hochstrebenden Wulf Wulflam her überkommen, der er sich nicht zu erwehren vermocht. Denn bereits als Knabe war er heißblütigen und unruhigen Gemüts, allzeit mit offener Hand zur Vergeudung bereit, großen Sinnes, aber stets einbildnerisch nach Unerreichbarem trachtend. Das hat ihn, obzwar als den Jüngern von uns, vor mir völlig verarmt und lebenssatt in die Erde gebracht.«

Der Sprecher leerte schwermütigen Gesichtsausdruckes seinen Becher zur Neige; Dietwald Werneken versetzte: »So entstammt von ihm seiner Tochter absonderes Wesen?« Allein Goswin Wulflam schüttelte den Kopf und gab Antwort:

»Wohl auch, doch nur ihres ungefügen Blutes geringeres Maß. Ihr sprachet, wie hurtig das Gedächtnis der Vorzeit unter den Menschen hinlischt, aber da und dorten waltet ein Zufall drin, daß ein Lichtfünkchen weiterglimmt, welches vor langen Tagen einmal eine Hand gezündet. Will Euch zur Bewährung meines Glaubens von lang fortwirkendem Erbteil ein beredtes Zeugnis vor Augen legen, Herr Werneken.«

Der Alte trat an einen Schrank und kehrte mit einem ›Psalterium‹ aus dem ersten Anfang der Buchdruckerkunst um die Mitte des 15. Jahrhunderts zurück. »Leset selber, meine Augen unterscheiden beim Lampenlicht die kleinen Buchstaben der Handschrift nicht mehr,« sagte er, ein beschriebenes Blatt vor der Titelseite aufschlagend, und Dietwald las mit lauter Stimme:

»Ist hierher in die Stadt Reval, um die Zeit, als der Großfürst Wassilij der Zweite im Moskowiterland geherrscht und oftmals das Land verheert, zu Schiff ein fremder Mann gekommen, deutscher Rede. Ist mittlern Alters gewesen, schön von Angesicht, riesiger Gestalt, gar unbändigen Sinns, hat nach etlichen Tagen wieder fortgewollt, zum Unheil die schöne Jungfrau Jadwiga Kedzierzawa, wie sie um ihr krauslockig Haar benannt, gewahrt, von Leidenschaft für sie befallen, hat auch reichlich Geld und Gut besessen, ein Haus erkauft, zu Reval verbleiben wollen, sich verehelichen, ist der Tag der Hochzeit bestimmt worden. Hat ihn aber plötzlich vor derselben sein wild und unstet Gemüt aufgejagt, daß er bei Nacht davongesegelt, nimmer wiedergekehrt, doch seine Braut, heftig für ihn betört, nachmals einem Mägdlein das Leben geschenkt. Mag man sie mit Fug drum schelten, für ihr zeitliches und ewiges Heil dennoch besser geschehen, als wäre sie ihm rechtmäßig für Leben und Sterben anvermählt. Hat man um vieles später durch Zufall Kunde erhalten, ist ein ruchloser Seeräuber gewesen, mit Bartholomes Boet und dem abgesetzten Dänenkönig Erich zu Schiff umgezogen, geraubt, gebrannt, selbst die Stadt Bergen im Nordland einmal gewalttätig überfallen. Niemand seinen Namen und Herkunft jemals erfahren, da er sich nicht anders denn Wisimar geheißen. Ist so mein unbekannter Schwiegervater worden, dessen unbändig törichte und unstete Gemütsart ich desleider nachmals an meinem schönen Eheweibe zu vielfältiger Bekümmernis und Zwietracht sattsam kennen gelernt. Wollte sich nicht halten lassen, hat nach ihrem unverständig blinden Gelüst im Sturm auf dem Meer den Tod gefunden, hoffe, nicht gesucht. Gott besser's an der Tochter, die mir von ihr verblieben.«

Dietwald Werneken hatte unter ziemlicher Mühe bis zum letzten Wort der bereits bräunlich verlaufenen Schriftzüge gelesen und schloß daran: »Es erregt wohl das Gefühl, derjenige, welcher dies in seinem Gebetbuche verzeichnet, habe es in der Tat in schwerer Bekümmernis vollbracht. Doch in welcherlei Zusammenhang steht die alte Schrift zu der Wechselrede, die wir zuvor gepflogen, Herr Wulflam?«

»Nicht zu Euch, doch leider zu sehr, was mich angehet,« erwiderte der Befragte, »denn die Tochter, von welcher das Schriftwerk letztlich redet, ist die Ältermutter des Mädchens geworden, das heut abend hier am Tische mit uns gesessen, und hat das Blut dessen, der sich Wisimar geheißen, unverändert forterhalten bis an diesen Tag. Ist dann noch meines Bruders unruhvolle Erblassenschaft dazu geraten, daß ich seit Jahren wohl mehr noch mit Sorge dreingeschaut, als der, welcher auf dem Blatt von seinem Leidwesen Kunde gelassen. Und doch ist sie großen Sinnes auch und birgt ein edelmütig Herz, aber es bestand kein Band der Sippe zwischen uns, als wäre sie nicht meines Bruders Kind, sondern einzig vom Blut jenes alten Seeräubers herabgekommen. So trachtet ihr Ungestüm von weiblicher Hausruhe und Sicherheit in die Weite hinaus, in Sturm und Gefährdung, daß ich in jedem Morgen bange, der Abend bringe sie nicht wieder heim. Und ihr Blick besagt, es wäre nicht wohlgetan, sie mit Zwang halten zu wollen, denn es liegt in ihr von Müttern her, ihren Eigenwillen mehr zu achten als das Leben. Doch ich belaste Euch mit meiner Kümmernis, Herr Werneken, und Euer Auge redet, daß Ihr ermüdet seid, wie's nach so langer Tagfahrt die Natur auflegt. Verübelt's mir nicht, Euch als einem Fremden soviel von meiner häuslichen Sorge zugeteilt zu haben, aber wer die Zunge lösen darf, erleichtert seine Bürde; und Eure ernsthafte Art flößet Vertrauen weit über Eure Jugend hinaus. Stehet vereinsamt im Leben, wollte, Ihr ließet Euch in meinem Hause länger gefallen, als Ihr vorhabt. Jetzt will ich Euch zu Eurem Lager geleiten, daß Ihr der Erholung pflegt, welcher Ihr bedürftig seid.«

