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Neunzehntes Kapitel

Namenlose Bestürzung und Wehklagen herrschten in der glänzenden Saalhalle der Ulrichsburg über die Unauffindbarkeit Erlindes von Rappoltstein und riefen schreckvoll eine alte Erinnerung wach. Es war einmal Ähnliches geschehen, vor langausdenklicher Zeit, mehr schon als zwei Jahrzehnten. Da hatte Luitgard, die jungblühende Schwester des Grafen, am lichten Tag die Burg verlassen, um zum Hochrappoltstein hinanzusteigen, war aber dort nicht eingetroffen und niemals zurückgekehrt. Ihr Ruf als derjenige des schönsten Edelfräuleins im ganzen Elsaß ging weit um und fand manch hochbürtigen Bewerber, auch der Ritter Bertulf von Egisheim freite bei ihrem Bruder um ihre Hand. Doch Graf Schmaßmann bedünkte der Ritter zu aussichtslos dürftig herabgekommen für die Schwester, und er wies denselben glimpflich, ohne Kränkung und Bruch der guten Nachbarfreundschaft, aber mit unabänderlichem Wort ab, obwohl es schien, daß Luitgard selber vielleicht bei des Bruders Dreinwilligung nicht widerstrebt hätte; zum mindesten schlug sie danach mehr denn einen vornehmeren und reichen Freier aus. Da geschah eines Tages das Unbegreifliche; sie verschwand und keine Spur gab jemals von ihr Kunde. War sie in einen Abgrund gestürzt oder hatte einer der von ihr abschlägig beschiedenen, mächtigen Bewerber sie gewaltsam überfallen und sie mit sich geführt? Viele Tage lang suchte Graf Schmaßmann und, noch unermüdlicher als er, mit ihm der Ritter von Egisheim in allen Schluchten und Klüften, Winkeln und Wäldern des Gebirges umher, doch umsonst. Ein unlösbares, trauervolles Rätsel blieb's, über das sich bald darauf wilde Kriegsstürme hinwälzten. In einem Gefecht ward Graf Schmaßmann gefährlich verwundet und genas erst nach Ablauf vieler Monde. Als er wieder ins Feld zu ziehen vermochte, um dem Heerbann des Kaisers ins Ungarland zu folgen, war die Erinnerung an die Verschollene leise in ihm überwuchert, und nach seiner Heimkehr wachte sie nur dann und wann noch auf.

Jetzt aber ward sie unwillkürlich bei allen, welche damals gelebt, lebendig und durch eine seltsame Täuschung besonders bei dem Grafen. Auf Erläuterung und Bitte Velten Stachers hin war der verwundete junge Ritter in einem luftig wohnlichen Turmgemach der Ulrichsburg untergebracht worden, wo Bettane nicht von seinem Lager wich und jedem anderen die Beteiligung an seiner Pflege mit hartnäckiger Entschiedenheit verwehrte. Doch hatte sie auf ihre Tafel geschrieben, daß sie glaube, der Kranke könne eine Auskunft über das Verschwinden der Grafentochter geben, und mit angstvoller Ungeduld wartete der Vater auf die Wiederkehr des Bewußtseins Guy Loders. Da auch der nächste Tag noch ohne die sehnlich erharrte Botschaft zu Ende ging, trieb es ihn unwiderstehlich zum Turm hinüber, selbst nach dem Zustand des Sprachunfähigen zu sehen. Wie er eintrat, brach die Dämmerung leise herein; neben dem Lager saßen wie stets Bettane und Velten Stacher, der Einzige, den sie mit sich im Gemach duldete. Ein letzter Spätrotglanz der schon hinter dem Hochkamm des Wasichingebirges niederschwindenden Sonne fiel durchs Fenster und hauchte im Verein mit der Wundfieberröte scheinbar eine Farbe jugendblühender Gesundheit über das regungslos hingestreckte Antlitz Guys, das sich eigenartig, einem Gemälde ähnelnd, aus dem zwitternden Licht umher abhob. Eilig schritt Graf Schmaßmann herzu, doch plötzlich stutzte er, und seine Lippen stießen unwillkürlich das Wort »Luitgard« hervor. Velten Stacher sah verwundert bei dem Namensklang auf, der so oft seit dem gestrigen Tage in der Burg erklang. Nun sprach der Schloßherr: »Mein Kopf ist wirr von der Sorge und täuscht mir die Sinne; mir war's, als läge meine Schwester dort, wie ich sie vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen. Es kam wohl, weil ich ihrer so viel wieder gedacht, daß auch der Blick sie mir vortrügt. Ist er noch nicht wach?«

