Ina Jens
Rosmarin
Ina Jens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nachbarn.

Obwohl ich als Kind nichts weniger als ein Friedensengel gewesen bin, so war es mir doch einmal vergönnt, die Rolle eines solchen zu spielen, allerdings ganz ungewollt, und darum hat auch niemand über die erzielte Wirkung mehr gestaunt als ich selbst.

Unser Haus hatte zwei Eingänge. Der eine führte zwischen den Ställen und dem Baumgarten auf die Tenne und von da in den obern Flur. Der andere aber befand sich auf der Rückseite des Hauses und war ein großer mit Kopfsteinen besetzter Hof, in dem rechts eine helle Treppe wieder auf die Tenne und links eine stockdunkle Wendeltreppe in das Nachbarhaus ging, denn unser Haus war nach dem Berge zu mit einem andern kleinen Bauernhaus zusammengebaut.

Der große dunkle Hof, auf dessen beiden Seiten Kammern und Keller lagen, gehörte uns, aber die Nachbarn besaßen das Durchgangsrecht. Wahrscheinlich waren die beiden Häuser früher eines gewesen und hatten einen Eigentümer gehabt. So legte ich mir jedenfalls den Fall zurecht, denn sonst hätte ich es nicht verstehen können, warum immer und immer wieder betont wurde, daß die 105 drüben das Recht erst gekauft hätten, durch den Hof zu gehen. Bei solchen Reden dachte ich oft heimlich mit stillem Wundern: »Ich möchte bloß wissen, wie die Leute sonst ins Haus hineingelangen sollten? Vielleicht durch die Fenster oder gar durch den Schornstein?« Aber es war nun einmal so und nicht anders, und ich mußte schon daran glauben. Die Menschen, die da neben uns wohnten, hatten das Durchgangsrecht durch diesen einzigen Eingang in ihr Haus von uns gekauft.

Im Nachbarhause am Ende der dunklen Wendeltreppe befand sich eine Tür. Oeffnete man diese von drüben, so war man wieder auf unserer Tenne. Diese Tür war durch einen Riegel nur von unserer Seite her aufzuschließen. Weil aber zwischen den Familien der beiden Häuser ein gutes Einvernehmen herrschte, wurde an den Riegel auf unserer Seite ein Strick gebunden und durch ein Loch in der Wand auf die andere Seite gezogen, wo er durch ein Eisen beschwert herunterhing. So konnten die Nachbarn, ohne einen langen Umweg zu machen, abends etwa auf einen Sprung zu uns herüberkommen.

Diese Nachbarn bestanden aus einem alten Manne, seinem Sohne und dessen Frau. Der Alte hieß Abraham. Er war ein freundlicher, dienstfertiger Mann mit einem langen, grauen Bart. Sommer und Winter trug er eine braune 106 Kutte, graue Hosen, klobige Holzschuhe und im Munde eine kurze Tabakspfeife.

Nun geschah es eines Abends, daß in diesem Nachbarhause ein Kind geboren wurde. In der großen Freude darüber kaufte der junge Vater nach einiger Zeit einen sehr hübschen Kinderwagen. Die Mutter, die ihr Kleines jeden Tag nach dem Mittagessen in die Sonne hinausbrachte, tat dies von da ab selbstverständlich in dem glänzenden, neuen Wägelchen.

Ein Wagen kann aber nicht gehen, sondern er muß gefahren werden. Und da saß der Haken, denn sie hatten ja kein Durchfahrts- sondern nur Durchgangsrecht in dem dunklen Hofe.

Um diesen Unterschied jedoch schien sich die junge Frau nicht im geringsten zu kümmern. Sie fuhr Tag für Tag, wenn es ihr eben paßte, mit dem kleinen Wagen hinein und hinaus.