Herr Goswin Wulflam führte seinen Gast in die große, äußerst behaglich ausgestattete Stube des obern Stockwerks, verabschiedete sich dort mit herzlichem Händedruck, um nach unten in seine Schlafkammer zurückzukehren, und Dietwald Werneken lag bald im Dunkel ausgestreckt auf dem ungewohnt weichen, aus vielfältigen zarten Fellen aufgeschichteten Lager. Er war in der Tat sehr ermüdet gewesen, daß ihm die Lider beim Becher zuletzt beinahe zugesunken, doch nun befielen ihn mancherlei Gedanken und hielten ihn noch geraume Weile hindurch wach. Viele Wochen lang Tag und Nacht rastlos vom Wasser geschaukelt, befand er sich zum erstenmal wieder auf festem Boden im fremden hochnordischen Lande, sah das Bild der Stadt Dorpat überraschend freundlich vor sich aufsteigen, den gastlichen Empfang in dem Hause, unter dessen Dach er sich zur Ruhe gelegt. In kurzen Stunden war er mit den Umständen darin vertraut geworden, daß er nicht ohne Anteilnahme der häuslichen Sorge seines greisen Wirtes gedenken konnte, und mit rascher Tätigkeit holte seine Einbildungskraft das Bildnis Erdmute Warendorps herauf und stellte dasjenige Folka Wulflams daneben. Zu seiner Verwunderung nahm er jetzt erst gewahr, daß die letztere jene an hochschlankem Bau der Gestalt und eigenartiger stolzer Schönheit der Züge weit überbot, aber noch lieblicher denn je zuvor hob sich ihm die weiblich weiche Anmut der jungen Frau von dem scharfgeschnittenen Antlitz des nordischen Mädchens ab, in dem sich gleich ungestümes polnisches und deutsches Blut zusammengefunden. Er sah sie nicht wortkarg am Tische sitzen, sondern wie er sie zuerst gewahrt, am Flußrande mit den unstet blickenden Augen über ihn fortschweifend, das kurze Haar im Wind flatternd. Aber allmählich verwandelte ihr Bild sich ihm in das einer dunkelköpfigen Möwe, die durch Wellenschaum und Sturm dahinschoß, mit weißglänzender Brust in das schwarze Gewoge hinabtauchte und sich jauchzend wieder emporschnellte. Nun stieg sie senkrecht hoch in die Luft auf und jagte plötzlich pfeilschnell einem roten Segel zu, das tiefbauschend über die wilde See heranflog. »Wisimar!« rief sie, »Wisimar!« und stürzte sich, schießendem Stern gleich, auf den Schiffsmast hinunter, an dem eine mächtige Gestalt mit blitzartig funkelnden Augen ihr winkend die Hand entgegenhob – und alles verschwand, denn der Träumende schlug den Blick ins helle Morgenlicht auf. Er mußte sich besinnen, wo er sei und was der nächtliche Traum ihm vorgegaukelt habe. Leicht begreiflicherweise hatte dieser ihn aufs Meer zurückgebracht und von Möwenflug umkreisen lassen, den er tagelang oft als einziges Schauspiel über dem Wasser um sich her betrachtet. Erquicklich von der Anstrengung der Reise ausgeruht, fand er sich in einer ernst-freudigen Stimmung, da er sich mit guten Hoffnungen dem Ziele seiner weiten Fahrt bis zum letzten Vorhaltepunkt nahegerückt sah, und emsig verwandte er sogleich seine Tätigkeit auf die Zurüstung für den Landweg-Weiterzug nach Nowgorod. Goswin Wulflam ging ihm mit erfahrenem Rat beim Einkauf der mutmaßlich notwendigsten Bedürfnisse bedachtsam zur Hand, und es ward Mittagsstunde, ehe Dietwald von seiner Umschau in den Kaufläden der Stadt heimkehrte. Das Wetter hatte sich trübe verändert, fast wie abendliche Dämmerung lag es über dem Treppenflur, als er zu seiner Stube hinanstieg. Von einem leisen Geräusch aus der ruhigen Stille des Hauses berührt, hob er droben mechanisch nach der Ursache den Kopf und gewahrte ein halbes Dutzend Stufen weiter über sich die Gestalt Folka Wulflams. Sie hatte offenbar im Begriff gestanden, von ihrer höhergelegenen Wohnkammer herabzukommen, doch bei seinem Anblick innegehalten, um ihn zuvor in seine Tür eintreten zu lassen. In dem Halbdunkel stach kaum noch ihr weißes Gesicht deutlich vom Hintergrunde ab, und es kam Dietwald, daß sie in der Tat so Ähnlichkeit mit einer Möwe biete, die, regungslos in der Luft stehend, scharf auf etwas herunterspähe. Doch sie schien ihn nicht wahrnehmen zu wollen, denn sie erwiderte mit keiner Bewegung auf seinen höflichen Gruß; als er die Tür hinter sich geschlossen, hörte er es draußen wie leichten Flügelschlag über den Flur vorbeihallen.