Schwer von Kummer klang die Sprache des Grafen, und ohne Trost ging er wieder davon, denn der Verwundete lag noch immer bewußtlos wie bei seiner Ankunft in der Burg. Bettane hatte kaum auf den kurzen Besuch geachtet, sondern fuhr sorglich in ihrer Achtsamkeit fort, den Verband der Wunde stetig durch frisch in kaltes Brunnenwasser getauchte Leinwand zu erneuern; Velten Stachers Gesicht dagegen hatte ein absonderer nachdenklicher Ausdruck verändert. Seine Augen hafteten groß und unverwandt auf den Zügen des Kranken, aber es lag etwas in ihnen, als richteten sie sich zugleich suchend nach innen zurück, wie nach einem unter seiner Stirn aufdämmernden und nebelhaft wieder hinschwindenden Gedanken. Und er half dem Mädchen nicht wie bisher bei ihrer Vorsorge, sondern blieb unverrückt bis in die tiefe Dämmerung auf seinem Sitz.

Am folgenden Morgen aber kam ein Seufzer von Guy Loders Mund; er hob zum ersten Mal den Arm und tastete mit der Hand nach dem schmerzhaften Druck auf seinem Scheitel, dann gewahrte er die beiden neben ihm Befindlichen, und seine Miene sprach, daß er sie staunend erkannte. Es war, als habe er schlimm geträumt und nun komme eine friedvolle Beschwichtigung über ihn, so grüßten seine Augen stumm-vertraulich in diejenigen Bettanes und wandten sich danach denen Velten Stachers freundlich zu. Doch auch die Sprache hatte er wieder gewonnen und frug noch traumhaft: »Wie kommt Ihr zu mir?«

Es verging indes noch geraume Zeit, ehe sein Kopf die Kraft angesammelt, um die Erwiderungen Velten Stachers auffassen und seine eigene Erinnerung deutlich wachrufen zu können. Dann lauschten beide begierig seinen Worten, der ehemalige Pfeifer mit dem Ohr und Bettane mit unverwandt an seinen Lippen hängendem Blick. Nur einmal fuhr der erstere, zorneswild die Faust ballend, auf, als der junge Ritter sprach, wessen Schwerthieb ihn heimtückisch vor der Dusenbachkapelle zu Boden geworfen, und Velten Stacher stieß zähneknirschend aus: »Hätt' ich den Bastardbuben an der Kehle gefaßt, da ich ihn einstmals auf der Straße mit dir antraf!« Doch verlegen stotterte er drein: »Verzeiht, Herr Ritter, daß ich mich vergaß, nach ehemaliger Gewohnheit zu reden.« Guy Loder aber streckte, so schnell er's vermochte, die schwache Hand nach ihm aus und gab zurück: »Zürnst mir noch, Velten, daß ich von dir ging, und willst mir die alte Freundschaft nicht lassen? Es war mir nimmer so wohl ums Herz mit dem Anderen als mit dir, und du bleibst mir allezeit der liebste Freund.«