Ich fand das auch ganz in der Ordnung, aber meine Mutter sagte eines Morgens beim Frühstückskaffee zur Großmutter: »Wenn das so weiter geht, verlieren wir unser Recht, und die da drüben können in Zukunft mit irgendeinem beliebigen Wagen hinein und hinaus fahren.« Und die Großmutter bestätigte ebenfalls sehr ernst: »Es ist wahr, lange darf man das nicht mehr gleichgültig mitansehen.«

Die Nachbarn aber fuhren immer weiter mit 107 ihrem Kinderwagen, unbekümmert um Recht und Gesetz, durch den Hof ein und aus. Mutters und Großmutters Grüße wurden immer kürzer, immer frostiger, und die Stimmung in unserm Hause immer gereizter und aufgeregter.

Und eines Abends sagte meine Mutter entschlossen: »So! Nun gehe ich aber hinüber und werde mit den Leuten ein offenes Wort sprechen.«

Und wirklich. Sie ging hinüber, und ich schlich, vor lauter Angst um die Mutter, hinter ihr her bis zu der offenen Verbindungstür. Dort blieb ich stehen und wartete. Plötzlich hörte ich, wie der Spektakel drüben losging.

Die Nachbarin schrie: »Soll ich vielleicht jedesmal dem Teufel rufen, daß er mir den Kinderwagen auf seinen Hörnern hinausträgt?« Und meine Mutter antwortete sehr energisch: »Tut, was Ihr wollt, aber durchgefahren wird nicht mehr, sonst klagen wir.«

»Klagt so viel Ihr wollt! Wir werden dann schon sehen, wer recht hat!« giftete die andere zurück.

So ging es eine Weile hin und her, aber endlich kam die Mutter doch wieder unversehrt aus dem feindlichen Lager zurück. Sie war in böser Stimmung, und abends wurde in unserer Stube bis in die Nacht hinein über die Angelegenheit gesprochen.

Acht Tage nach diesem Vorfall stand in 108 unserm Hof ein großer Wagen, voll beladen mit Faschinen. Mit dem waren die Nachbarn offenbar in böser Absicht hineingefahren. Der ganze Hof war von dem mächtigen Fuder so ausgefüllt, daß man kaum daran vorbeigehen konnte, und dazu wurden die Faschinen nicht etwa sofort abgeladen, sondern sie lagen mitsamt dem Wagen drei Tage lang im Hof.

Die Mutter war außer sich, und die Großmutter hatte genug zu tun, sie zu beruhigen. Ich wurde in jenen Tagen kaum beachtet, und die Gespräche drehten sich vom Morgen bis zum Abend nur um diesen Wagen, der da unten wie hingehext stand.

In dieser Zeit geschah es auch, daß sich mein Wortschatz in ungewohnter Weise und sogar verbunden mit nebelhaften Vorstellungen bereicherte. Ich hörte zum ersten Male Ausdrücke wie Prozeß, Verteidiger, Urteil, Kontrakt und Urkunden, und ich lebte in einem Zustande andauernder Furcht vor einer Katastrophe, die hereinzubrechen drohte.

Die Spannung zwischen den Bewohnern der beiden Häuser war bereits aufs höchste gestiegen. Keiner grüßte mehr den andern. Man wich einander aus, ja man hätte sich gegenseitig am liebsten vergiftet.

»Schafft den Wagen aus dem Hof!« befahl meine Mutter eines Morgens dem Abraham, der 109 gerade mit seinem Töpfchen Ziegenmilch aus dem Stalle kam.

Der alte Mann ging an ihr vorbei und brummelte verbissen in seinen Bart hinein: »Sobald es uns denn paßt.«

Da griff die Mutter zum äußersten Mittel. Sie ging in ein benachbartes Dorf auf dem Berg, kam sehr spät zurück und hatte viel zu erzählen, wobei die Wörter Advokat und Verteidiger sich zehnmal wiederholten. Die Mutter schien sehr zufrieden mit dem Erfolg ihres Handelns zu sein, denn sie sah geradezu triumphierend der Zukunft entgegen.

Ein paar Tage darauf hatten wir wirklich das »Gericht« im Haus. Ich war in einer unbeschreiblichen Aufregung und Angst. Am ganzen Körper zitternd, kauerte ich unbemerkt in der Höhe an einer Bodenluke und spähte hinunter.

