Ina Jens
Rosmarin
Ina Jens

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Nach Jerusalem.

Leider kann ich mich nicht rühmen, jemals in meinem Leben etwas hervorragend Gutes getan zu haben. Trotzdem lebt in meinem Herzen wie ein fern verklingender Glockenhall die Erinnerung an ein paar schöne Sommertage meines zwölften Lebensjahres, in denen ich wenigstens den ehrlichen Versuch machte, das Allerhöchste, was es etwa auf dieser Welt geben kann, zu erlangen.

Nämlich . . . ich wollte heilig werden. Zwar nicht ich allein! Der Gottesfunke war auch in das Herz meiner Freundin Stineli Heß gefallen.

Allerdings war der löbliche Vorsatz nicht wie ein göttlicher Quell aus einem Nichts in unsern Seelen aufgesprungen, sondern er verdankte seine Entstehung einem ganz wunderlichen Buche, das auch wieder auf ganz wunderlichem, ja sogar verbotenem Wege in unsere Hände gekommen war.

Ueber unserm Dorfe lag ein schwüler Sonntagnachmittag im Hochsommer. Am fernen Horizonte ballten sich gewaltige Wolken zusammen. Ein Gewitter war im Anzug.

Ich war beim Stineli Heß. Wir saßen auf einer Laube im dritten Stock und sahen aus schwindelnder Höhe bald über die Obstgärten und den 71 rauschenden Fluß hin, bald zu den Bergen hinauf, wo die dunkeln Wolkenmassen sich immer drohender zusammenzogen.

Das Stineli erzählte von einer sehr vornehmen Tante, die irgendwo in Italien lebte und die im vergangenen Jahre ein paar Wochen bei ihnen gewohnt hatte. Sie sagte, diese Tante besitze so feine Sachen wie eine Prinzessin. Man könne sich gar keinen Begriff davon machen, wenn man sie nicht gesehen habe, und das meiste davon sei in einer Kammer auf dem Estrich in zwei großen Koffern aufbewahrt.

Meine Phantasie stand sofort in hellen Flammen. Zwei verschlossene, fremde Koffer mit Herrlichkeiten, die man sich gar nicht vorstellen konnte! O, das interessierte mich mächtig.

Als das Stineli es merkte, sagte es leise: »Wollen wir einmal hinauf? Am Sonntag ist kein Mensch oben. Da können wir alles auskramen und es uns ansehen.«

Himmel! War das ein famoser Gedanke! Ich stimmte ihm mit drängender Hast bei.

Mit den nötigen Schlüsseln versehen, stiegen wir also heimlich auf den Estrich.

Auf diesem Boden, der sich über das ganze gewaltige Mietshaus hinzog, sah es wie in einem Labyrinth aus. Wir stolperten wie Blinde zwischen Balken und Sparren, zwischen aufgehängter Wäsche, Holzhaufen, Kisten und Körben hindurch. 72

Ganz am Ende, wo das Dach steil abfiel, öffnete das Stineli eine Tür, und wir traten in eine kleine dürftige Kammer. Darin befand sich ein Bett, und unter diesem lagen zwei mächtige, alte Lederkoffer.

Das Stineli schloß vorsichtig hinter uns ab, schob dann eine kleine Holzplatte an der Wand zurück, und sofort erfüllte ein mystisches Halbdunkel den Raum, was vorzüglich zu unserm Vorhaben paßte.

Wir zogen und zerrten gewaltig, um die schweren Koffer ans Licht zu schaffen, und dann wurden sie geöffnet, und ich muß gestehen, wenn einmal in meinem Leben hochgesteigerte Erwartungen nicht getäuscht worden sind, so war es hier.