Nun erst gedachte Velten Stacher der harrenden Ungeduld des Grafen, und eilig herbeigerufen, kam dieser und vernahm von Guy die Kunde, daß der Sohn des Ritters von Egisheim im Dusenbachtal Erlinde überfallen und mutmaßlich nach der Stammburg seines Vaters davongeschleppt habe. Mit sichtlicher Erleichterung empfing Graf Schmaßmann die Botschaft, die ihn weder heftig überraschte noch in Zorn versetzte. Seitdem der Ritter Bertulf durch seinen Angriff auf Mülhausen sich als Parteigänger Karls des Kühnen offenbart hatte, war das frühere langjährige Nachbarsverhältnis zwischen ihm und dem seit geraumer Zeit schon mit dem lothringischen Herzog verbündeten rappoltsteinischen Hause erloschen; sie standen sich in kriegerischer Fehde gegenüber, und es war nicht unritterlich, sich mit Gewalt oder List eines dem Gegner ungehörigen kostbaren Gegenstandes zu bemächtigen, um für die Rückgabe desselben eine hohe Lösesumme zu erzielen. Diese zu erkunden, beeilte der Graf sich, noch am selben Tage eine Sendbotschaft nach den Drei Exen abgehen zu lassen, und Velten Stacher nahm den Antrag, als Bevollmächtigter mit dem Ritter Bertulf zu verhandeln, wenn auch ungern von Guy Loder scheidend, doch bereitwillig und mit freudigem Stolzgefühl an. Schon am nächsten Abend mußte er mit der Tochter des Grafen, dem kein Lösegeld zu hoch war, zurückkehren, und ein flammendes, nicht mehr vom Wundfieber, sondern aus dem laut klopfenden Herzen aufbrechendes Rot übergoß das Antlitz des jungen Ritters, als er diese Beredung neben seinem Lager vernahm. Mit großer Gunst aber und unverkennbarem innerlichen Wohlgefallen behandelte Graf Schmaßmann den Verwundeten. Er erinnerte sich jetzt desselben gar wohl vom Pfeifertag her und wie er damals sich mit Bedauern in die Zurückweisung Guys aus der Bruderschaft gefügt; seine Hand stattete diesem vom Herzen kommenden Dank ab, daß er sich dem Raube Erlindes widersetzt und dadurch sein eigenes schweres Unheil herbeigeführt habe. Doch konnte dies nicht abändern, daß der Graf von Rappoltstein die Pflicht besaß, den jungen Ritter als Kriegsmann des Herzogs von Burgund in Gefangenschaft auf der Ulrichsburg zu halten, bis entweder eine Auslösung für ihn stattgefunden oder der Friede verkündet sei. Vorderhand galt das im übrigen gleich, da die Wunde Guys auf manche Wochen hinaus Pflege und äußerste Schonung erheischte, und den Kranken nicht als Gefangenen, sondern bis zu seiner völligen Herstellung gegen Austausch seines Ritterwortes, nicht entfliehen zu wollen, als Gast willkommen heißend, verlieh Graf Schmaßmann in freudiger Zuversicht der baldigen Wiederkehr seines Töchterleins das Turmgemach. Er hatte nicht zu befürchten, daß sie gleich seiner verlorenen Schwester nicht zurückkomme, denn er wußte sie in der sicheren Hand des nur durch die Zeitläufte mit ihm und seinen lothringischen Bundesgenossen verfehdeten, hoch geldbedürftigen Ritters von Egisheim.

