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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Die letzte rauhe Arbeit im Elsaß war vollbracht, Ruhe und Frieden lag, zugleich mit weißer Winterdecke, wieder über den Landen des Oberrheins. Nur auf der Ulrichsburg zog in die Gemüter keine Ruhe und kein Frieden ein. Nirgendwo wies eine Spur die Richtung, wohin der Ritter von Egisheim seine Gefangene mit sich geschleppt habe; nur von den Knechten erfuhr man, daß sie sich durch den unterirdischen Gang der Drei Exen in die Winde zerstreut hatten. Mit einem kleinen Haufen derselben war der Räuber Erlindes mutmaßlich in die fremde Weite davongezogen; ein einziger undeutlich verschwommener Anhalt schien über den Rhein in die unabsehbaren dunklen Tannendickichte des Schwarzwaldes hinüberzuweisen.

Nach einigen Tagen rastloser Auskundigung in der näheren und weiteren Umgegend der verbrannten Burg hatte Graf Schmaßmann sich vor das Tor der Giersburg begeben und den Wächter zu einer Rede gefordert. Bereitwillig war sofort die Zugbrücke über den ringsum gähnenden Abgrund herabgelassen, der Burgwart erschien und bat, sichtbar erfreut, den gräflichen Lehnsherrn der Burg, in diese einzutreten. Nun stellte der Graf die Frage, um derenwillen er gekommen, ob jener eine Aussage über den Aufenthalt des Ritters zu tun vermöge, und bot einen hohen Preis dafür zum Entgelt. Doch der Angesprochene erwiderte kopfschüttelnd, daß er mit keinem Laut erfahren, wohin sein Herr verschwunden sei. Schon seit Jahren nunmehr sitze er einsam, ohne Weisung und Vorwissen wozu, hier im verödeten Haus und habe selber bereits den Entschluß gefaßt, mit nächstem zum Grafen hinüberzugehen, um von demselben, als dem Lehensherrn des verwaisten Schlosses, zu erkunden, was mit diesem geschehen solle, denn alles gerate sonst verwahrlost allmählich in Zerfall. Er hatte den Auskunftsuchenden in die frostig unbewohnte Halle geführt, deutete zu seinen Worten als auf redenden Beleg hierhin und dorthin und bat, den Grafen überall herumgeleiten zu dürfen, auf daß sich derselbe mit eigenen Augen von der bedrohlichen Schädigung der Räume überzeuge. Doch Graf Schmaßmanns väterliche Sorge besaß keine Teilnahme für das schadhafte Gemäuer, er ließ gleichgültig den Blick drüber gleiten, seufzte tief auf und sprach: »Laßt's zerfallen, ich will nichts mehr davon!« Und in einer letzten matten Hoffnung enttäuscht, schritt er den kurzen Weg zur Ulrichsburg zurück.

So lag über den Insassen der letzteren trübe Mutlosigkeit, die reichen Säle standen lautlos, von allem freudigen Leben verlassen, scheu blickten die Gesichter bei kurzer Begegnung sich auf Hof und Treppe an; zumeist saß jeder in dumpfem Hinbrüten für sich allein. Nur Bettane ging täglich mit ihren Ziegen vors Tor hinaus, um für dieselben an schneefreien Plätzen noch grüne Weide aufzusuchen. Doch sie ließ sich vom früh einfallenden Dunkel nicht heimbringen, sondern vollbrachte regelmäßig mit dem Beginn der Nacht etwas rätselhaft Sonderbares. Auf dem Rücken des Berges hatte sie einen Baum ausfindig gemacht, der halb über den senkrechten Felsabsturz gegen Süden fort hing. Er bot die einzige Stelle, von wo man bei Tag über die Mauer der Giersburg ins Innere des Hofraumes hineinzublicken vermochte, und furchtlos kletterte Bettane dort allabendlich ins Geäst empor und saß viele Stunden lang in Kälte und Wind, unverwandt durch die Finsternis vor sich hinschauend. Halb erstarrt ging sie dann zuletzt heim und forderte Einlaß in der Ulrichsburg; der Torwart wunderte sich wohl über ihr seltsames winternächtliches Umtreiben, doch sonst gab in der allgemeinen Bedrückung niemand auf ihr stets wiederkehrendes spätes Ausbleiben acht.