Was da alles beieinander lag, und zwar in der musterhaftesten Ordnung, kann ich kaum beschreiben. Es überstieg meine kühnsten Vorstellungen von feinen Dingen. Zwei Spitzenkleider! Schwarz und lila. Seidenstoffe in allen Farben, Schärpen mit seltenen Mustern, seidene Strümpfe, ein Paar grüne und ein Paar rote türkische Pantoffeln, Goldtressen, kleine und große Schachteln, einige mit den schönsten Knöpfen, andere mit bunten Glasperlen gefüllt, Handschuhe, ein Fächer aus Straußenfedern, ein kleiner, silbergrauer Muff, ein Album mit rotem Sammetdeckel und noch viele, viele andere Dinge!

Wir nahmen jedes Stück heraus, bestaunten 73 und betasteten es von allen Seiten und legten es auf das Bett. Ganz zuletzt fanden wir noch ein in ein lila Seidentuch eingewickeltes und mit gelbem Band schön verbundenes, viereckiges Paket. Wir machten es neugierig auf.

Es war ein Buch mit dem schönsten Einband, den ich je gesehen hatte. Leuchtend himmelblau mit lauter goldenen Sternchen, und in der Mitte stand unter den Strahlen einer großen Sonne mit blutroten Lettern geschrieben:

Das Leben der heiligen Elisabeth
und
Die Kreuzritter.

Ich blätterte ein wenig in dem Buche und fand darin eine Menge Bilder, die mir wegen ihrer grellen Farben außerordentlich gefielen. Dann las ich aufs Geratewohl in der Mitte ein paar Linien . . . und noch ein paar . . . Potz tausend! . . . Das war ja seltsames Zeug, was da stand:

»In ihrer Kindheit, da sie im Hause umlief, stahl sie alles, was sie ergreifen konnte an Essen und Trinken und gab es den Armen. Da die Köche das vermeldeten und das Gesinde, da paßte der Herr selber auf, und da sie aus der Küchen ging und hatte ihren Rockschoß vollgeladen, da begegnete er ihr und sprach: Liebes Töchterchen, was trägst du? Da sprach sie: Ich trage Rosen und will mir einen Kranz machen. Da sprach der Herr: Weise mir die Rosen! Denn er wußte wohl, daß 74 es Brot und Fleisch war. Da schlug sie den Rockschoß auf, und waren es alles Rosen, rote und weiße, in der armen Leute Hand aber ward es wieder Brot und Fleisch. Da sprach der Herr zu den Köchen und zu den Mägden: Ich gebiete euch bei eurem Leben: alles das sie euch nehmen will, den Armen zu geben, daß ihr das nicht wehret!«

Diese Erzählung gefiel mir noch besser als die Bilder, und ich schlug dem Stineli vor, wir wollten das ganze Buch zusammen lesen, es scheine sehr schön zu sein.

»Gut,« sagte Stineli, »aber zuerst müssen wir die Sachen wieder einpacken.« Wir schoben also die seidenen Kostbarkeiten der fernen Tante wie einen Haufen Laub vom Bett hinunter in den Koffer, verschlossen sie, stießen sie in eine Ecke und setzten uns mit dem Buch auf das Bett.

Dann lasen wir uns abwechselnd vor, und aus den Blättern stieg so wunderbar Schönes und Liebliches empor, daß wir kaum hörten, wie sich um und über uns ein furchtbares Gewitter mit Blitz und Donner und Wolkenbruch entlud.

Wir lasen und lasen, bis die Dunkelheit sich niedersenkte. Das Buch war noch lange nicht zu Ende, aber unsre Herzen erfüllte etwas Neues und Großes.

Und darum lasen wir von da ab Tag für Tag in der kleinen, versteckten Dachkammer ein Stück weiter, sogar das Leben der frommen Kreuzritter 75 und noch ein langatmiges Nachwort dazu. Nach einer Woche waren wir damit fertig.

In unsern jungen Seelen lag Verstandenes und Unverstandenes wirr durcheinander, aber etwas wuchs aus dem Wust doch wie eine zarte Blüte in uns auf. Es war eine tiefe Sehnsucht nach dem, was auch jene Menschen, von denen das Buch erzählte, erfüllt haben mochte.