Schon um eine Stunde später zog Velten Stacher mit einigen Geleitsmannen aus der Ulrichsburg gen Süden davon, und Bettane schaute ihm mit einem Blick nach, den ein heimliches Glücksgefühl über seinen Fortgang erfüllte. Wie vor der Dusenbachkapelle war sie wieder mit dem Verwundeten allein und dieser ganz ihrer Obhut anheimgegeben. Sie redete mit ihm, manchmal mit Hülfe ihres Täfelchens, zumeist aber in der alten Zeichensprache aus Kindertagen, und ein seliges Lächeln blieb fast stets um ihre Lippen, daß er dieselbe noch im Gedächtnis bewahrt hatte, und wie damals verstand. Doch seine Kraft war bald erschöpft, und er schloß die Lider und schlief eine Weile. Dann, wenn er fest im Schlaf lag, nahm sie ganz leise seine Hand und hielt sie in der ihrigen, bis er wieder erwachte. So ging friedlich-schön der Tag, die Nacht und kam ebenso der nächste Morgen. Wie dieser vorschritt, losch indes allmählich der glückliche Glanz in den Augen Bettanes mehr und mehr dahin. Eine Unruhe fiel über ihr Gesicht, die sie dem Kranken verbarg, doch oftmals stand sie auf und sah durchs Fenster auf den Weg nach Rappoltsweiler hinunter. Ihr Blick verlor wieder etwas von seiner Trübung, wenn sie nichts den Bergpfad herankommen gewahrte; kein Hufgeklapper tönte noch durch die ruhige Sonnenluft, still lagen unter ihr auf dem Burghof nebeneinander gekauert die beiden schwarzen Ziegen, geduldig der Rückkunft ihrer Herrin wartend, und aufatmend kehrte Bettane wieder an das Lager des jungen Ritters zurück.

Drunten im Rheintal aber war Velten Stacher über Kolmar hinaus bis zum Städtchen Egisheim geritten, bog an diesem ins Gebirge hinauf und hielt, ein weißes Fähnlein schwenkend, vor dem Burgtor der Drei Exen. Er bat den Torwart um eine Unterredung mit dem Ritter von Egisheim und tat, als dieser auf der Mauer erschien, kund, er komme als Abgesandter des Grafen von Rappoltstein, um zu erfragen, ob dessen Tochter sich als Gefangene droben befinde und welches Lösegeld der Burgherr für ihre Freilassung begehre. Da antwortete der Ritter, mit einem weißen Aufglanz der Augen die finstere Miene seltsam durchhellend: »Ihr kommt recht, sie ist in gutem Verwahr. Vermeldet Eurem Herrn, ich heische aus alter Freundschaft keine Lösung für sie an Gold und Gut, sondern einzig sie selber zum Ehgemahl für meinen Sohn.«

Verdutzt, schier ungläubig an seinem Ohr zweifelnd, sah Velten Stacher drein und erwiderte:

»Ihr betreibet Scherzrede, Herr Ritter, denn es kann Euch nicht ernstlich sein, für Euren Kebssohn um die Tochter des Grafen von Rappoltstein zu freien. Ich bitt Euch nach meinem Auftrag, mir Eure Forderung für ihre Freiheit zu beheißen.«

Noch nun schlug Bertulf von Egisheim eine wilde Hohnlache in die Luft. »Ihr habt sie vernommen, richtet sie aus! Bei meines Vaters Gebein, die stolze Grafendirn wird meines Sohnes Weib, oder sie fault in meinem Turm bis an ihren letzten Tag. Die Hand verkohle mir in zeitlichem und ewigem Höllenbrand, wenn ich diesen Schwur breche!«

Er reckte zum Eid die Hand übers Haupt, dann fügte er, sein Schwert aufs Mauergestein niederstampfend, drein: »Macht fort mit Eurer Botschaft! und tut Eurem Herrn kund, ich hätt gute Freiersleut auf meiner Burg, wenn sein Jawort lang ausbleibe, bei ihm zu werben. Läßt er mich harren, so sprech ich die Ulrichsburg als Mitgift an für meinen Sohn, und Ihr wißt, daß Einer unsern ist, mein Wort zu bewähren. Rüstet die Hochzeit, oder der Donnermund des Burgunders wird die Dirn für Egisheimer Blut bei Euch freien, und bei seinem Löwenhelm, Eurem hochfahrenden Grafen wird diesmal das Nein in den Zähnen stocken!«


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