Als mehrere Wochen so vergangen, kam Bettane indes eines Abends zu schon spätnächtlicher Stunde in ungewohnter Hast zurück und forderte durch Zeichen sofortigen Zulaß zu dem schon in seiner Schlafkammer befindlichen Grafen von Rappoltstein. Der Diener bedeutete ihr, bis zum Morgen zu warten, allein sie ließ sich nicht abweisen, ergriff eine Leuchtpfanne und trat damit in das Gemach des schlaflos auf dem Lager Ausgestreckten ein. Verwundert sah dieser das stets ruhig und bedachtsam handelnde Mädchen an; nun schrieb sie rasch ein paar Worte auf ihre Tafel und hielt sie dem Grafen Schmaßmann vor, der, fast im selben Augenblick jäh emporspringend, las: »Der Ritter von Egisheim verweilt drüben auf der Giersburg.«

In einem Nu war das nächtlich stille Schloß lebendig, Guy und Velten Stacher kamen herzugestürzt, doch Bettane legte mahnend einen Finger auf den Mund und wehrte den Knappen, die hurtig Fackeln anzünden wollten. Dann berichtete sie, schreibend und Guy in der alten Zeichensprache deutend, daß sie den Ritter von Egisheim unzweifelhaft erkannt habe, wie er langsam im Burghofe hin- und wiedergeschritten sei. Nur ihren durch den Mangel anderer Sinne wundersam geschärften Augen hatte das tote Nachtdunkel noch so viel Schimmer geboten, daß es ihr nach wochenlangem geduldigen Warten gelungen, desjenigen in Wirklichkeit ansichtig zu werden, von dem sie schweigsame Ahnung in sich herumgetragen, er befinde sich nicht in weiter Ferne, sondern auf der Giersburg. Wodurch diese Mutmaßung in ihr geweckt worden, wußte sie selbst nicht, wie Dunst zerflog's aber vor dem Blick des Grafen, daß auch er keinen Zweifel in ihre Meldung setzte und erkannte, er habe sich durch arglistige Unterwürfigkeit und Zuvorkommenheit des Burgwarts darüber täuschen lassen, wie der Ritter Bertulf sich gerade in unmittelbarster Nähe der Ulrichsburg den unwahrscheinlichsten und darum sichersten Versteck ausgewählt.

Nun ging hastige Beratung hin und wieder. Dem Einen bedünkte es am klügsten, den Tag zu erwarten, daß Graf Schmaßmann alsdann abermals Einlaß auf der Giersburg begehre und sich der Zugbrücke versichere; allein der Plan war schnell verworfen, da er unfraglich Verdacht wachrufen und nicht zum Ziele führen werde. Das wild-trotzige Felsennest mit Gewalt zu erstürmen, war gegen die geringste Verteidigung vollkommen unmöglich; eine alle Nahrungszufuhr abschneidende Umlagerung voraussichtlich äußerst langwierig und bei dem irrsinnigen Behaben des Ritters für Erlinde gefahrdrohend. So liefen die Stimmen ratlos durcheinander; Bettane saß ruhig seitwärts und schrieb auf beide Seiten ihrer Tafel, dann stand sie auf und reichte Guy die Schrift. Dieser las und eine freudige Glanzhelle erweiterte seine Augen, aber gleich darauf schüttelte er hastig den Kopf und griff wie erschreckt nach dem Arm des Mädchens. Sie ließ sich jedoch nicht beirren, löschte gleichmütig die Schrift aus und schrieb statt derselben: »Ob ichs kann, weiß ich nicht, wenn dus nicht versuchen willst, hast du sie nicht lieb, das weiß ich.«

Da schlug das Blut dem jungen Ritter heiß ins Gesicht, besinnungslos faßte er ihre Hand und preßte sie zwischen den seinigen. Mit einem sekundenkurzen seltsamen Blick wandte sie einmal die Augen gegen ihn auf und schritt hinaus.