Es war nicht anders, als sei ein Hauch vom Leben der frommen Landgräfin von Thüringen durch die Jahrhunderte verweht in unsere Herzen gedrungen. Jedenfalls weiß ich, daß ich eine Woche lang abends vor lauter religiöser Schwärmerei nicht einschlafen konnte. Es arbeitete und drängte etwas in mir, das ich zwar nicht begriff und über das ich mit niemand reden mochte.

Aber dann war auf einmal doch die Erlösung da. Ich sah plötzlich ein Ziel, und ich sah auch den Weg dahin.

An einem Sonntagnachmittag lagen das Stineli Heß und ich hinter einem großen Heuhaufen in unserm Baumgarten. Die Kühe weideten friedlich um uns herum, ihre Glocken klangen lieblich dazwischen. Sonst war es still und die Luft wie von Wundern schwer.

Das war die Stunde, da ich über das, was mir wie eine Last auf dem Herzen lag, sprechen konnte.

»Stineli,« begann ich, »das Buch war doch herrlich und diese Elisabeth wirklich eine Heilige.« 76

Das Stineli bestätigte: »Es ist das Schönste, was ich je gelesen habe.«

Eine Weile herrschte Schweigen, aber dann fing ich wieder an und war von der Größe meines Gedankens fast überwältigt. »Stineli, wenn wir wollten, wirklich wollten . . . wir könnten auch ganz gut heilig werden.«

Das Stineli sah mich an, dachte ein wenig nach und meinte: »Es wäre schön, aber ich weiß nicht, wie wir es anfangen sollten.«

Mir wurde ordentlich leicht, als ich merkte, wie schnell sie auf meine Idee einging, und nun eröffnete ich ihr meinen Plan.

»Wir tun etwas, Stineli, was noch kein Mensch in der ganzen Schweiz, nicht einmal die heilige Elisabeth getan hat, und nachher sind wir heilig . . . so wahr ich Maja heiße.«

»Ja, aber was denn? So sprich doch!« drängte sie, nun richtig neugierig geworden.

Ich sah sie an, und in mir war ein Gefühl, als ob ich dieser Welt letztes Erlösungswort spräche: »Wir reisen zusammen zu Fuß nach Jerusalem. Dort beten wir auf dem Grabe von Jesus Christus und kommen wieder heim.«

Darauf fragte das Stineli ein wenig ängstlich: »Wie finden wir bloß den Weg dahin?«

Nun hatte ich Oberwasser, und ich erklärte seelenruhig und siegesgewiß: »Das ist furchtbar einfach. Zuerst über die Berge. Dann sind wir in 77 Italien. Dort fragen wir nach dem Weg. Uebers Meer führt uns ein Boot. Das kostet nichts, und nachher geht's nur noch geradeaus.«

»Und wo essen und schlafen wir?«

Aber auch darauf hatte ich eine Antwort, die alle Bedenken niederschlug. »Das Essen erbetteln wir uns. Wir brauchen nur zu sagen, wir bitten um ›Gotteslohn‹, dann gibt uns jeder etwas. Und schlafen tun wir einmal in einem Stall und das andere Mal in einer Höhle. Es ist ja Sommer, und etwas muß man halt ertragen, sonst wird man nie heilig.«

So sprachen wir lange hin und her, und schließlich waren wir für die Reise nach Jerusalem so entflammt, daß wir ganz ausgelassen um den Heuhaufen herumtanzten und dazu das alte Kinderlied sangen, das nun eigentlich gar nicht zu unserm vorsätzlichen Heiligwerden, aber doch zu der harmlosen Fröhlichkeit unseres Alters paßte:

»Als ich einmal reiste,
reist' ich nach Jerusalem.
Dort ward ich das kleinste
Murmeltier genannt.
Murmeltier kann tanzen,
eins und zwei und drei und vier!
Murmeltier kann tanzen
bis nach Jerusalem.«

Die folgenden Tage waren mit endlosen Besprechungen ausgefüllt, aber wir weihten keinen 78 Menschen in unser Vorhaben ein. Endlich setzten wir als Tag der Abreise einen Sonnabend fest.