Die Mittagsmahlzeit bot selbstverständlich vielfältigen Stoff zur Beredung zwischen den beiden Männern, das Mädchen saß wie gestern daneben, ohne an dem Gespräch teilzunehmen. Der Hausherr ward bald nach Abtragung der Speisen durch Geschäftsangelegenheit in seine Schreibstube abgerufen, und Dietwald blieb allein mit Folka Wulflam zurück. Sie redete indes auch jetzt nicht, erhob sich nur nach einer Weile von ihrem Sitz, öffnete mit kurzem Stoß der Hand ein Fenster und blickte abgewandt hinaus. Dann verließ sie wortlos die Stube.

Am folgenden Morgen regnete es schwer herab. Der Mittagstisch sah die drei Hausbewohner in gleicher Weise versammelt, Herr Wulflam sprach, nach der Mahlzeit aufstehend: »Ich bedaure, Euch um diese Stunde verlassen zu müssen, Herr Werneken, zumal da der Himmel Euch nicht zu einem Ausgang ladet. Doch vielleicht spielt Ihr auf der Pilkentafel, Folka besitzt Gewandtheit drin und wird sicherlich meinem Wunsch willfahren, während ich abwesend sein muß, Eurem Zeitvertreib zu dienen.«

An einer Wand des Speisezimmers befand sich die Pilkentafel, eine wagerecht aufgestellte, umränderte Steinplatte, auf der mit Stäben in billardähnlicher Weise Holzkugeln in bezifferte Schaltfächer hineingezielt wurden. Fast alle öffentlichen Herbergen wie die meisten ansehnlichen Bürgerhäuser besaßen das von der Zeit vielgeübte Spiel, das hauptsächlich zur Kürzung langer Winterabende gereichte und Sicherheit des Auges wie der Hand erforderte. Eine Minute lang verharrte Folka Wulflam nach dem Fortgang ihres Oheims im gewöhnlichen Schweigen, stand dann indes jäh auf und fragte kurz:

»Ist's Euer Wille?«

»Was, Jungfrau?« versetzte Dietwald Werneken.

»Daß ich Euch zum Zeitvertreib diene?«

Sie betonte, auf die Pilkentafel deutend, das letzte Wort; er entgegnete verwunderten Tones:

»Wenn es Euch gefällig – Ihr redet verwundersam, Jungfrau, ich glaube nicht, daß ich Euch Anlaß dazu geboten.«

Sie warf nur leicht die Achsel zurück: »Wer arm ist, muß dienen«, und ergriff einen der Spielstäbe. »Beginnt! Ihr geht bald wieder von hier, dann bin ich solcher Pflicht ledig.«

So wenig liebenswürdig sich ihre Bereitschaft, ihm die Zeit zu verkürzen, kundgab, lehnte er ihr Anerbieten doch nicht ab. Ein heimliches Begehren war in ihm entstanden, günstigen Einfluß auf das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Oheim üben und Herrn Wulflam vielleicht als Dank für seine Gastfreundschaft hinterlassen zu können. Doch auch dem Mädchen selbst gegenüber beherrschte ihn eine eigentümliche, widerspruchsvolle Doppelempfindung. Ihr unweibliches, verschlossen unzugängliches Wesen stieß ihn ab und regte ihm doch zugleich ein Mitgefühl für sie; in seiner Natur lag ein zum Belehren und pädagogischen Einwirken neigender Zug, der von der hartnäckigen Schweigsamkeit Folka Wulflams lebhaft herausgefordert worden. Er hatte in früher Jugend das Pilkentafelspiel eifrig betrieben, allein, wie sich jetzt bewies, die Übung verlernt, denn das Mädchen sagte nach den ersten, von ihm ausgeführten Stößen: »Ihr könnt's nicht; mein Oheim hat mich nicht geheißen, Euch zu langweilen.«

Sie vollzog geschickt noch einige Kugelwürfe und legte ihren Stab gleichgültig zur Seite. Dietwald äußerte ruhig:

»Man muß zu allem Zeit vergönnen, Jungfrau, und nicht zu schnellen Urteils sein.«

Folka zuckte nur antwortlos die Schulter, doch blieb sie stehen und sah zu, wie er sich allein in der Handhabung des Spieles weiter übte. Dazwischen drehte sie den Kopf einmal kurz nach dem Fenster und sagte: »Es regnet fort, man kann nicht hinaus.«

