Ina Jens
Rosmarin
Ina Jens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Weihnacht.

Wenn auch in unserm Hause kein Christbaum angezündet wurde und keine Seele an gegenseitiges Beschenken dachte, habe ich doch immer den Zauber der Weihnachtszeit in seiner ganzen Tiefe und Schönheit genossen.

Das Lieblichste an diesem Zauber war die Vorfreude, die sich beinahe über den ganzen Christmonat hinzog, begann sie doch immer glücklich schon am ersten Sonntagabend im Dezember. Das war nämlich die Zeit, wo der Schülerchor der obern Klassen, einem alten Brauche folgend, abends durch die Dorfstraßen zog und an bestimmten Plätzen Weihnachtslieder sang.

Was bei diesem Singen nicht wenig zur Weckung der weihnachtlichen Stimmung beitrug, waren die merkwürdigen, zylinderförmigen Laternen, welche die Knaben bei der Gelegenheit auf den Köpfen trugen.

Diese Laternen waren aus Karton verfertigt, aus denen man allerlei Figuren, wie Sonnen, Monde, Sterne, Kometen, Ringe und Kreuze herausgeschnitten hatte und die mit buntem Seidenpapier verklebt waren. Innen befand sich eine Vorrichtung zum Aufstellen einer Kerze, und 26 wenn diese brannte, leuchteten die Figuren weithin. Die Laternen sahen dann wie Kronen aus und erinnerten mich immer an die Könige aus dem Morgenlande. Schön und geheimnisvoll erschien mir alles, wenn ich den Zug der dunklen Gestalten mit den schimmernden Laternen von weitem durch die Nacht daherkommen sah, und der dreistimmige Gesang so lieblich durch die winterlich weiße Dunkelheit klang.

Obwohl vom Dache unseres Hauses die Eiszapfen wie lange Stöcke herunterhingen, obwohl an den Fenstern die üppigsten Eisblumen prangten und schneidend kalte Luft von den Bergen wehte, stand vor meiner Seele beim Hören dieser Weihnachtslieder immer ein ganz sommerliches Bild, das mich mit Andacht erfüllte. Ich sah eine weite, grüne Wiese, ringsum Wald, eine Herde Schafe, Hirten in blauen und roten Gewändern, in einer Ecke die Krippe mit dem Jesuskind und Maria und Josef daneben, und am dunklen Firmament einen einzigen, großen Stern. Das war der Weihnachtsstern.

Der zweite Anlaß zur christfestlichen Vorfreude war weniger poetischer als prosaischer Art, denn er hatte mit der Seele gar nichts, wohl aber mit dem Magen viel zu tun und betraf das Backen unseres köstlichen Birnbrotes.

Die Vorbereitungen dazu dehnten sich geradezu herrlich lange aus, erstreckten sie sich doch oft über 27 eine ganze Woche hin und wurden abends in denkbar gemütlichstem Beisammensein getroffen. So um acht Uhr brachte die Großmutter noch eine klirrend trockene Faschine zum Heizen. Dann wurde die Lampe auf den Ofen gestellt. Wir saßen rund herum und verrichteten die allerkurzweiligste Arbeit, die ich mir vorstellen konnte. Da wurden Hunderte von Nüssen aufgeklopft, Gewürz gemahlen, große und kleine Rosinen gewaschen und getrocknet, unzählige Birnen in papierdünne Scheibchen zerschnitten und alles schön gesondert in großen Schüsseln aufbewahrt.

Sobald es der Großmutter gelang, am dörflichen Backofen, bei dem es zur Weihnachtszeit wie in einem Taubenschlag zuging, einen Platz zu erobern, wurden am Abend vorher alle vorbereiteten Herrlichkeiten zusammen in große Eimer geschüttet und ordentlich mit Schnaps begossen, damit alles schön »ziehe« und »feucht« bleibe. In der allerersten Frühe des Morgens aber wurde der Teig zurecht gemacht, und dann zog man zu irgendeiner festgesetzten Stunde damit zum Backofen, wo eine Bäckerin Teig, Birnen, Nüsse, Rosinen und Gewürz kunstgerecht zusammenknetete und daraus große, viereckige Brote formte. Auf die Oberseite drückte sie mit einer Gabel noch allerlei Figuren hinein, und mit einem breiten Pinsel strich sie geschlagenes Eigelb über das Brot, damit es »glänze«. 28

Wenn dieses Brot fix und fertig gebacken wieder im Hause war, so duftete es schon auf der Treppe so lieblich, daß man gern an alle Wunder der Weihnachtszeit glaubte.

Die dritte Ursache aber, die mich zur Weihnachtszeit wie in einem Märchenlande herumwandern ließ, war die für das ganze Dorf gemeinsame Feier in der Kirche.