Direkt unter mir gingen zwei sonntäglich gekleidete Bauern auf und ab, nahmen alles, wie die Mutter es nannte, in Augenschein, stiegen die hintere Treppe hinunter und die vordere wieder hinauf, besahen sich die Türen, lasen Papiere, die meine Mutter ihnen gab, und verschwanden bald, ohne viel geredet zu haben.

Nach weitern acht Tagen war merkwürdigerweise die Ruhe in unserm Hause hergestellt. Ich hörte etwas von einem »gütlichen Vergleich«, und Mutter und Großmutter hatten ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden, aber die Luft, die 110 von einem Haus ins andere wehte, war dick und schwül.

Grüße wurden längst nicht mehr gewechselt. Nicht einmal die Ziegen, die morgens aus den Ställen gelassen wurden, durften nebeneinander auf der Straße gehen. Jedesmal flog ihnen aus dem Nachbargarten ein Stein oder ein Stock nach, wenn sie, unbekümmert um den Haß ihrer Besitzer, friedlich nebeneinander dem gemeinsamen Sammelplatz zutrottelten. Nicht selten wurden Unkraut und Kehricht in unsern Baumgarten geworfen, und aus der Küche ergossen sich ganze Kübel voll Abwaschwasser in unsern Gemüsegarten.

Viel öfter als sonst kamen die Nachbarn jetzt frech lärmend durch die Verbindungstür und gingen über die Tenne zu einem Brunnen, der unser persönliches Eigentum war und an dem sie nicht das geringste Recht hatten.

Das wurde nun schließlich auch der Großmutter zu bunt, und eines Tages schnitt sie kurzerhand den Strick an der Verbindungstür ab, verstopfte das Loch mit einem Stöpsel und hatte somit den Nachbarn den Zugang in unser Haus versperrt.

Als man diese Maßnahme drüben gewahrte, fielen derbe Flüche und Beschimpfungen aller Art, und die Großmutter hielt sich die Ohren zu, um nicht wegen Beleidigungen klagen zu müssen.

Diese Anrempelungen dauerten aber nicht 111 lange. Der Mensch bekommt alles mit der Zeit über . . . auch nutzloses Schimpfen, und die erst stürmisch brausenden Wasser gegenseitiger Empörung flossen bald ganz still und ruhig dahin, aber vergessen war nichts. Todfeinde konnten sich wortlos nicht mit größerer Verachtung behandeln als wir und unsere Nachbarn.

Das Jahr ging langsam dem Winter entgegen. Allerorten war die Ernte unter Dach und Fach gebracht. Die Nachbarsleute hatten ihre Kartoffelsäcke und ihren Mais auf dem Rücken ins Haus getragen. Wir jedoch waren zweispännig mit den Früchten des Feldes in den Hof eingefahren.

Der erste Schnee fiel. Der Winter zog ein, und mit ihm kam eine große Gedrücktheit und merkwürdige Stille in unser Haus. In der obersten Schublade unseres Schreibtisches lag drohend der Zettel für die Feuerversicherung, aber wir hatten kein Geld, ihn zu bezahlen, und schwere Sorgen drückten die Gemüter nieder.

»Muß man diesen Zettel denn gleich bezahlen?« fragte ich eines Nachmittags ganz schüchtern.

»Ja,« sagte die Großmutter seufzend, »morgen ist der letzte Tag. Wenn wir nicht bezahlen . . , ich weiß dann nicht, was nachher geschieht.«

Das klang für mich erschütternd schmerzlich, und in meiner Vorstellung tauchten Bilder wahren Jammers auf. Herren vom Gericht kamen und 112 nahmen uns alles weg, jagten uns unbarmherzig zum Haus hinaus, und wir standen in kalter Winternacht hungernd, frierend und obdachlos auf der Landstraße. Ach . . . ein grenzenloses Elend stand uns bevor . . . wenigstens in meiner Phantasie.

In der Not meines Herzens begann ich zu überlegen, was man bloß tun könnte, um das Geld für den folgenden Tag zu beschaffen. Ich sann und sann, und mir wollte nichts einfallen. Als ich aber schon ganz mißmutig das Denken aufgab, kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich.