Guy teilte jetzt eilfertig den Inhalt ihrer Tafelaufschrift mit, Velten Stacher fiel bestürzt ein: »Es ist unmöglich, sie tötet sich!« Noch andere Stimmen bestätigten dies, eine nur gab drein: »Wenn sie's wagen will – einen Versuch gält's – was liegt an dem Leben des armen Geschöpfes?« Aus seinem ratlosen Sinnen auffahrend, entschied Graf Schmaßmann: »Laßt sie – mir ist's, als hätt' unsere liebe Frau von Dusenbach es ihr ins Herz gegeben, vollbringt sie's, will ichs ihr lohnen, wie noch keinem gelohnt ist!«

»Und wenn nicht, so braucht sie keinen Lohn mehr,« murmelte Velten Stacher schmerzlich vor sich hin, aber auch der Ausdruck seiner Miene war jetzt von der nächtlich aufgedämmerten Hoffnung mit fortgerissen. Eine Stunde eifrig-geräuschloser Zurüstungen verging, dann verließ ein Trupp Bewaffneter fast unhörbar die Ulrichsburg; in der enganliegenden Kleidung eines schmächtigen jungen Knappen wartete Bettane schon am Tor. Sie trug keine Schuhe, wie sie solche seit ihrem Aufenthalt in der Burg angelegt, sondern ihre kleinen Füße sahen bloß wie ehemals hervor; in der Hand hielt sie ein paar fußlange, vorn scharf zugespitzte Eisenklammern. So ging sie dem Zuge voran, unfehlbaren Schrittes in der jetzt von schweren Wolken überdeckten Nacht den Weg deutend. Ohne Laut folgte Alles ihr nach, dann standen sie der Giersburg gegenüber, doch sie wußten's und empfanden's mehr, als sie es sahen. Man gewahrte nichts als eine nicht unterscheidbare schwarze Masse, die um ein Geringes noch dunkler in der umgebenden Luft stand; vor ihr fiel mehr denn hundert Fuß tiefer, senkrechter Abgrund nieder; rundum in weiter Ausdehnung, nur wo das Burgtor gegenüber lag, näherte sich ihm eine schmale Felszunge heran, auf welche von drüben die Zugbrücke sich niedersenkte. Diese übertraf die gewöhnliche Länge zum mindesten um das Doppelte, denn auch hier betrug die Entfernung zwischen der Mauer und dem einzigen Zugangspunkt fast noch Speerwurfsbreite über der unnahbar gähnenden Tiefe. Von dem allen aber erkannte das Auge gegenwärtig gleichfalls nicht das Geringste.

Unverkennbar war zuvor schon genaue Abrede genommen, es ward kein Wort gewechselt, eilig legte Bettane sich einen bereit gehaltenen, an langem Seil befestigten Gürtel um den Leib, kniete auf den Boden nieder, umfaßte über ihrem Kopfe das Tau fest mit den Händen und ließ sich im nächsten Augenblick, ohne zu zaudern, vom Felsrand in die schwarze Leere hinuntergleiten. Mit aller Anspannung ihrer Kraft, von mehreren Knechten als Rückhalt unterstützt, hielten Guy und Velten Stacher den Strick; sie atmeten kaum, ihr eigener lauter Herzschlag war der einzige Ton, den ihr Ohr vernahm. Beide zuckten schreckhaft zusammen, als nach geraumer Weile plötzlich die Last aus ihren Händen wich und das Tau ihnen schlaff und gewichtlos in den Fingern blieb; aber gleich darauf fühlten sie von unten herauf ein leises Rütteln des Seiles – es war ein verabredetes Zeichen – und sie zogen den Strick leer wieder empor.