Am vierundzwanzigsten Dezember, abends um sechs Uhr, zogen wir Kinder durch die stockdunklen Straßen in die Schule, um uns dort für den Kirchgang zu versammeln und aufzustellen. Schon das war wunderlich genug, in der Nacht, ohne Bücher, mit Jacken und Handschuhen bei Lampenschein im Klassenzimmer zu sitzen. Dann erschien der Lehrer in Mantel und Hut und sah ganz feierlich aus, und dann ging's klassenweise geordnet durch den Schnee in die Kirche.

Das Hineingehen in den hellen Kirchenraum war für mich wie das Einziehen in den Himmel selbst, standen doch in der Mitte der hohen Hallen drei riesengroße Tannenbäume, an denen zahllose weiße Kerzen brannten, und das war ein Flimmern und Schimmern und Duften, daß sich einem nur so von selbst die Hände zum Beten falteten. Mit andächtigem Staunen wanderten wir zwischen der versammelten Gemeinde hindurch bis zu der Orgel hinter den funkelnden Bäumen. Der Weihnachtspredigt unseres Pfarrers folgten Lieder 29 von den verschiedenen Klassen vorgetragen und Schülerdeklamationen.

Dann aber kam etwas ganz besonders Schönes, nämlich das Beschenken der gesamten Schuljugend, und es war da kein Unterschied, sondern arm und reich erhielt dasselbe, wie auch der Heiland die frohe Botschaft von der Liebe einst allen Menschen, armen und reichen, zu gleichem Heile gebracht hatte.

Links und rechts von den Bäumen standen gewaltige Körbe und neben ihnen freundliche Frauen, von denen stets drei uns etwas in die Hände legten: die eine etwas Nützliches, die zweite etwas zum Lesen und die dritte eine Tüte mit Gebäck.

Mit solchen Herrlichkeiten bin ich jahrelang am Weihnachtsabend durch die kalte Winternacht nach Hause gegangen und bin wunsch- und sorglos und glücklich gewesen, wie nur ein anspruchsloses Kind es sein kann.

Mit diesem Abend war aber auch immer Weihnachten für mich zu Ende. Der Weihnachtstag gehörte mehr den Reichen. Das wußte ich, denn diese und jene Freundin erzählte mir, daß sie am Abend zu Hause einen Weihnachtsbaum anzündeten, daß der St. Niklaus komme und sie beschenke, aber das ließ mich ganz kalt.

Wenn man nahezu drei Wochen lang Vorfreude genossen und schließlich so selige 30 Weihnachten mit dem ganzen Dorf in der Kirche gefeiert hatte, so war das für ein Kinderherz reichlich genug.

Aber einmal war auch für mich ein Weihnachtstag da, der alles Erträumte und Erlebte weit überstieg, und zwar so turmhoch, für meine Begriffe so erdenfern schön, daß ich das kleine Geschehen hier mit ein paar Worten festhalten möchte.

Es war zur Dämmerzeit an einem eiskalten Dezembertag. Auf den Straßen hatte man die Laternen noch nicht angezündet, aber in den Häusern brannten schon überall die Lampen.

Ich befand mich vor unserm Hause an dem großen Brunnen, der halb zugefroren war und aus dessen beiden vereisten Röhren nur ein ganz schwacher Wasserstrahl floß. Unter den Röhren standen unsere zwei großen Kupfereimer und wollten und wollten sich nicht füllen, so spärlich lief das Wasser. Ich sollte aufpassen, bis die Eimer voll waren und dann die Mutter rufen.

Da stand plötzlich im Halbdunkel wie aus dem Boden gewachsen ein junger Mann vor mir. Er trug einen langen Mantel, einen Schal um den Hals und einen großen, schwarzen Hut. Sein Gesicht war bleich, und mir schien es traurig. Er blickte sich erst scheu nach allen Seiten um. Dann fragte er mich leise und hastig: »Kennst du die Häuser im Winkel?« Ich antwortete: »Ja . . . die meisten.«

»Weißt du, wo Schäublis wohnen?« 31

Ich fragte: »Die alte Frau und der alte Mann, die einen Sohn im Gefängnis haben?«

Der Mann nickte und sagte: »Willst du einmal zeigen, wie du laufen kannst und der Frau Schäubli diesen Brief bringen?« Ich nickte, und er hastete weiter: »Dann mußt du aber einen Augenblick warten, denn man wird dir eine Antwort geben. Nur ja oder nein. Wenn man dir ja sagt, bekommst du etwas.«

Ich blickte auf die beiden Eimer, die halb voll waren, und sagte: »Wenn du die Eimer auf den Boden stellen willst, so bald sie voll sind, laufe ich hin, sonst nicht.«

»Ja, ja,« drängte er und schob mich vorwärts, »ich bleibe hier stehen, bis du kommst.«

Da rannte ich auf der hartgefrorenen dunklen Straße so schnell ich konnte dahin. Der Winkel lag hinter der Kirche, und Schäublis wohnten gleich im ersten Haus. Es war ein kleines, weißes Haus mit zwei Fenstern in der Front und schönen, grünen Läden.