Dann hatte sie ihren Stab doch wieder aufgenommen und befand sich abermals mit Dietwald in gemeinsamem Spiel. Die ehemalige Gewandtheit und Sicherheit war ihm bald zurückgekehrt, sie führten ihre Stöße jetzt mit gleichem Erfolg, allmählich gewann er sogar unverkennbar mehr und mehr die Oberhand. So vergingen Stunden, und in dem Behaben des Mädchens steigerte sich immer größere Veränderung. Heftige Leidenschaft, nicht zu unterliegen, färbte ihr Gesicht mit heißer Röte, fieberte aus ihren Augen und zitterte in den langen, schlanken Fingern. Es war ein berückendes Bild von Schönheit und Geschmeidigkeit ihrer Glieder, wie sie sich niederbog, um fest zu zielen, das Haargelock über ihre dunkeln Brauen herabfiel, ihre Hand es hastig zurückstrich und ihre zusammengepreßte Brust sich mit tiefem Atemzug ausdehnte. »Ihr waret falsch und habt Euch im Anfang verstellt!« rief sie, vergeblich jetzt alle ihr zu Gebot stehende Geschicklichkeit verwendend. Ihre Erregung stieg zuletzt dergestalt, daß sie bei einem entscheidenden Anlaß plötzlich fest den Arm ihres Gegners erfaßte und ihn vom Stoß zurückhielt. »Weshalb behindert Ihr mich?« sagte er mit einem leichten Lächeln. »Ihr spracht selber zuvor, daß ich nicht zu spielen verstände.« Herr Wulflam trat gleichzeitig herein und fragte, wer den Obsieg davongetragen, doch ehe Dietwald eine Antwort zu geben vermochte, warf Folka die Kugeln hastig durcheinander, fügte kurz hinzu: »Ihr schuldet mir Entgelt«, und ging rasch hinaus. Ihr Verhalten gegen den Gast des Hauses hatte von dieser Stunde eine Umwandlung erlitten, es trug nicht mehr den Ausdruck der Geringschätzung, sondern fast einen Anstrich unverhüllter Feindseligkeit. Meistenteils wie früher stumm am Tische sitzend, gab sie zuweilen unerwartet Zeichen, daß sie dem Gespräch der beiden Männer aufmerksam zugehört, indem sie sich mit Bemerkungen einmischte, welche stets den Zweck verfolgten, eine Anschauung Dietwalds als irrig oder töricht hinzustellen. Ein natürlicher scharfblickender Instinkt ihres Kopfes trat dabei hervor, der ihr oft überraschend schnell die richtigen Anknüpfungsstellen für dies Bestreben deutete, so daß es ihr gelang, den jungen Kaufmann mehrfach durch plötzlichen Angriff und Wortgewandtheit in Nachteil zu versetzen. Besonders suchte sie ihren Spott an seinem glaubenseifrigen lutherischen Vorhaben in Nowgorod auszulassen und redete mißächtlich von solchen, welche aus weltlicher Vorteilsberechmung der römischen Kirche die Treue brächen; allmählich jedoch begann ihr Verfahren, gleich einem zu kurz bemessenen Sprunge, an seiner Wappnung ruhigen Gleichmuts zu mißglücken, und sie zog sich einige artig eingekleidete, doch sicher treffende Zurechtweisungen von ihm zu, daß sie dunkel erglühend von weiterer Beteiligung an dem Gespräch abstand. Als der Schluß der Mittagsmahlzeit am nächsten Tage sie wiederum mit Dietwald allein beließ, fragte er, ob sie Neigung hege, das Spiel von gestern fortzusetzen, aber sie entgegnete mit beleidigender Schroffheit: »Nein, ich will nicht – möchtet Ihr mich etwa dazu zwingen?« und verließ sogleich die Stube.

Die Reisezurüstung Dietwald Wernekens hatte mittlerweile steten Fortgang genommen, ein festgefügter, vierrädriger Karrwagen zur Aufnahme von Geräten und Kaufmannsgütern allerart, sowie mehrere starkknochige estländische Pferde warteten bereit in der Scheuer seines Wirtes, und trotz dem oft wiederholten inständigen Ansinnen des letztern an seinen ihm immer mehr wert gewordenen Gast, hatte dieser den Aufbruch für den nächsten Tag anberaumt. Es drängte ihn, sein Endziel zu erreichen und die Lebenstätigkeit, die er sich vorgesetzt, zu beginnen; am Nachmittag, wie immer, durch Herrn Wulflams Geschäftsnötigung einige Stunden auf sich allein angewiesen, benutzte er sie zu einem Hinausschreiten in die Umgegend Dorpats, von der seine eifrigen Reisevorkehrungen ihn bisher ferngehalten. Die reizvolle Landschaft in grünendem und blühendem Hochsommerschmuck zog seinen schlendernden Fuß fort, an einem Buchenwaldrande streckte er sich auf weiche Moosdecke und blickte träumerisch in die sonnige Feldstille um sich her. Einzelne Schmetterlinge flatterten und eintöniges Geschwirr von Grillen durchzirpte die Luft, sonst war alles weitum ohne Laut. Er sah die weißen Wolken langsam am Himmel hinwandern, sie schoben sich zu großen, glanzvollen Massen übereinander, so blendend hell, daß er die Lider schloß. Dann war es ihm allerdings im ersten Augenblick befremdlich, daß Jürgen Wullenweber und Marx Meyer zu ihm herantraten und daß er nicht auf grünem Boden, sondern in einem kunstreich ausgeschnitzten Armsessel saß, aber die Unterredung, welche jene beiden begannen, regte bald seine Anteilnahme so sehr, daß er nicht mehr an das Verwundersame ihrer Anwesenheit in Dorpat gedachte. Freilich war's eine ungewöhnlich eigentümliche Art der Zwiesprache, denn sie redeten nicht mit Worten, nur ihre Augen warfen sich Blicke herüber und hinüber, allein er verstand genau, was diese besagten. Nun wandte der Burgemeister sich gegen ihn und äußerte höflich in der nämlichen Sprechweise: »Entschuldigt, Herr Werneken, doch unsere Zungen sind etwas zu steif und frostig geworden, um sich bewegen zu können,« und aus den Augenhöhlen des Ritters brach ein lautes, lustiges Lachen dazu. Zugleich empfand auch Dietwald selbst die Kälte; sie kam von einem Licht, das immer matter auf den beiden Gesichtern vor ihm auslosch, bis es vollkommen fahl wie Asche geworden, und Jürgen Wullenwebers Blick sprach jetzt: »Die Sonne ist heruntergebrannt, Marx, komm, Johann Wittenborg hat an die Glocke geschlagen.« Sie standen auf, schlangen die Arme wechselseitig um sich und verneigten sich artig zum Abschied vor dem Zurückbleibenden. Dabei streckten sie die freien Hände nach ihren Hüten empor, doch statt diese vom Scheitel zu nehmen, faßten beide ihre Köpfe und hoben sie zum Gruß von den Schultern herunter, daß Dietwald Werneken einen langen Schrei ausstieß und mit dem Arm nach ihnen griff –