Kurz nach dem Mittagessen trat ich zu der Großmutter in die Küche und, vollständig unbekümmert um meines Herzens Heiligwerden, log ich ihr vor, ich ginge mit dem Stineli Heß in die Mühle und würde nachher bei ihr Kaffee trinken.

Diese Lüge war sozusagen der erste Schritt auf dem Wege nach Jerusalem und zu meiner ersehnten zukünftigen Engelhaftigkeit.

Der zweite bestand darin, daß ich beim Verlassen des Hauses noch schnell auf der Tenne in eine bereits abgewogene und verkaufte Zaine mit Obst griff und aus ihr zwei der herrlichsten Römerbirnen nahm.

Bei der Kirche traf ich mit meiner Freundin zusammen, gab ihr die eine der Birnen, und dann zogen wir wohlgemut und fröhlich nach Jerusalem. Wir nahmen den Weg nach Süden, ganz wie es die Schwalben taten, wenn sie uns im Herbste verließen. Bald war das Heimatdorf unsern Blicken entschwunden. Wir wanderten leicht und frisch durch die herrlichste und großartigste Gebirgswelt, die man sich denken konnte. Links schäumte der Rhein in der Tiefe, und rechts stiegen Wald und Fels in schwindelnde Höhen auf.

Die erste nennenswerte Station unserer Reise war der Teufelsgraben. Da ging der Weg ganz 79 wie in der Hölle eine Strecke weit in Dunkelheit und Unheimlichkeit durch einen Felsen hindurch.

Vor diesem Teufelsgraben stand ein gemauertes Häuschen, in dem die Straßenarbeiter ihre Werkzeuge aufbewahrten.

Sobald wir dieses Häuschens ansichtig wurden, stießen wir uns bedeutungsvoll an, traten wie auf Verabredung an die kleine Tür, spitzten die Ohren und horchten angestrengt.

Das Horchen an dieser Tür verriet eine solche Unerfahrenheit in irdischen Dingen, daß man nur staunen konnte, wie wir uns anderseits mit Riesenproblemen wie Heiligwerden und Auswanderung abgaben.

Die Schülerinnen der obern Klassen hatten uns nämlich eines Tages unter dem Siegel der allertiefsten Verschwiegenheit verraten, daß die Frauen unseres Dorfes sich nach Bedarf die kleinen Kinder aus diesem Häuschen holten, und daß man an dieser Tür immer Kindergeschrei hören könne. Ich war zwar zwölf Jahre alt, aber ich fand das höchst glaubwürdig, und darum standen wir denn auch lange mit pochendem Herzen vor der geheimnisvollen Tür . . . aber . . . es war merkwürdigerweise alles totenstill.

»Sie haben wohl das letzte herausgenommen«, sagte das Stineli, und ein wenig unbefriedigt und nachdenklich gingen wir weiter.

Bald kamen wir in ein reizend gelegenes 80 Dörfchen mit grünen Matten und Wäldern im Hintergrund.

Noch holten wir tüchtig aus, ließen die Häuser weit hinter uns, kamen über schwindelnd hohe Brücken und hatten den tosenden Rhein bald rechts, bald links von uns in der Tiefe.

Endlich tauchte wieder ein Dorf vor uns auf. Es war größer als das erste, und gleich am Eingang stand ein Gasthaus. Das hieß »Zur Alpenrose«, und durch ein geöffnetes Fenster sah ich eine Uhr. Sie zeigte auf drei. Wir waren also bereits zwei gute Stunden gelaufen.