Ich schlug mit dem Klöppel ein paarmal gegen die Tür. Die alte Frau Schäubli machte mir selber auf und hieß mich hereinkommen. Ich reichte ihr den Brief und sagte: »Den soll ich Euch geben und gleich auf die Antwort warten. Ich muß aber sehr schnell wieder weg.«

Die Frau nahm den Brief und ging damit in die Stube. Ich sah, wie sie ihn im Scheine des 32 Lampe las. Das Papier zitterte in ihrer Hand, und sie setzte sich auf einen Stuhl. Dann aber stand sie wieder auf und machte die Tür vor mir zu, so daß ich wie eingesperrt auf dem stockdunklen, fremden Flur stand.

Plötzlich hörte ich drinnen den alten Schäubli sprechen. Er war wütend, denn er schlug auf den Tisch und sprach in zornigem Ton. Die Frau aber schien zu weinen und um etwas bitten.

Ich verstand nichts und war nur gespannt, ob man ja oder nein sagen würde. Nach einer Weile wurde es in der Stube still. Die Tür ging auf, und Frau Schäubli kam heraus. Sie wischte sich über die Augen und fragte ganz leise: »Wo ist der Mann, der dir den Brief gegeben hat?« Und ich antwortete: »Am Brunnen vor unserm Hause.« Da nahm sie meine Hand, streichelte sie und sagte: »Erzähle bitte niemand von dem Brief, mein Kind, und dem Mann sage ja. Willst du?«

Ich nickte und eilte davon. Als ich an den Brunnen kam, lief das Wasser über den Rand der beiden Eimer, aber der Mann war nicht da. Ich wollte ins Haus hinein und die Mutter rufen. Da trat er aus dem Dunkel unseres Hofes vor mich und fragte: »Hast du Antwort?« Und ich erwiderte: »Die Frau sagte ja.«

Da drückte er mir mit den Worten: »Ich danke dir!« etwas in die Hand und verschwand wie ein Schatten. 33

Was ich da zwischen meinen Fingern hielt, war klein und hart. Ich lief in die Küche, und als niemand in meiner Nähe war, machte ich die Hand auf und besah mir das Ding. Es war ein richtiger halber Franken und somit das allererstemal, daß ich eigenes Geld in der Hand hielt, Geld, das wirklich mir gehörte, denn meine Mutter nahm mir aus Prinzip jeden Fünfer weg, der mir etwa von Rechts wegen zukam.

Ob es nun der leise Ton war, in dem die Menschen da vorhin zu mir gesprochen hatten und der mir das Geschehen so geheimnisvoll machte, ob es die Bitte der alten Frau Schäubli oder nur wegen des halben Frankens war, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls behielt ich das Erlebnis für mich

Als ich am Abend zu Bette ging, nahm ich mein Taschentuch, wickelte das Geldstück in einen Zipfel, drehte es mehrmals um und um und verknüpfte es doppelt und dreifach. Dann schob ich es unter die Matratze, kroch unter die Decke und dachte nach.

Das wollte ich mir denn doch richtig überlegen, wie dieser halbe Franken möglichst ausgiebig ausgekostet werden konnte. Vor allem gedachte ich mit ihm das zu tun, was mir allein am allermeisten gefiel.

Mein angestrengtes Nachdenken führte aber zu keinem lobenswerten Entschluß, denn statt daß ich daran dachte, das Geld mit irgendeiner armen 34 Freundin zu teilen oder es zu sparen, nahm ich mir vor, am Weihnachtstag für zwanzig Rappen Kandiszucker, für zwanzig Rappen Malzbonbons und für zehn Rappen eine Studentenschnitte zu kaufen. Hei, sollte das ein feiner Weihnachtstag werden!

Als ich am andern Morgen aufwachte, galt mein erster Gedanke dem halben Franken unter der Matratze. Ich zog das Taschentuch hervor und hielt es mit beiden Händen unter der Decke fest.

Schwere Sorgen stiegen in mir auf. Wo konnte ich das Geld am sichersten vor den Augen der Mutter verbergen? Im Nachttisch? In der Schulmappe? In den Schuhen? In einer Wandritze? Die größten Bedenken gegen diese Verstecke stiegen in mir auf. Nirgends schien mir der halbe Franken sicher zu sein.