Nun sah er wieder mit geöffneten Lidern in die Wald- und Feldeinsamkeit vor sich. Er mußte ziemlich lange Zeit von der Traumvorstellung dem Bewußtsein entrückt gewesen sein, denn die Sonne war schräg hinter den Wald getreten und breiter, kühler Schatten lag weit um ihn, daß ihn fröstelte. Doch das eintönige Gezirp der Grillen, das ihn mählich in Schlaf gesummt, schwirrte noch fort, nur mischte sich ein halblauter dumpfer Ton hinein; wie er den Kopf mechanisch in die Richtung danach drehte, gewahrte er ein aufgesatteltes Pferd, das ruhig niedergebückt mit dem Maul Gras vom Boden abrupfte. Dann schien's ihm, als träume er noch weiter, denn etwa fünf Schritte von ihm stand Folka Wulflam an einen Baumstamm gelehnt und blickte ihm, mit einer Reitgerte spielend, entgegen. Sich vom Moose aufrichtend, fragte er unwillkürlich: »Seid Ihr es wirklich, Jungfrau?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Ausdruck, wie sie erwiderte:

»Glaubt Ihr, ich sei ein Nachtmar? Vermutlich saht Ihr einen im Traum, daß Ihr aufgeschrien. So klug Ihr Euch dünkt, ist es töricht, auf dem Waldboden zu schlafen, denn der Schlaf hat keine Ohren und Augen.«

Er fragte noch verwundert: »Wie kommt Ihr hierher?« Sie fiel ein: »Nicht um Euretwillen, doch zu Eurem Vorteil, wenn Ihr morgen zu reisen gedenkt. Ich bat zur heiligen Jungfrau, mich von Euch zu erlösen, so führte sie mich an diese Stelle.«

Sie lachte zu den unverständlichen Worten, doch seine Züge nahmen jetzt eine ernsthafte Miene an, er trat näher zu ihr und entgegnete:

»Ich weiß nicht, worauf Eure Rede abzielt, Jungfrau, aber möge der Zufall, der Euch hierhergebracht, Gutes im Sinne getragen haben und es meiner Zunge verleihen. Lasset mich als ein Freund Eures Hauses mit Euch reden; Ihr fügt Eurem Oheim Gram zu und Euch selber Übles. Mit Eurer herben Art könnt Ihr nicht Anteil und Liebe bei Menschen erwecken –«

Das Mädchen richtete sich mit aufflammenden Augensternen hoch empor: »Was wißt Ihr, ob ich danach begehre!«

Doch er versetzte ruhig: »Um so übler, wenn Ihr solchen Drang nicht empfindet. Er ist auch Euch gewißlich nicht versagt, aber Ihr erstickt seinen Antrieb in Euch. Gott hat Euch reich an Wohlgestalt und klugem Sinn bedacht, Jungfrau, doch Ihr führt seine Absicht, die er mit Euch gehegt, nicht aus. Euer Geist ist trotzig wie Euer Herz. Aus Starrsinn verharret Ihr bei der römischen Irrlehre und aus Starrsinn bereitet Ihr Eurem Oheim Sorge und Kümmernis. Er ist der einzige Eures Blutes auf Erden, gestaltet ihm den kurzen Rest seiner Tage zu besserer Freudigkeit, indem Ihr die Lieblosigkeit Eures Wesens von Euch legt und nach des Weibes schöner Zierde trachtet, die allein Herzen gewinnt.«

Folka Wulflam stand dunkel erglüht; halb unbewußt, schien es, murmelten ihre Lippen:

»Er ist nicht von meinem Blut, ich trage keine Sippschaft mit ihm in mir. Was hat er mich aus meiner Wellenwiege gerissen und hier in den Sand geworfen!«

»Ihr waret arm und verlassen –«

»Hat er's Euch geprahlt, daß er sich über mich erbarmt? Ich will kein Erbarmen, nicht im dürren Sand ersticken! Sagt ihm, daß er mir ein Schiff gibt, in Sturm und See hinaus, und reißt's mich an den Grund hinunter, will ich zuletzt mit Dank an Euch gedenken.«

Sie trat rasch von ihm fort an ihr Pferd hinan, doch ein Wort, das ihm entflog, hielt ihr wieder den Fuß und riß heftig ihren Kopf herum. »Wisimar? Auch meine Abkunft hat er Euch geschmäht? Ich bin stolz auf meinen Ahnherrn und lache über Euch! Wo ist Eurer? Staub, aus dem Unkraut wächst! Meiner ist nicht tot. in den Wolken flattert sein Haar, im Meeresschaum taucht sein Antlitz herauf, der Wind weht mir seinen Atem in die Brust. Von seinem Blut bin ich, und wem mein Herz zujauchzen soll, muß seines Blutes sein! – Was wollt Ihr?«

Sie hatte den Fuß wieder gehoben, doch Dietwald Werneken hielt sie jetzt am Ärmel ihres Gewandes zurück. »Ihr sollt mir zuvor Euer Gelöbnis lassen, Jungfrau, daß Ihr meiner Mahnung eingedenk sein wollt, wenn ich fort von Euch bin.«