Drinnen hörten wir Teller und Tassen klappern. Man deckte den Tisch, und wir erinnerten uns, daß es jetzt zu Hause Zeit zum Kaffeetrinken war.

Wir fühlten plötzlich einen brennenden Durst, und die Füße taten uns weh. Darum standen wir vor dem Hause still.

»Du, Stineli, was meinst, hier bitten wir zuerst um Kaffee.«

Sie nickte, und wir traten bis an die Treppe des Hauses. In diesem Augenblick kam pfeifend ein Bursche, wahrscheinlich ein Kellner, heraus und sah uns.

Da faßte ich mir ein Herz und fragte: »Könnten wir hier wohl einen Kaffee bekommen?«

Er kniff die Augen ein wenig zu und erwiderte: »Hast Geld?« Und ich antwortete ganz 81 bescheiden und fromm: »Nein, wir bitten um Gotteslohn.«

Was für ein verdrehtes Deutsch ich da herplapperte, überlegte ich nicht. Mir war es nur um die Anwendung des Wortes »Gotteslohn« zu tun, denn ich hoffte, daß es wie ein Zauberspruch wirken würde.

Aber leider war das nicht der Fall. Der Bursche drehte sich halb um und sagte nebenaus: »Macht, daß ihr weiterkommt, oder ihr kriegt den Gotteslohn hinter die Ohren geschmiert!«

O, wie konnten Menschen grob und häßlich sein! Es durchschauerte uns wirklich. Wie weit, ach wie weit und hoch standen wir in unserm heiligen Vorhaben doch über solchen Personen!

Wir warfen dem Kerl einen traurigen Blick zu wegen seiner innern Verworfenheit und zogen stillschweigend weiter. Gern ertrugen wir der Menschen Haß und Schlechtigkeit, denn auch er, unser Herr und Heiland, und viele seiner Heiligen waren auf Erden verfolgt und verspottet worden.

Langsam schlenderten wir weiter. Das letzte Haus im Dorf war wieder ein Gasthaus. Ueber der Tür hing ein vergoldeter Vogel mit hakenförmigem Schnabel, fürchterlichen Fängen und halb geöffneten Schwingen, und unter diesem schönen Wahrzeichen stand mit gewaltigen Lettern: »Hotel zum Steinadler«. 82

Am Fenster lehnte eine Frau mit verschränkten Armen und sah gelangweilt auf die Straße hinaus. Ich stupfte das Stineli ein wenig und sagte: »Vielleicht gibt die uns einen Kaffee.«

Das Stineli sah sehr trübselig aus und zuckte die Achseln. Da trat ich unter das Fenster und fragte: »Könnten wir wohl bei Ihnen Kaffee trinken?«

»Wenn ihr Geld habt,« erwiderte die Frau und gähnte, »so viel euch schmeckt.«

Schon wollte ich wieder antworten: »Wir bitten um Gotteslohn«, aber da erinnerte ich mich noch rechtzeitig an die böse Erfahrung, die ich mit diesem Worte am andern Ende des Dorfes gemacht hatte, und ich sagte nur zaghaft: »Nein, Geld haben wir nicht.«

Da richtete die Frau sich ein wenig auf und fragte mit bösem Gesicht: »Wo kommt ihr zwei Klafeten eigentlich her?«

Klafeten . . . ich zuckte zusammen, und das Stineli packte mich am Rock und mahnte voll Angst: »Komm bloß weiter! Mit der wollen wir nichts zu tun haben.«

Und ohne eine Antwort zu geben, machten wir uns davon, hörten aber doch noch zu unserm großen Schrecken, wie sie hinter uns herrief: »Ihr Kröten, paßt denn nur auf, daß euch die Polizei nicht erwischt und nach Hause schafft!«

Wir rannten wie beflügelt auf der Straße 83 dahin, genau so, als ob der Landjäger leibhaftig hinter uns herjagte.

Plötzlich standen wir hinter einer Wegbiegung vor einer Kirche.