Plötzlich aber hatte ich es doch gefunden, und mir wurde leicht und frei. Ich stand auf, kleidete mich an, trank den Kaffee, nahm die Schulmappe und ging ziemlich früh aus dem Haus, aber nicht etwa in die Schule, sondern ich jagte hinter unsern Stall, wo ein großer, ganz verschneiter Holunderbaum stand. Dort begann ich mit fieberhafter Eile mit Händen und Füßen zu arbeiten. Zuerst flog der Schnee wie Staub um mich herum, dann scharrte und grub ich mit den Hacken ein tiefes Loch in die Erde, legte mit klopfendem Herzen 35 den halben Franken hinein, schob und stampfte in aller Hast wieder Erde und Schnee darüber und rannte wie gehetzt in die Schule.

Nun besaß ich einen vergrabenen Schatz im Baumgarten und ein großes Geheimnis im Herzen. Dazu kam noch die freudige Erwartung des Weihnachtsfestes und das Lernen eines Gedichtes, das ich in der Kirche aufsagen sollte. Meine Gedanken waren also mit den aufregendsten Dingen erfüllt.

Das Gedicht war durchaus keine Nebensache. Ich lernte zwar schnell, aber ich vergaß auch schnell, und in fremder Umgebung war mein Gedächtnis nicht zuverlässig. Die Großmutter, die das wußte, gab sich alle erdenkliche Mühe. Sie ließ mich das Gedicht bei jeder Gelegenheit wiederholen, und ich konnte es beinahe im Schlaf hersagen.

Da geschah es, daß mir eines Tages ein anderes Weihnachtsgedicht in die Hände kam, das mir viel besser gefiel als jenes, das mir der Lehrer zum Aufsagen gegeben hatte, und ich lernte es aus lauter Freude über die schönen Bilder, die es in mir erweckte, ebenfalls auswendig. Es kamen da Wörter darin vor, die wie Weihnachtsglocken klangen, und die ich mir zehnmal hintereinander mit dem gleichen Entzücken vorsagen konnte. Besonders den Anfang des Gedichtes fand ich einzig schön und wurde nicht müde, ihn immer wieder zu deklamieren. Er lautete: 36

»Ahnend sitzen dort beisammen
Hirten auf Isais Flur.
Droben leuchten Sternenflammen
mild am himmlischen Azur.«

Warum meine Kinderseele diese Verse so herrlich fand, ist mir heute nicht mehr gegenwärtig, aber das weiß ich noch, daß sie mich stündlich bis zum Weihnachtsabend wie eine andauernd klingende Musik begleiteten.

Am Nachmittag des 24. Dezember so um die Kaffeezeit herum fuhr ich auf der Bergstraße hinter unserm Hause Schlittschuh. Ich benahm mich in der Ausübung dieses Vergnügens weder ängstlich noch vorsichtig, sondern fuhr wild den Abhang hinunter, ohne jeden Gedanken an eine Gefahr. Je schneller, desto besser!

Wie ich nun so um eine Wegbiegung sauste, daß mir der scharfe Wind den Atem benahm und das Wasser in die Augen trieb, kam mir das Liseli Brunner, eine arme Freundin aus einem Nachbardorf, entgegen.

In der Freude des Wiedersehens und auch im Unvermögen ihr auszuweichen, jagte ich mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und umfaßte sie mit einem lauten Jubelschrei. Wir drehten uns zweimal herum und fielen der Länge nach in den Schnee.

Ich richtete mich lachend auf und wollte etwas sagen, aber die Worte erstarben mir auf den 37 Lippen, denn das Liseli weinte geradezu fürchterlich. Neben ihr lag eine offene Kanne, aus der sich die schönste Milch in einem langen Bächlein über den Schnee ergoß.

Ich war sehr erschrocken, schraubte sofort meine Schlittschuhe ab und half ihr aufstehen. Sie schluchzte wie in einem Krampfe und jammerte dabei: »O, ich darf nicht ohne Milch nach Hause. Das ist die erste Milch, die wir in diesem Monat gekauft haben, und die Mutter wollte heute abend ein wenig Eierkuchen backen, und wir wollten Kaffee mit Milch trinken . . . o . . . ich darf ja so nicht heimkommen . . .«

Ich sah vollständig ratlos auf meine weinende Freundin. Mit einem Male aber schoß ein rettender Gedanke in mir auf. Wozu hatte man einen Schatz in der Erde vergraben! So eine Kanne voll Milch konnte doch nicht mehr als einen halben Franken kosten! Und helfen mußte ich ihr. Das war nur recht und billig, denn ich trug wirklich ganz allein die Schuld an diesem Unglück.

»Wo hast du die Milch gekauft?« fragte ich rasch.

»Beim alten We – – ber – –« schluchzte sie.