»Ich soll?« wiederholte sie, sich mit kurzem Ruck freimachend, stolzen Tones. »Wollt Ihr mich etwa mit Gewalt zwingen, Eurer zu gedenken? Im Spiel gewannet Ihr mit List, doch wähnt Ihr, Zwang üben zu können, erprobt's vorher, ob Eure Kraft mir im Ernst gewachsen!«

Sie warf ihre Reitgerte zur Erde und stand, kühn blitzenden Auges, in ernsthafter Herausforderung da. Ein plötzliches, die ruhige Besinnung übermannendes Gefühl wallte bei dem Anblick des schönen, trotzigen Weibes in Dietwalds Blut auf. Er entgegnete halb lächelnd: »Ihr wollt Eure Kraft mit der meinen messen, Jungfrau? So bestimmet, in welcherlei Art, da ich nicht wie mit einem Manne mit Euch ringen kann.«

»Warum nicht? Fürchtet Ihr Euch?« stieß sie hervor, ihr Blick wich jedoch gleich darauf zum erstenmal an dem seinigen vorüber, und sie fügte rasch, ihre beiden Hände mit ausgespreiteten Fingern in die Höh' streckend, hinterdrein: »Tut wie ich! Wer den andern zu Boden zwingt, darf den Fuß auf ihn setzen!«

Er verstand nicht, was sie beabsichtigte, doch tat nach ihrem Geheiß, im gleichen Augenblick aber schon schnellte sie sich behend vor, verschlang blitzschnell die Finger ihrer Hände zwischen die seinigen und bog ihm die lässig vorgestreckten Arme zurück. In der Tat gebot sie über eine ihrem Geschlechte selten eigene Kraft, hatte indes besonders durch die Wucht des Ansprunges die Wirkung erzielt, daß ihr unbereiteter Gegner schwankte, und noch ehe er die Art des von ihr ins Werk gesetzten Wettringens begriffen, fast zum Unterliegen gebracht war. So benachteiligt, vermochte er sich nur mit äußerster Anspannung seiner Mannesstärke aufrecht zu erhalten und rang minutenlang vergeblich, wieder zu ebenbürtiger Stellung mit ihr empor zu gelangen. Dicht über ihm traf von halb offenen Lippen der Atemstoß ihrer heftig auf- und niedergehenden Brust in sein Gesicht, ihre Augen funkelten frohlockenden Triumph und heiß durstenden Willen, den Sieg davonzutragen. Doch allmählich gewann er soviel Halt zurück, daß er langsam aus dem bisher geleisteten, verteidigenden Widerstand zum Aufdrängen ihrer Arme vorschieben konnte. Sie preßte die Zähne aufeinander und stemmte alle Kraft ihres hohen Wuchses in die Hände zusammen, aber nun brachte er diese über ihren Scheitel hinauf, und bei gleicher Bedingung des Wettstreites zeigte rasche Umwandlung die Überlegenheit des Mannes. Ein Zittern durchlief die bis zur Erschöpfung angespannten Glieder des Mädchens, der Druck ihrer Finger wich plötzlich, als ob diese aus sprödem Stahl zu weich-schmiegsamen Blütenstielen geworden, und sie brach jählings auf die Knie zu Boden. Einige Sekunden schöpfte auch Dietwald Werneken Luft, dann lächelte er: »Ihr habt mir weidlich mit Eurer Kunst zu schaffen gemacht, bis ich sie von Euch erlernt,« und er streckte die Hand aus, um seine Gegnerin aufzurichten. Doch sie regte sich nicht, sondern blickte ihn sonderbar stumm an, als erwarte sie, daß er wirklich den von ihr bestimmten Siegespreis in Anspruch nehmen und den Fuß auf ihren Nacken setzen werde. Wie er indes statt dessen, halb erschreckt über ihre Bewegungslosigkeit, sich zu ihr niederbückend, fragte: »Ich tat Euch doch nicht weh, verhoff' ich«, sprang sie wortlos pfeilschnell in die Höh', hatte sich im nächsten Augenblick auf ihr Pferd geschwungen und trieb dies zu jagendem Lauf am Waldrande hinab.