Es war zwar etwas Ungewöhnliches, ja beinah Ungeheuerliches, was ich da erwog, aber ich war eben bereit, alles, auch das Schwerste zu tun, um zu helfen.

Einmal, so dachte ich, sollten sie sehen, daß auch ich imstande war, etwas Großes zu tun. Und wie würden sie sich freuen, wenn ich ihnen die so bitter notwendigen fünfundzwanzig Franken überreichte und ihnen sagte: »Da habt ihr das Geld. Geht und bezahlt eure Assekuranz!« Wie ein Wohltäter, oder wenigstens doch wie ein ganz edler Mensch würde ich dastehen, und Haus und Hof waren durch mich gerettet.

Ich sah auf die Uhr. Es war vier Uhr. »Gerade eine gute Zeit . . . so nach dem Kaffeetrinken«, überlegte ich, wappnete mich mit Gleichmut und 113 Unerschrockenheit, ließ die Flammen meiner Hilfsbereitschaft ordentlich auflodern und trabte die Treppe hinunter.

Lieber Gott! Mir war es, als ob sich mir innerlich plötzlich alles krümmte und drehte. Wenn mein Vorhaben nur auch gelang! Man konnte ja nie wissen!

Ich öffnete also die seit vielen Monaten hermetisch verschlossene Verbindungstür zwischen unsern Häusern und ging hinüber . . . zum Abraham. Mit heftig pochendem Herzen klopfte ich an. Darauf ertönte ein ganz vertrauenerweckendes »Herein«. Wie ich über die Schwelle trat und den Mut zum Sprechen fand, ist mir nicht mehr recht klar. Jedenfalls hörte ich den alten Mann, der am Fenster saß und die Zeitung las, höchst erstaunt die Frage an mich richten: »Was willst denn du eigentlich hier?«

Da trat ich vor ihn hin und sagte: »Lieber Abraham! Würdet Ihr wohl so gut sein und uns fünfundzwanzig Franken borgen, damit wir die Feuerversicherung bezahlen können. Wir haben gerade kein Geld, und vielleicht könnt Ihr uns helfen.«

Der Abraham sagte fürs erste kein Wort, wahrscheinlich fand er keines. Dann legte er die Zeitung auf den Fenstersims und die Brille daneben. Endlich fragte er: »Hat dich die Großmutter hergeschickt?« 114

Ich antwortete: »Nein . . . Ich bin selbst gekommen . . . Aber sie würde Euch gewiß danken . . .«

Nach einem langen Stillschweigen meinte er: »Geh nur wieder hinüber! Ich will nachsehen, ob noch so viel da ist. Ich glaube fast, es reicht. Am Abend komme ich dann selber zu Euch!«

Mein Herze ging in Sprüngen. Ich dankte und jagte zur Tür hinaus und die dunkle Treppe hinunter auf die Straße. Mir war so leicht zumute wie einem Vogel, der sich in die blaue Frühlingsluft emporschwingt. Wie würde die Großmutter sich freuen! Der Abraham war doch wirklich ein guter Mensch. Nun waren auch diese schrecklichen gedrückten Tage vorbei, und ich war es, ich allein, die das gemacht hatte. Mir war so wohl und selig, daß es mich nicht lange auf der Straße hielt. Ich mußte es der Großmutter sagen.

Innerlich gehoben wie vor einem Freudenfeste, stieg ich die Treppe hinauf und ging in die Stube hinein . . . Und da war es auf einmal, als ob mir jemand den Hals zuschnürte und als ob ich nach Luft schnappen müßte.

Ich staunte . . . und staunte . . . und es war auch wirklich Grund zum Staunen da.

Mutter und Großmutter saßen nämlich höchst vergnügt am Tisch und machten die fröhlichsten Gesichter, die man sich denken konnte, und vor ihnen lag ein ordentliches Häufchen Geld . . . mehr 115 als genug, um die Feuerversicherung zu bezahlen . . .