»Hat er wohl noch mehr?«

»Ich wei – ei – ei – ß nicht. Ich habe ja auch kein Geld, um andere Milch zu kaufen.«

Da trat ich ganz nahe an sie heran und sagte 38 leise: »Ich werde dir helfen, aber du darfst es niemand erzählen. Komm . . .!«

Sie zögerte, aber ich flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe Geld in der Erde vergraben, und niemand weiß es.«

Halb widerwillig trottete sie daraufhin hinter mir her, stieg mit mir über einen Zaun und stapfte durch den Schnee bis unter den Holunderbaum.

Dort sagte ich ganz leise: »Hier ist ein halber Franken vergraben. Den hole ich jetzt heraus, und dann laufen wir schnell zum Weber und kaufen neue Milch.«

Sie stand regungslos unter dem verschneiten Baum, und die Tränen liefen ihr andauernd über das Gesicht, während ich wie eine Verzweifelte erst im Schnee und dann in der Erde wühlte. Mit den Füßen schlug ich große Klumpen weg, und mit den Händen holte ich Erde um Erde heraus, suchte und suchte, grub und grub . . . aber den halben Franken fand ich zu meinem größten Schrecken und Schmerz nicht mehr.

Sei es nun, daß das Silberstück sich boshaft in irgendeinem Erdklümpchen versteckt hielt, sei es, daß jemand mich damals beim Eingraben beobachtet hatte und mir zuvorgekommen war, sei es gar, daß ich an einer verkehrten Stelle grub . . ., kurz und gut, mein halber Franken war spurlos verschwunden. 39

Mit zitternden Lippen gestand ich dem Liseli meinen schweren Verlust, und nun fing es noch jämmerlicher an zu weinen.

Da reinigte ich mir Hände und Schuhe im Schnee und sagte niedergeschlagen und kleinlaut: »Komm, Liseli! Wir wollen zur Großmutter und es ihr sagen. Sie hilft immer, wenn sie kann.«

Willenlos ging sie mit mir ins Haus. Die erste, der wir mit unserm Leid in den Weg liefen, war die Mutter. Als sie von dem durch mich verursachten Schaden erfuhr, sagte sie recht unwillig: »Du bist wirklich ein Kind, das in seinem ganzen Leben keine Vorsicht lernen wird.«

Aber die Großmutter, die gerade hinzukam, meinte begütigend: »Das Schimpfen nützt ja nun leider nichts mehr. Die Milch ist hin, und das arme Kind kann so nicht nach Hause geschickt werden.« Dann nahm sie dem Liseli die Kanne ab und goß dieselbe mit unserer eigenen Milch voll, tröstete noch ein wenig und ermahnte es, ja recht langsam und ordentlich heimzugehen. Das Liseli trocknete sich das nasse Gesicht mit der Schürze ab, dankte und stieg ganz zufrieden mit der wieder voll gewordenen Kanne die Treppe hinunter.

Als meine Freundin weg war, kam eine dumpfe Bedrücktheit wegen des verschwundenen halben Frankens über mich, aber die Erwartung der bevorstehenden Christfeier überwog doch. 40

Am Abend war auf dem Wege zur Kirche das Ungemach des Tages sogar ganz vergessen. Vor der Kirchentür fragte mich der Lehrer, ob ich auch meines Gedichtes sicher sei, und ich bejahte mit freudiger Zuversicht. Dann schritten wir paarweise zur Orgel hin und stellten uns hinter den flimmernden Tannenbaum auf. Lied um Lied wurde gesungen und dazwischen ein Gedicht nach dem andern von den großen Schülern aufgesagt.

Ich stand zitternd vor Aufregung dicht hinter dem Lehrer. Plötzlich drehte sich dieser um, hob mich auf eine Bank und sagte: »Nun kommst du daran! . . . Ja . . . Jetzt!«

Ich sah in das Meer der brennenden Kerzen hinein und begann:

»Endlich wiederum gekommen
bist du traute, heil'ge Nacht.
Sei uns tausendmal willkommen
in der ewig neuen Pracht . . .«

Mein Blick glitt an dem mittlern Baum, welcher der größte war, empor und blieb staunend in der Höhe unter der Deckenwölbung an einem glänzenden Stern haften . . . Weihnachtsstern über Bethlehem, Tannengrün, Hirten auf dunkler Wiese . . . Josef und Maria an der Krippe . . . alles tauchte in berückender Schönheit vor mir auf. Hinter mir flüsterte jemand:

»O, wie sehnten sich die Herzen . . .« 41

Ich aber deklamierte in Andacht versunken mit bebender Stimme:

»Ahnend sitzen dort beisammen
Hirten auf Isais Flur . . .«

Da bekam ich einen derartigen Schubs in den Rücken, daß ich fast nach vorn überfiel, und der Lehrer zischte ärgerlich an meinem Ohr:

»O wie sehnten sich die Herzen
nach des Baumes Weihrauchduft . . .«

Es nützte nichts. Ich ließ mich nicht beirren und beberte voller Inbrunst weiter:

»Droben leuchten Sternenflammen
mild am himmlischen Azur . . .«

Weiter kam ich aber nicht mehr, denn nun packten mich zwei Hände und stellten mich im Schwunge auf den Boden. An meinem Platze aber stand meine Freundin und sagte unerschrocken und laut ihr Sprüchlein her. Der Lehrer flüsterte ihr rühmend zu: »Sehr brav, Gretli«, während er mich an dem Abend keines Blickes mehr würdigte.