Dietwald sah ihr nach, seine Kenntnis des weiblichen Geschlechtes reichte nicht aus, ihr Wesen zu begreifen. Nur daß sie noch mehr von Zorn und Haß gegen ihn erfüllt als bisher davonreite, ließ das Geschehene ihm nicht in Zweifel. Er blickte auf seine Hände, die noch die Spuren der rückhaltlos aufgebotenen Kraft ihrer Finger trugen, als ob er nicht mit einem Mädchen, sondern mit einem Manne gerungen. Und doch überkam ihn ein Gefühl der Scham und schlug ihm mit einer Blutwelle ins Gesicht, daß er ihrer törichten Herausforderung keine Abweisung entgegengesetzt, weil es Folka Wulflams Hand gewesen, die ihm den Wettstreit aufgedrungen. Keine andere hätte ihn dazu vermocht; mit einer Schreckempfindung befiel ihn die Vorstellung, daß Erdmute Warendorp statt jener so vor ihm gestanden und er ihre zarte, sanfte Hand gewaltsam zu Boden gebrochen hätte. Sein Gefühl war verwirrt, er verstand nicht, was es redete: die an den Horizont niedersteigende Sonne mahnte ihn, ebenfalls zur Stadt zurückzukehren. Zufällig glitt sein Auge noch einmal nach der zuvor von ihm eingenommenen Ruhestatt und blieb erstaunt auf einem über die Moosdecke hingeringelten Gegenstände haften. Dieser hob sich dicht neben der Stelle, an der er sich hingestreckt gehabt, braun von dem grünen Untergrund; wie er ihn mechanisch in die Hand nahm, war es eine mehrere Schuh lange starkleibige Kreuzotter, welcher der Kopf fehlte. Wo dieser sich am Rumpf befunden, quoll noch ein Blutstropfen hervor, der glatt'schlüpfrige, kalte Schuppenleib durchfröstelte die Finger Dietwalds mit einem Schaudergefühl und er warf die leblose Schlange hurtig wieder von sich. Bei der Gewöhnung seiner Augen, achtsam alles aufzufassen, nahm es ihn wunder, daß er beim Hierherkommen nichts von der unheimlichen Anteilhaberin seines Lagers gewahrt: freilich war sie durch irgendeinen furchtlosen, stärkeren Gegner unschädlich gemacht worden, so daß ihr Giftzahn ihm keine Gefahr mehr gedroht. Er dachte flüchtig darüber, welches Tier sie getötet haben möge, und suchte unwillkürlich mit dem Blick in der Nähe nach dem abgetrennten Kopf umher. Doch dieser war nicht zu entdecken, mutmaßlich hatte ein Wiesel, als grimmiger Schlangenfeind, ihn vom Rumpf gebissen und eine Strecke weit mit sich geschleppt. Dietwald Wernekens Gedanken wandten sich von der gleichgültigen Frage ab und er schritt jetzt eilfertig dem Hause Herr Goswin Wulflams zu, mit dem er diesen letzten Abend allein am Tische verbrachte. Folka hatte sich bei ihrer Heimkunft sogleich in ihre Kammer begeben, um sich zu Bett zu legen; es war nicht widerspenstiger Wille von ihr gewesen, sondern ihr Oheim durch eigene Wahrnehmung überzeugt worden, daß sie sich, wechselnd heiß und kalt, in einem Zustand heftigen Fiebers befunden. So saßen die beiden Männer allein zur Abschiedszwiesprache beim Becher, denn Dietwald beabsichtigte, am nächsten Morgen frühzeitig aufzubrechen. Goswin Wulflam stellte einen letzten Versuch an, seinen ihm überaus liebgewordenen Gast zu halten, und sprach ihm unverhohlen ins Gesicht, daß er in seinem langen Leben niemanden angetroffen, bei dem ein edler Sinn, kluge Bedachtsamkeit und begeisterungsfähiger Aufschwung des Gemüts, eigensuchtslos nach höherer Befriedigung zu trachten, so vollen Maßes gleich gewogen seien, und er glaube, daß nicht er allein im Hause von solcher innerlichen Zuneigung zu Dietwald erfaßt worden. »Solltet bei uns verbleiben, Freund,« fügte der alte Herr schwermütig lächelnd hinzu, »so lang oder so kurz mir noch Erdentage vergönnt sind. Eure Gedanken haben wohl schon viel Umschau in der Welt gehalten, doch in Eurem eigenen Herzen, deucht mich, ist ihnen noch fremdes Land verblieben. Vielleicht wenn Ihr darin nachforschet, könnt' ich's Euch danken, daß ich noch mit einer freudigen Tröstung die Augen zuschlösse: denn ich gab's Euch kund, ob meine Augen alt sind, will's mich bedünken, daß sie, derweil Ihr hier seid, einiges noch besser wahrgenommen, als Eure jungen.«

»Euer Wohlwollen für mich täuschet Euch, Herr Wulflam,« versetzte Dietwald Werneken herzlich auf die verhüllte Hindeutung des Alten, »es befindet sich niemand in Eurem Hause als Ihr, dem mein Fortgang nicht erwünscht fällt und so fällt auch mir nur das Scheiden von Euch schwer. Sonst hinterlasse ich kein freundlich Gedenken an mich, davon habe ich besser Zeugnis als Ihr. Hätte die Natur mich zu Eurem Sohne bestimmt gehabt, wüßt' ich nicht schönere Pflicht, als Euer Leben zu teilen; aber so hat sie mir anderes Gebot auferlegt und fordert, daß mein Herz nicht dawider redet, sondern ihm gehorsamt. Habet denn Dank für die guten Tage, die Ihr mir bereitet, und für das Gedächtnis, welches ich von ihnen mit mir nehme! Kann ich es Euch je vergelten, so wird es meines innerlichsten Begehrens Erfüllung sein, denn Dankbarkeit und Treue bedünken mich als des Menschen Bestes und scheiden redliche Sinnesart von niedriger. Ob Eure Wohlmeinung mich gleich weitaus über meinen geringen Wert geschätzt, hat sie mir doch freudigen Mut eingeflößt, danach zu trachten, daß Euer Vertrauen in mich nicht zu schanden werden möge. Darauf laßt mich zuletzt den Becher leeren und nun noch einmal kurze Rast unter Eurem gastlichen Dache halten, denn die Sonne steht früh von Nowgorod her auf.«