Das überschlug ich sofort, und ich stotterte in einem tödlichen Schrecken: »Woher habt Ihr denn auf einmal so viel Geld?« Und ich hörte, daß ihnen ganz unerwartet eine Obstrechnung bezahlt worden sei, und die Mutter stand auf und sagte: »Nun will ich aber sofort ins Neue Dorf und den alten Zettel bezahlen.«

Ich war wie zerschmettert. Was nun? Mein ganzes Sinnen und Quälen, meine Selbstüberwindung, meine Hilfsbereitschaft, mein Zittern und Zagen im Nachbarhause, meine Freude, der Großmutter aus tiefer Not geholfen zu haben, diese ersehnte grenzenlose Genugtuung der Mutter gegenüber . . . alles war nun dahin . . . war wie eine Seifenblase in der Luft zerplatzt . . . Ach und nicht nur das!

Gleich einer heißen Woge jagte ein neuer Schrecken über mich hin. Nun mochte der liebe Gott mir helfen, denn der Abraham, mit dem wir doch so verfeindet waren, konnte jeden Augenblick in die Stube treten, und nun brauchte man ja seine Hilfe gar nicht mehr!

Was ich vorher nicht überlegt hatte, die geradezu furchtbar peinliche Lage, in die ich Mutter und Großmutter durch meinen Gang ins Nachbarhaus und durch meine Bekenntnisse dort gebracht hatte, war mir mit einem Male sonnenklar. Ich 116 wußte vor Verwirrung nicht, was anfangen. Ich stand vor mir selber wie am Pranger und verharrte lange stumm und regungslos mitten in der Stube.

Es dauerte nicht lange, so kam das Verhängnis auch wirklich heran. Es polterte draußen die Treppe herauf, es stapfte mit dröhnenden Schritten über den Flur und klopfte gewaltig an . . .

Die Mutter, die eben im Begriffe war auszugehen, machte die Türe auf, stutzte und prallte zurück.

Der Abraham trat über die Schwelle. Wie die Begrüßung ausfiel, oder was sonst zwischen den verfeindeten Nachbarn geschah, ist mir entfallen. Ich weiß nur, daß es mir nicht anders war, als ob der Boden unter mir in Flammen stünde.

Ich sauste an dem alten Mann vorbei zur Türe hinaus in die Küche. Dort blieb ich mit klopfendem Herzen stehen und betete wie sinnlos: »Lieber, lieber Gott! Mach bloß alles wieder zurecht!«

Verzweifelt horchte ich nach der Stube hin, aber ich hörte nichts als ein verworrenes Durcheinander von Stimmen. Nach einer Weile jedoch ging die Türe auf. Ich fuhr entsetzt zusammen. Es war die Mutter.

Sie kam in die Küche, und eine seltsame Szene spielte sich in den folgenden paar Sekunden zwischen ihr und mir ab. Sie sah mich an . . . und ich 117 sah sie an . . . und ein beredtes Schweigen war um uns . . . Alles war offenbar! Und alles war mehr als peinlich, denn der Blick der Mutter war immer noch auf mich gerichtet, bohrend, groß und fast mitleidig. Lieber Gott! Wie lange dauerte das wohl noch? Ich hatte kaum die Kraft, mich auf den Füßen zu halten. Da endlich . . . endlich eine Bewegung drüben. Die Mutter schüttelte den Kopf und sagte ganz langgezogen wie aus einem grenzenlosen Staunen heraus: »Bist du ein Unschuldslamm . . .« Weiter nichts. Dann ging sie die Treppe hinunter und zum Hause hinaus.

Gott sei Dank! Ich atmete tief. Der erste Schrecken war vorbei.

Wieder horchte ich nach der Stube hin. Der Abraham war ja nun wohl allein bei der Großmutter. Was die nur miteinander sprechen mochten?

Nach einer ziemlichen Weile aber ging die Türe wieder auf. Der Abraham und hinter ihm die Großmutter traten heraus.