Ich saß unter den andern Kindern und war in gleicher Weise beschämt und betrübt. Das Schrecklichste war, daß die Schüler der obern Klassen immer wieder zu mir blickten und höhnisch grinsten. Aber allzulange dauerte auch diese Qual nicht, denn nun folgte die Bescherung, der 42 sich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Kinder zuwandte.

Wir erhielten unsere vorgeschriebenen drei Paketchen, und ich wanderte mit ihnen heimwärts. Wie ich so mutterseelenallein durch die Winternacht dem Alten Dorf zusteuerte, wurden plötzlich allerlei Ueberlegungen in mir wach. Eigentlich hatte ich mich vorhin doch schrecklich blamiert! Was wohl die Mutter dazu sagen würde? O, und die Großmutter! Sie war sicher entsetzlich traurig! War das ein Unglück! Ach und gerade am Weihnachtsabend, wo es sonst so gemütlich im Hause war. Und nun diese Schande!

De- und wehmütig schlich ich ins Haus und die Treppe hinauf. Die Großmutter war in der Küche. Ich trat neben sie hin und sagte leise: »Großmutter, ich habe mich verhapert . . . Es tut mir so leid.«

Sie sah mich an, lächelte sogar ein wenig und meinte: »Wie kam denn das? Du konntest das Gedicht doch so gut.«

Ich wußte nichts zu antworten, und sie sagte: »Wenn du größer bist, wirst du es einmal besser machen, nicht wahr?«

Die tröstenden Worte und der milde Ton, überhaupt diese ganze Güte wirkten auf mich wie der Tropfen, der ein volles Glas zum Ueberlaufen bringt. Ich legte meine beiden Arme um die Großmutter und weinte mein grenzenloses Weh 43 an ihrem Rockärmel aus. Die Mutter, die eben auch in die Küche kam, wohnte dieser rührseligen Szene mit Schweigen bei.

Die unerwartete Ruhe meiner Mutter, die Trostworte der Großmutter und der reichlich vergossene Tränenstrom erleichterten mich wohltuend, und schließlich ging ich ganz beruhigt in die Stube und breitete meine erhaltenen Geschenke auf dem Tische aus: Ein leuchtend gelber Federkasten, den man mit einem Schlüsselchen auf- und zuschließen konnte, zwei grüne Bleistifte, ein roter Federhalter, dazu ein Büchschen mit zwei Röselifedern, ein Lineal mit bunten Seiten, ein Geschichtenbüchlein vom Verein für Verbreitung guter Schriften und eine Tüte mit vier Butter-S und zwei Totenbeinchen.

Die Großmutter besah sich alles, und dann sagte sie so nebenbei: »Ob es wohl heute auch Kinder gibt, die gar nichts geschenkt bekommen?«

Ich dachte nach und antwortete: »Das Liseli Brunner kriegt sicher nichts. In seinem Dorf werden die Kinder ja nicht beschenkt.«

»Dann könntest du ihm vielleicht morgen ein Birnbrot bringen.«

»O ja«, jubelte ich. Der Weg zum Liseli hinauf war sehr schön, und ich machte ihn gern.

Die Großmutter war aber noch nicht zu Ende. »Das Birnbrot wird ihm gewiß willkommen sein,« fuhr sie fort, »aber das ißt die große Familie wie 44 einen einzigen Happen auf. Ob das Liseli sich über solche Sachen, wie du sie da bekommen hast, nicht vielleicht noch mehr freuen würde?«

Ich sah die Großmutter an und erschrak ein wenig, denn ich wußte sofort, was nun unabweislich folgte. Ja, ich wußte, daß man immer von jeder Freude etwas an einen ärmern Mitmenschen abgeben mußte, und zwar stets in der Form, wie sie dem andern am liebsten war, ohne sich selber dabei zu schonen.