Drunten stand Bettane auf dem Grunde einer wilddurchschrundeten, mit scharfem Geblöck und Gestrüpp angefüllten Schlucht. Selbst ihr Auge unterschied nichts als das auf Armeslänge von ihr Befindliche, sie wußte nur, daß gerade hinüber die Steinwand, deren schmal zugespitzten Gipfel die Giersburg krönte, turmhoch emporstieg. Im Tageslicht erschien der jähe Fels dem Blick völlig unnahbar, doch Bettane hatte oftmals mit ihren Ziegen gegenüber gesessen und unter wunderlich umschweifenden Gedanken den fast senkrechten Aufstieg der Wand betrachtet. Sie stellte sich vor, daß ein Mensch daran emporzuklimmen versuche und, in die Mitte gelangt, hülflos und ausweglos über den Abgrund hänge, und ein kaltes Grausen lief ihr durchs Blut. Aber etwas übermächtig Unwiderstehliches zog ihr den Blick immer wieder darauf hin und prägte ihr jede leiseste Vorbuchtung, Zacke, Ritze des Gesteins in die Sinne, nicht in die Augen allein, sie fühlte alles, als ob sie sich daran körperlich festklammere, um nicht in den Abgrund hinunterzustürzen. Und im Spiel ihrer Einbildung sagte sie sich, es sei nicht durchaus unmöglich, dort hinanzugelangen, wenn man etwas mit sich führe, was man in die Felsschrunden hineinbohren könne, um hier einen Halt für den Fuß, dort eine Klammer für die Hand zu gewinnen. Nur dürfe es nicht bei Tage geschehen, wo die gähnende Tiefe unfehlbar mit Schwindel und schauderndem Entsetzen fasse, sondern im lichtlosen Dunkel, das nichts gewahren lasse, als den nächsten Tritt für den Fuß und den Vorgriff für die Hand; unauslöschlich zugleich nur müsse dem Gedächtnis, wie vor sehendem Auge, jedes kleinste Merkmal und Hülfsmittel der Felsmauer, jeder verdorrte Wurzelknorren und vorwuchernde Heidelbeerstrauch eingeprägt sein.

Da hatte Bettane den Ritter von Egisheim drüben im Dunkel erkannt, und plötzlich war ihr eine seltsame Frage stürmisch aus der Brust aufgewogt: Würde die Liebe in dem Herzen unserer lieben Frau von Dusenbach drunten in der Waldkapelle sich zaghaft bedenken, dort hinanzuklimmen, wenn sie Hoffnung trüge, ihren Sohn damit ins Leben zurückzurufen? Und sie war doch nur ein Weib aus Holz und Stein und wußte nicht, wie warm die schöne Himmelssonne in ein lebendiges Menschenherz herabglühte.

Es war eine rauh-düstere Dezembernacht, manchmal strich winselnd der Wind um die Zacken des unsichtbaren Gesteins, vom Gipfel des Hochrappoltsteins murrten die Kiefern herunter, wie Rauschen eines fernen Wassersturzes; fast unbeweglich harrte Graf Schmaßmann mit seinem Geleit an der Stelle, wo sie das Mädchen in die Finsternis hinabgelassen. Eine Stunde mußte vergangen sein, vielleicht zwei; wer trug ein Maß dafür? Velten Stacher regte zum erstenmal kaum hörbar die Lippen und sprach, an Guys Ohr gebückt, mit einem verhalten bitteren Aufklang der Stimme: »Sie kommt nicht wieder – wir haben um nichts ein treueres Herz für Geier und Raben hingegeben, als es weitum in einer zweiten Brust schlägt!«