Als der Abraham auf der Treppe stand, rief ihm die Großmutter nach: »Also morgen wollt Ihr schlachten? Wenn Ihr etwa den Hackstock und das Fleischmesser braucht, so kommt nur und holt es.«

»Vergelt's Gott und nichts für ungut!« klang es zurück, und die Großmutter trat in die Küche ein. 118

Das war der zweite Schrecken. Sie sah mich ebenfalls sehr lange und sehr seltsam an, und dann packte sie mich an den Schultern, drehte mich gegen das Licht und sagte: »Kind! Kind! Was dir nicht alles einfällt!« Aber weiter brachte auch sie nichts vor, sondern ließ mich stehen und ging an die Arbeit.

Und so war denn alles seinen eigenen höchst merkwürdigen Weg gegangen. Das, was ich mit hilfsbereitem Herzen hatte tun wollen, war »Schall und Rauch« gewesen, und das, woran ich gar nicht gedacht hatte, war wie eine Blüte aufgegangen. Zwischen den beiden Nachbarsfamilien herrschte wieder Frieden und Eintracht.

Am Abend des folgenden Tages schickten sie uns einen großen Teller voll Bratwurst hinüber, und die Großmutter, die gerade mit dem Backen für Weihnachten zu Ende war, quittierte mit einem mächtigen »Eierzopf«.

Ja, es war wirklich eine Lust, in dieser neuen Atmosphäre voll gegenseitiger Zuvorkommenheit und Freundlichkeit zu leben.

Das ging so ungefähr vierzehn Tage lang. Dann wurde der Abraham plötzlich krank. Die Großmutter ging öfter ins Nachbarhaus hinüber, brachte dieses und jenes hin, und erzählte jedesmal ernst, es ginge dem Kranken sehr schlecht, er habe eine schwere Lungenentzündung.

Es war kurz vor Weihnachten, als ich mitten 119 in der Nacht aufschreckte und wach wie am hellen Tage war. Ein seltsames Geräusch hatte mich geweckt.

Dicht an der Wand unserer Schlafstube führte im Nachbarhause eine Treppe in den untern Stock. Auf dieser Treppe wurde geschoben, gestoßen, geschleppt, gerutscht, leise gesprochen und dann wieder geschoben und geschleift. Es war gruselig, das so in stockdunkler Nacht mitanzuhören, ohne zu wissen, was es bedeutete. Was mochte es nur sein? Räuber? Gespenster? Ich richtete mich kerzengerade im Bette auf und schrie: »Mutter! Hörst du nichts? . . . Was ist es?«

Da flüsterte die Mutter: »Sei ganz, ganz still! Der Abraham ist gestorben, und sie schaffen die Leiche in die Wohnstube hinunter.«

Es war wirklich so, wie die Mutter es gesagt hatte. Der Abraham war gestorben, und an einem Wintertag mit argem Schneegestöber wurde er begraben. Die Großmutter und die Mutter gingen zum Begräbnis und kamen sehr still und ernst nach Hause.

Am Abend dieses Tages waren wir noch in der Stube beisammen. Ich saß am Tisch und machte Schularbeiten. Die Mutter strickte, und die Großmutter spann, und die beiden sprachen miteinander über die Nachbarn, auch daß sie ihnen morgen ein Dutzend frische Eier hinüberschicken wollten.

Dann schwiegen sie lange. Nur das Spinnrad 120 surrte, und hin und wieder schlugen die Stricknadeln der Mutter klirrend zusammen.

Auf einmal aber sprachen sie wieder, und zwar ganz leise. Wahrscheinlich sollte ich es nicht hören, aber ich verstand doch jedes Wort, und das war gut. Denn nur dadurch ist es gekommen, daß diese kleine Begebenheit heute noch wie eine freundliche Blume im Wundergärtlein der Erinnerung blüht.

Die Großmutter sagte nämlich: »Weißt du, Anna, es war doch sehr gut, daß das Kind damals hinübergegangen ist. So hat man sich wenigstens noch ausgesöhnt . . . wirklich, es war wie ein Fingerzeig von oben.«

Eine lange Pause folgte, und dann kam es eigen bewegt, fast nur so hingehaucht von Großmutters Lippen: »Denn niemand weiß, wie bald seine Stunde kommt . . .« 121

 


 


 << zurück weiter >>