Ich sah mir also ein wenig bedrückt meine Sachen der Reihe nach an und überlegte: Von dem Kuchen brauchte ich nichts abzugeben. Die Großmutter schenkte den Brunners ja ein Birnbrot. Das hübsche Büchlein durfte ich auch behalten, denn das Liseli konnte kaum lesen und hatte auch kranke Augen. Das Lineal . . . freilich, das war schön, aber das war doch zum Schenken zu wenig. Es blieb also nur noch der Federkasten. Ich sah ihn mir genau an und fand ihn, je länger ich ihn beäugelte, um so herrlicher. Besonders von dem lieblichen Frühlingsbild auf dem Deckel, von dem Teich, dem blühenden Baume, den spielenden Kindern und den schwimmenden Enten konnte ich meine Blicke nicht losreißen. Und dann das zierliche Schlüsselchen! Der Kasten gefiel mir immer besser, und ich brachte es vorläufig nicht übers Herz, den großen Entschluß zu fassen, ihn zu verschenken. 45

Recht zwiespältigen Sinnes und Herzens ging ich zu Bett. Da hörte ich plötzlich, wie die Mutter und die Großmutter nebenan über mich sprachen. Ich setzte mich hin und horchte. Die Mutter sagte: »Du siehst, ich habe hundertmal recht gehabt. Ich habe es immer behauptet, und ich behaupte es auch weiter. Die Maja ist ein richtig dummes Kind. Sonst wäre das heute mit dem Gedicht nicht passiert.«

Mir war es, als ob mir jemand den Hals zuschnürte. Was wohl die Großmutter zu dieser Behauptung meinte? Sie war es doch gewesen, die sich die große Mühe gegeben hatte, mir das Gedicht beizubringen. Ach, es tat mir wieder furchtbar leid, daß ich ihr die Schande bereitet hatte.

Aber zu meiner großen Erleichterung hörte ich, wie sie erwiderte: »Ein Kind, das mit neun Jahren ein Gedicht von zehn Strophen in zwei Tagen lernt, ist nicht dumm. Und übrigens, es ging so schnell, du kannst es mir wirklich glauben, Anna, man hat es nicht einmal gemerkt.«

Diesen Worten folgte ein laut geseufztes »Ach« meiner Mutter, das mich zwar ein wenig bedrückte, aber die Rede der Großmutter hatte mir so wohl getan, daß ich auf einmal fest entschlossen war, morgen dem Liseli Brunner meinen schönen Federkasten zu schenken.

Am andern Tage stieg ich denn auch 46 wohlgemut mit einem großen, schweren Birnbrot und mit dem leuchtenden Federkasten samt Inhalt den Berg hinauf.

Ich freute mich schon im voraus auf die Freude, die das Liseli haben würde, wenn ich ihr die Geschenke brachte, aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn als ich bei der Hütte von Brunners ankam, sagte die Frau, die gerade vor der Tür stand, das Liseli sei schon am frühen Morgen ins Dorf gegangen, um im Hotel zu helfen. Ich gab mein Paket ab und trat recht traurig den Heimweg wieder an.

Es hatte mich eine solche Ueberwindung gekostet, mich von dem Federkasten zu trennen, und schließlich hatte ich mich so gefreut, dem Liseli etwas schenken zu können, und nun war auch daraus nichts geworden. Denn, dachte ich, wer wußte es, ob für das Liseli, das den ganzen Tag im Dorf arbeitete, noch etwas von dem Birnbrot übrig blieb! Und wer konnte mir sagen, ob man dem Liseli den Federkasten auch wirklich gab? Vielleicht bekam ihn gar der ältere Bruder, den ich »in den Tod« nicht leiden konnte.

Mit solchen Erwägungen trottelte ich langsam und trübselig bergab. Als ich die Höhe erreichte, von wo aus man das ganze Dorf in der Tiefe vor sich sah, blieb ich stehen und überlegte. Ein paar Minuten, ein paar Sprünge den Abhang hinunter und ich war zu Hause. Eigentlich hatte ich gar 47 keine Eile dahinzukommen! Was sollte ich der Großmutter sagen? Ich hatte das Liseli nicht einmal gesehen, und die Frau Brunner hatte auch so niedergeschlagen dreingeblickt.

Alles, alles ging verkehrt! Wie eine dunkle Wolke kam diese Einsicht über mich. Genau genommen war das doch eine ganz traurige Weihnacht gewesen. Der schöne, glänzende halbe Franken war weg. Man stelle sich das vor! Ein ganzer halber Franken! Das war eine Summe! Und dazu das erste Mal, daß ich im Besitz von Geld gewesen war! Und was für einen schönen Weihnachtsnachmittag hätte ich mir damit bereiten können! Und dann gestern abend die Blamage vor dem ganzen Dorf! Mein verhunztes Gedicht! Und was ich deswegen noch alles in der Schule würde hören müssen! Vom Lehrer, von den Mitschülern, von den Kindern der obern Klassen! O, und die schlechte Meinung, die meine Mutter von mir hatte! Für dumm . . . für richtig dumm hielt sie mich! Und zwar nicht erst jetzt, sondern immer schon, wie sie gestern gesagt hatte. Und von den paar geschenkten Weihnachtssachen hatte ich auch beinahe nichts mehr. Das Beste und Schönste hatte ich weggegeben. Was war ich doch für ein armes, armes Kind!