Da zischte in sein letztes Wort etwas hinein, seitwärts, wie der Aufschlag eines herüberfliegenden kleinen Steines in dürres Gestrüpp. Noch einmal kam's und sprang leicht knatternd über die Felszunge, und beinahe lähmend durchfuhr ein Freudenschreck die hoffnungslos Wartenden. Das todtrotzende Mädchen lag nicht zerschellt in der schwarzen Tiefe; ihre eichkatzengleiche, unerschrocken von Kindheit auf geübte Gliederbehendigkeit und die luchsartige Sehschärfe ihrer grünen Augen hatten das Unglaubliche vollbracht, sie war drüben an ihrem Ziel eingetroffen und gab das von keinem mehr erhoffte Zeichen. Hastig vortretend, schleuderte Velten Stacher ein bereit gehaltenes Seil in die Nacht.

Jenseits der Trennungsschlucht hielt sich Bettane über dem Abgrund mit der linken Hand am Gebälk der eingezogenen Zugbrücke festgeklammert und strebte, mit der rechten das ihr zufliegende Tau zu erhaschen. Sie konnte den pfeifenden Ton desselben nicht hören, sah es nicht, wußte nur, daß es kommen mußte. So griff sie oftmals vergeblich um sich, doch zuletzt traf der Wurf des dicken Seiles ihr gerade ins Antlitz, daß sie schwankte und fast betäubt den Halt verlor, aber unwillkürlich hatte sie dreingepackt und ihre Hand hielt den Strick. Eine erste, schwanke Brücke war zu dem unnahbaren Felsenhorst hinübergeschlagen, und ihr großes Werk, das sie allein gewagt und vermocht, war getan.

Rascher tritt jetzt alles weiter Erforderliche vor. Die Zeit war mit reichlichen Zurüstungen für derartige Überschreitungen von jähen Klüften wohl versehen, und die Ulrichsburg hatte das Nötige fertig vorhanden geboten. Das Mädchen zog ein Doppelseil von unzerreißbarer Stärke nach, dessen Ringe sie sorgfältig an der Zugbrücke befestigte; geräuschlos-vorsichtig wanderten Ketten, dann langes Balkenwerk daran hinüber. In ihrer ruhigen Art, mit erstaunender Verstandesumsicht und Benutzung jedes sich darbietenden Hülfsmittels arbeitete Bettane allein an der schwierigen, sicheren Verkettung und Stützung des Gebälkes, als ob sie seit ihrer Kindheit derartige Baukunst betrieben. Mehrere Stunden schwanden hin, dann griff sie in ihre Tasche und warf abermals einen Stein nach dem jenseitigen Felsrande hinüber. Nun trat Guy in herzpochender Ungeduld zuerst furchtlos auf die schwankende Brücke, er dachte nicht daran, daß er über unermeßlichem Abgrund schwebe, vorsichtslos eilte er hinüber und hängte die mitgetragene Sturmleiter nach wenig Augenblicken drüben an die nicht beträchtlich hohe Mauer der Giersburg. Behutsamer folgten die übrigen, einer um den anderen, hinterdrein; licht- und lautlos, schlafversunken lag das kleine trotzige Felsnest. Doch ehe Velten Stacher noch die Mauer erreicht, schlug das Gebell eines Hundes an, und überraschend schnell verwandelten sich in wenig Momenten das Dunkel und die Stille in Helligkeit und lautes Gelärm. Fackeln loderten auf und schlaftrunkene Knechte stürmten halb bekleidet, nur mit einer Waffe in der Faust, auf den Burghof, vor ihnen der Ritter Bertulf von Egisheim selbst, ohne Rüstung, gleichfalls allein mit seinem langen Schwerte bewehrt. In dem roten Licht erschien sein helmloser Kopf, von dem völlig zu weißer Asche entfärbten, verwilderten Haar umflogen und mit geisterhaft tief in die Höhlen zurückgesunkenen, brennenden Augensternen, gleich einem graberstandenen Gespenst; er schrie in heulender Wut: »Trefft sie! Würgt sie! Nur eine Hand voll Eulengezücht ist's! Hinunter mit ihren Knochen in den Abgrund für die Geier!«