Der zur Abreise Gerüstete fand noch mancherlei auf seiner Stube zu ordnen, so daß es Mitternacht wurde, bevor er sich zur Ruhe hinstreckte. Allein auch dann kam ihm keine Ermüdung, er sagte sich, wohlbegreiflich, da er am Nachmittag im Walde vom Schlaf befallen worden. Offenbar erregte dazu das Bevorstehen seines Fortzuges in die ungewisse Fremde ihm die Sinne. Es war tiefdunkel um ihn, so daß seine offenen Augen nichts gewahrten, aber sein Ohr nahm jeden leisesten Ton, der die Nachtstille unterbrach, auf. Bei einem Knacken im Gebälk fuhr er zusammen, manchmal verfing der Wind sich mit leichtem Gesumme in den Fensterhöhlen, dann war alles wieder lautlos, doch er schlief nicht, sondern mußte aufhorchen, ohne zu wissen, auf was. Zuletzt gaukelte die Anspannung des Gehörs ihm unverkennbar nicht in Wirklichkeit vorhandene, täuschende Laute vor: ihm war's, als knistere ein leiser Fußtritt draußen auf dem Flur, und nach einer Weile tönte ihm ein leises Geklirr im Ohr, wie wenn sich eine Hand auf den Metallgriff seiner Stubentür gelegt. Er lauschte mit angehaltenem Atemzug, aber nun blieb alles still, und die fremdartige Aufregung seiner Sinne dämpfte sich mählich zur Ruhe, so daß er die Lider schloß. Erfreut fühlte er, wie ihm das Bewußtsein hinzuschwinden begann, da empfand er plötzlich ein Ziehen in seinen Fingern, keinen Schmerz, nur ein erinnerndes Gefühl ihres Daseins, das aus allen gleichmäßig wie mit einer Blutströmung herauffloß. Er veränderte die Lage seiner Hände, doch die Empfindung verstärkte sich immer mehr und ließ ihn abermals nicht schlafen. »Es ist eine Nachwirkung des törichten Ringens,« murmelte er, »ihre Finger waren wie von Stahl.« Nun überfiel ihn neue Sinnestäuschung, als drückten diese selbst sich wieder zwischen die seinigen hinein, aber dann lösten sie sich zerrinnend in weiche, wohltuende Wärme, und gleichmäßiger Atemzug versenkte ihn in Schlummer. Bald indes erweckte ihn schon der Morgenschein des frühen nordischen Tagbeginns, rasch bekleidet schritt er hinaus, um drunten in der Scheune die von ihm gedungenen Roßknechte anzutreiben. Wie er auf den Flur trat, schimmerte ihm von den Stufen der zum obem Stockwerk hinanführenden Treppe etwas Weißliches entgegen, das sich im grauen Zwielicht noch nicht unterscheiden ließ, doch bei dem Geräusch seines Auftrittes fuhr es empor, gleich dem Gesicht eines Menschen, der dort in sitzender Stellung geschlafen. Mit den Gedanken an seinen Aufbruch vollbeschäftigt, setzte Dietwald achtlos den Fuß weiter, als von den Stufen her aus der Dämmerung plötzlich die Stimme Folka Wulflams fragte:

»Seid Ihr reisefertig. Herr Werneken?«

Er drehte überrascht den Kopf und entgegnete: »Ihr, Jungfrau? Was hat Euch veranlaßt, Eure Schlafkammer so früh zu verlassen?«

Sie gab Antwort: »Es scheint, Ihr dachtet, ich würde mich so unhöflich gegen den Gast meines Oheims gebaren, daß ich ihn ohne Abschied davongehen ließe. Ihr hättet nicht falsch gedacht, wenn Ihr gestern gegangen wäret, aber seitdem wettetet Ihr mit mir und verschmähtet den Preis. Ihr schmähtet mich damit, daß ich mich als ein Weib vermessen, meine Kraft wider die Eurige zu setzen: ich will keine Großmut und in keines Menschen Schuld stehen. Nehmt dies als Zahlung dafür mit an Euer Ziel, oder werft es an Euren Weg, wie's Euch gefällt. Ich bin meiner Schuld damit wett.«

Sie trat um eine Stufe herab und reichte ihm einen kleinen, an gedrehter Schnur befestigten metallenen Gegenstand dar, den sein Auge als eine ungefähr guldengroße Messingkapsel unterschied. Offenbar bildete es ein Amulett, wie die Bischöfe der römischen Kirche sie vielfältig für den Gläubigen weihten, denn ein Kruzifix und die Marterwerkzeuge des Leidens Christi hoben sich von der Vorderfläche ab. Verwundert sah der Empfänger drauf nieder und sprach: »Ihr wißt, ich bin ein Protestant, Jungfrau –«

Sie fiel ein: »Es behütet vor bösem Blick, ob sein Träger dran glauben mag oder nicht. Behindert Euch die Schnur, will ich sie fortlösen.«

Ein dolchartiges Messer hervorziehend, tat sie, bevor er zu erwidern vermochte, nach ihren Worten und trennte das von seinen Fingem gehaltene Band durch, doch mit unvorsichtiger Hast, denn die scharfe Klinge traf auffahrend seine Hand und schnitt leicht noch in diese hinein, daß einige Tropfen Blutes hervorquollen. Aber im selben Augenblick bückte Folka Wulflam blitzschnell den Kopf herab, ihre Lippen hefteten, sich eine Sekunde lang auf die geringfügige Wunde und löschten die roten Tropfen von ihr fort, dann flog sie, gleich einer fortschießenden Möwe, lautlos die Treppe hinan und verschwand. Dietwald Werneken blickte ihr durchs Zwitterlicht des noch immer nächtlich stillen Hauses nach, ein wunderliches Gefühl überlief ihn. Hatte sie ihm absichtlich die Verletzung zugefügt und war, als sie's getan, von Reue darüber erfaßt gewesen? Er hörte sie droben die Tür ihrer Kammer verschließen; als er um eine Stunde später von Herrn Wulflam herzlichen Abschied genommen und die Gasse hinabritt, streifte sein Auge unwillkürlich noch einmal an dem Fenster der Stube Folkas vorüber, aber sein Blick nahm nichts mehr von ihr gewahr.


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