Die Erkenntnis meiner Armut lag zentnerschwer auf mir. Ich tat mir selber so leid, daß mir die Tränen in die Augen traten. Fast zu 48 Tode betrübt legte ich die letzte Strecke zum Dorf zurück.

Da sah ich plötzlich nicht weit von mir den Briefträger in der Richtung nach unserm Hause gehen. Er trug eine schön verpackte, große Weihnachtskiste. Ich beschleunigte meinen Schritt und ging dicht hinter ihm her.

Selbstverständlich war die Kiste nicht für uns, aber ich war neugierig, in welches Haus er sie tragen würde. Wer mochte der glückliche Empfänger sein?

Ich machte große Augen. Der Mann lenkte wahrhaftig seine Schritte direkt in unsern Hof hinein. Wahrscheinlich ging er links ins Nachbarhaus? . . . Nein! Er stieg die Treppe rechts hinauf. Die Weihnachtskiste kam also in unser Haus . . . zu unsern Mietsleuten im ersten Stock? . . .

Im Gegenteil! Nun klopfte mein Herz doch ein wenig rascher. Der Briefträger stampfte in den zweiten Stock zu uns hinauf. Ich jagte wie geflügelt hinter ihm drein. Es war wohl nur ein Brief für uns. Nein! . . . Mein Staunen wuchs ins grenzenlose. Er gab das Paket der Mutter. Sie schrieb etwas in ein Buch, und dann verschwand er ohne die Kiste wieder.

Ich schlich hinter der Mutter, der Großmutter und der wunderlichen Gabe in die Stube hinein.

Die Mutter stellte sie auf den Tisch und sagte zur Großmutter: »Von Glanz . . .«, und zu mir: 49 »Von deiner Patin.« Ach, also vielleicht gar etwas für mich! Das war mir nämlich in meinem Leben noch nie geschehen. Die Mutter nahm den Deckel und noch eine ganze Menge Papier weg, und dann . . . Ja . . . dann kamen Dinge zum Vorschein, die mir unsere Stube zum Königreich und mich zum seligsten Kinde der Welt machten.

Es wurde also da nacheinander folgendes herausgeholt: Zwölf Apfelsinen! Sie waren ganz klein, aber säuberlich in Seidenpapier gewickelt.

Eine Schachtel Datteln! Die Mutter sagte, das seien Früchte, und sie schmeckten fein.

Dann ein großes Ding aus weichem Stoff! . . . Eine Pelerine! . . . Nur die reichen Kinder besaßen solche, und ich hatte mir nicht einmal in den kühnsten Träumen eine zu wünschen gewagt. Ich stellte auch sofort fest, daß sie für mich wirklich viel zu fein war.

Und dann . . . zwei Paar Strümpfe! Nicht etwa selbstgestrickte, sondern weiche, gekaufte, schwarze Strümpfe. Ich hielt sie beseligt in meinen Händen, denn diese Strümpfe waren die Erfüllung jahrelanger, nie laut gewordener Sehnsucht. Ein einzigesmal nur gekaufte Strümpfe tragen und nicht ewig mit diesen schrecklichen, aus grauer Schafwolle von der Mutter gestrickten Röhren herumlaufen müssen! Wenn ich das hätte können! Und nun war das Ersehnte Wirklichkeit geworden! O du liebe Patin im fernen Oberland! 50

Es kamen aber noch mehr Sachen aus der Wunderkiste heraus. Ein breites, grünes Haarband! Eine feuerrote Aermelschürze und eine Tafel Schokolade! Grün und rot waren nun zwar nicht gerade meine Farben, aber ein Blick auf das himmelblaue Futter der Pelerine versöhnte mich mit allem.

Die Wonne meines Herzens war so groß, daß ich kaum wußte, wohin damit. Den ganzen Tag trug ich die Pelerine, und zwar immer mit der Innenseite nach außen, weil mir das Himmelblau so gut gefiel, und am Abend nahm ich alle Herrlichkeiten mit ins Bett. Die Apfelsinen, die Datteln und die Schokolade kamen auf den Nachttisch. Die Pelerine hing ich über die Stuhllehne. Die Schürze breitete ich über die Bettstelle aus, und die Strümpfe schob ich unter mein Kopfkissen. So schlief ich ein.

Das war wirklich »fröhliche, selige, gnadenbringende Weihnacht« gewesen! 51

 


 


 << zurück weiter >>