Guy war als der Vorderste von der Mauer hinabgesprungen und kämpfte, hart bedrängt, wider ein halbes Dutzend von Spießen und Hiebwaffen. Jetzt kam Velten Stacher ihm zur Hülfe, und hurtig tauchten weitere Angreifer über den Mauerrand. Nur kurze Frist hatte die Entscheidung schwanken können, dann zeigte sich ein Widerstand der ungewappneten, geringfügigen Burgbesatzung gegen die wachsende Überzahl der eisengerüsteten Rappoltsteinischen unmöglich. Einige der Knechte lagen zu Boden gestreckt, die anderen flohen ins Innere des Hauses; der Ritter von Egisheim allein wich nicht, wehrte sich noch mit unbändigem Grimm fort. Nun flog von seitwärts her ein Wurfspeer gegen seine halbnackte Brust, und er stürzte hintenüber zur Erde.

Dann lag er in der Halle, auf eine Ruhebank hingestreckt, das Blut rieselte an ihm herab. Alle standen um ihn, Graf Schmaßmann frug fordernd: »Wo hast du meine Tochter! Gieb sie, eher verbinden wir deine Wunde nicht!«

Der Ritter schlug zum ersten Mal die Lider wieder auf und starrte um sich. Noch zugleich flog ein wilder Trotz über sein hageres Gesicht, und er gab mühsam Antwort: »Bist du's, Schmaßmann von Rappoltstein? Deine Tochter? Die ist weit und gut verwahrt! Hast du meinen Sohn lebendig gemacht, daß du sie ihm zum Weibe geben willst?«

»Wo ist sie? sprich's – eh' du stirbst!« rief der Graf angstvoll; aber der tödlich Getroffene schlug eine höhnische Lache vom Mund: »Bettelst du bei mir, Schmaßmann? Das ist gute letzte Stund – du weißt, ich schwur's – schon lang – und der Tod bricht den Eid auf meiner Zunge nicht!«

Graf Schmaßmann stand ratlos vor der Unbeugsamkeit des Irrsinnigen, dessen Leben verrann. Mit zitternden Lippen entgegnete er bittend, fast unbewußt: »Was tat ich dir, Bertulf? Willst du mein Haus erlöschen lassen wie deines? Gedenk der alten Freundschaft – und weigerst du sie mir, gib sie diesem hier, der noch tödlicher um sie bangt als ich, meiner Schwester Luitgard Sohn, die auch du einst lieb gehabt –«

Mit einem Zucken erweiterten die Augenlider des Ritters sich jählings zu einem stier geisterhaften Blick, sein Mund wiederholte schwerkeuchenden Tones: »Deiner Schwester Luitgard Sohn, – wer – ?« und sich halb emporrichtend, sah er starr in Guys Gesicht auf. Aber plötzlich, von einem Blitz durchzuckt, ohne Wissen und Wollen, sprang Velten Stacher vor und rief laut: »Du bist's – darum trug auch dein Bastard Züge von ihm – Du bist sein Vater! Hast du im Wahnwitz geschworen – der Himmel löst deinen Eid – gib sie deinem Sohn zum Weibe!«

Ohne Besinnung war's seinen Lippen entfahren, Graf Schmaßmann und Guy blickten ihn wie einen Irrredenden an. Aber nun fügte er hinterdrein: »Seht hin, ob ich die Wahrheit gesprochen!«

Bleich, als sei er schon zu einer Leiche entfärbt, war der Ritter Bertulf von Egisheim zurückgefallen, sein Mund röchelte zwei Mal schwer auf: »Luitgard – Luitgard –« Dann raffte er letzte Kraft, hob sich nochmals und stammelte: »Bist du Luitgards Sohn?«

Doch ehe jemand zu antworten vermochte, stieß er mit einem Schrei nach: »Darum haßte ich dich und du mich –« Er griff krampfhaft zitternd in sein Gewand und zerrte einen schweren Eisenschlüssel hervor: »Hinunter – sie ist hier – drunten – ein Verließ, in den Felsen gehauen – nur der Burgwart kennt's –«

Guy wollte fortstürzen, doch Velten Stacher entriß ihm den Schlüssel, drängte ihn gewaltsam gegen das Lager des Ritters zurück und eilte mit einer Fackel davon. Graf Schmaßmann stand noch ungläubig verwirrt, er faßte die Schulter des Verwundeten und frug stockend: »Es kann nicht sein – warst du's – ist's wahr, was er gesprochen? Bei deinem Seelenheil, rede!«

Der karge Lebensrest des Sterbenden losch hin; er wollte laut sprechen, doch dumpf abgebrochen, nur halb erratbar fielen ihm die Worte von den Lippen: »Ich war's – ich fing deine Schwester mit Gewalt – hielt sie – auf den Exen – und andere Gewalt – aus Haß und aus Liebe. Dich trog ich hier – doch einmal, als ich dorthin – war die weiße Taube fort – ich dachte, zu Euch, rüstete meine Burg auf Leben und Tod. Aber keiner von Euch kam – sie war nicht zu dir geflohen. War's der Schimpf, den sie Euch bergen wollte – oder war's – ihr Herz trug auch Haß und Liebe – wohin sie gegangen, die Raben sagten's mir nie –«

Von der Anstrengung des Redens schoß das Blut ihm wieder aus der klaffenden Brustwunde, er fiel wie tot zurück. Der Graf rief: »Helft! Verbindet ihn!« doch stöhnend wehrte der Hinscheidende ab: »Laßt! – der Tod ist süß – nach der langen Lebensqual –« Sein letzter Wille riß ihm noch einmal den Kopf in die Höhe, und Guy mit einem traumhaft verrinnenden Blick umklammernd, sprach er lauter und verständlicher als zuvor: »Bist du Luitgards Sohn? – du bist's – ich seh's jetzt. Gib mir deine Hand – nein, du kannst's nicht – deiner Mutter Jammer hängt an meiner wie Blut. Aber gib mir's mit, daß du mir gehören willst – wenn meine Schuld in der Erde liegt meinen Namen weiter tragen. Vor Euren Ohren hier – dies ist mein Sohn – legt Zeugnis dafür bei Kaiser und Reich – daß sie ihn zu Recht erkennen – nach meinem letzten Willen und Bitten. Vielleicht lächelst du mir – wenn ich's dir sage – Luitgard –«

Sein Kopf schlug nieder, und die Augen brachen, doch schattenhaft glitt es ihm selbst um die Lippen wie ein Lächeln, von dem sein letztes Wort gesprochen. Die Brust atmete noch, aber leiser, unmerklicher; man sah, das Bewußtsein kam nicht mehr zurück. Die neben ihm Verweilenden standen wie in einem irren Traum, Graf Schmaßmann sagte tief erschüttert leise: »Tu ihm Sohnespflicht, Guy von Egisheim; du wärest nicht ohne ihn.« Der junge Ritter streckte die Hand nach der seines Vaters; er zuckte zusammen, wie er dieselbe berührte, aber dann hielt er sie und schloß mit der anderen die Augenlider des Sterbenden zu. Sie gaben jetzt willenlos nach, der Ritter Bertulf von Egisheim war tot.

Mit dem Kopf herumfahrend, gedachte erst jetzt der Graf wieder an seine Tochter. Hastig wollte er forteilen, da trat sie, von Belten Stacher geführt, über die Türschwelle der Halle. Der Burgwart hatte sich in ungeschreckter Vasallentreue für seinen sterbenden Herrn geweigert, dem jungen Kriegsmann den Versteck der Gefangenen zu verraten, bis Velten Stacher ihm den aus der Hand des Ritters empfangenen Schlüssel gezeigt. Erst daraufhin führte er jenen viele Stufen in nächtige Tiefe hinunter an eine in den Felsen hineingehauene, enge, lichtlose Kammer. Der Zugang war künstlich mit rohem Gestein verdeckt, ohne Weisung erschien sie völlig unauffindbar; darin hatte der nagende Gewissenswurm Bertulfs von Egisheim, ihn zu immer ingrimmigerem Trotz anstachelnd, Erlinde von Rappoltstein wochenlang, seit ihrer Fortschaffung von den Drei Exen, schmachten lassen. Nun stand sie mit bleichem, fast schneefarbigem Antlitz, lichtgeblendet, noch unfähig, zu denken und zu begreifen, da. Sie sah ihren Vater und fiel ihm stumm in die Arme; als sie nach einer langen Weile den Kopf wieder hob, sprach Graf Schmaßmann: »Hier steht dein Vetter, meiner Schwester Sohn – wenn einem, dankst du ihm deine Rettung.« Zagend ungewiß blickte Guy ihr ins Gesicht; ihn befiel's plötzlich mit herzstockendem Schreck, daß er alle Sehnsucht, Glückeshoffnung und Liebe vieler Jahre gleich einem zauberischen Traum allein in seiner eigenen Brust getragen habe und daß die wundersame jungfräuliche Gestalt vor ihm von dem allem nichts wisse, nichts teile. Blöder und scheuer als in seinem weißen Schafspelz bei der ersten Begegnung mit dem goldlockigen Grafenkinde stand er ohne Wort und Regung.

Erlindes Sinne und Seele aber waren noch zu sehr von Glücksbetäubung überwältigt, um scheiden zu können, was auch nur ein geheimer Traum ihres Herzens und was Wirklichkeit sei. Sie hörte die Worte ihres Vaters und sah das blühend errötete, männlich schöne Antlitz des jungen Ritters; sie begriff nicht, was jene gesprochen, doch sie fühlte, süß durchschauert, es klang ihr eine Aufforderung, eine Berechtigung, fast ein Pflichtgebot daraus, das zu tun, wonach der sehnsuchtsvolle Schlag in ihrem Herzen selbst als nach dem Lieblichsten auf Erden verlangte. Und Erlinde von Rappoltstein dachte nichts weiter, sondern im nächsten Augenblick schlang sie ihre Arme um den Nacken Guys wie zuvor um den ihres Vaters. Ohne sich zu kennen, kamen die zwei Einzelträume zusammen, doch im Moment, wie sie sich umfingen, durchbohrte es sie mit jäher, holdseliger Erkenntnis, es war nur einer, war derselbe. Keiner hatte es noch eben gedacht, gewollt, aber die Lippen taten es zugleich, weil sie beide nicht anders konnten, ruhten, uneingedenk der fremden Blicke umher und des kaum Abgeschiedenen auf der Ruhbank vor ihnen – des Lebens und des Todes nicht gedenkend, ruhten die Lippen wonnevoll aufeinander.

Und lange Zeit, manche Rede und Antwort verging, ehe Guy, plötzlich einmal aufblickend, auffuhr: »Nein, nicht mir danken wir alles, sondern einzig ihr – wo ist sie – wo ist Bettane?«

Doch die Gesuchte befand sich nicht in der Halle, war auch auf dem Burghof nicht zu finden, denn sie saß drüben, jenseits der jetzt herabgelassenen Zugbrücke an dem Felsrand, von welchem sie am Seil in die Tiefe hinuntergeschwebt. Die lange, von vielem Herzklopfen durchpochte Winternacht ging zu Ende, ein falber Schimmer kam im Osten herauf, und in ihm blickte Bettane, still dasitzend, nach dem mählich erkennbarer sich vom Himmel abhebenden Gemäuer der Giersburg hinüber.


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