Ach, eine Kirche! Die paßte gerade zu unserer Heiligkeitssehnsucht! Sankt Elisabeth war doch auch als Kind immer am liebsten in der Nähe des Gotteshauses gewesen.

»Stineli,« sagte ich, »wir übernachten in der Kirche. Da sind wir am sichersten. Aus einer Kirche darf man uns nie vertreiben, und es ist ja auch kein Mensch darin.«

Wir näherten uns der Tür, öffneten sie und spähten hinein.

Es war eine katholische Kirche mit allem üblichen Schmuck, mit aller Rätselhaftigkeit, mit der ganzen Macht des Geheimnisvollen, das so gewaltig auf Kinderseelen wirkt. Voller Ehrfurcht traten wir ein.

Hohe, bunte Fenster, die das Licht zu einem magischen Düster dämpften, vergoldete Säulen, ein Altar mit leuchtendem Kruzifix und weißen Blumen in schlanken Kelchen, eine dunkle Decke mit Bildern aus dem Leben der heiligen Familie . . . alles strömte Gottesnähe und Frömmigkeit aus.

Hier war es wirklich gut sein, und da konnten wir auch sicher schlafen. Nur daß der Boden aus Steinplatten bestand und die Bänke hart und schmal und wenig einladend zum Ausruhen waren. 84

Wir gingen darum leise auf die Suche nach einem bessern Ort in diesem heiligen Raume.

Rechts vom Altar entdeckten wir eine Tür, die wir behutsam öffneten. Dahinter war ein kleines Zimmer mit einer gepolsterten Bank, einem Lehnstuhl und einem Tisch, auf dem ein Kruzifix und eine Bibel lagen. Vor einem großen Fenster wölbte sich ein mächtiges Eisengitter, um das sich dichter Efeu schlang.

Wir waren sofort entschlossen, uns in diesem Zimmerchen häuslich niederzulassen. Es machte den Eindruck, als sei hier die Welt zu Ende, und als biete es Schutz gegen alle bösen Mächte der Erde. Das Stineli setzte sich in den Lehnstuhl, und ich legte mich der Länge nach auf die Bank hin. Dann holten wir unsere Birnen aus der Tasche und begannen sie zu essen. Sie schmeckten gut, nur daß sie nicht imstande waren, unsern Hunger zu stillen.

Immerhin waren wir wieder ganz munter, fanden den Anfang unserer Wanderung gar nicht so übel und meinten, wenn es so weiter ginge, so kämen wir bestimmt zum Heiligen Grabe.

Da – Jesus, Maria und Josef! – ging wie von Geisterhand geöffnet die Tür auf!

Ein alter Mann, wahrscheinlich der Mesner, in Filzpantoffeln mit einem Sammetkäppchen auf dem Kopfe, einem Schlüsselbund in der einen und einem gewaltigen Staubwischer in der andern Hand, stand vor uns. 85

Er schien ebenso erschrocken wie wir, denn er bekreuzigte sich und schrie: »Himmelherrgottsakrament! Potz Krawatten und Hemdenzipfel!«

Wir sprangen auf und standen wie gebannt vor ihm. Nach einem sekundenlangen gegenseitigen Anstarren schien er sich aber zu fassen.

Er kam auf uns zu und fluchte: »Ihr verdammten Malefizier! Was macht ihr hier drinnen?«

Wir hatten die Sprache vollständig verloren und zitterten wie Espenlaub.

Da schloß er die Türe hinter sich zu und schrie: »Wollt ihr wohl antworten? He?«

Wir verharrten in weiterm Schweigen. Da schritt er quer durch das Zimmer, machte eine Türe auf, die wir gar nicht beachtet hatten, kam wieder zurück, stellte sich mit dem erhobenen Staubwischer vor uns hin und befahl: »Marsch! Hinaus! Euch werden wir denn doch wohl noch zum Reden kriegen!«

Wir torkelten hintereinander in Todesangst zur Türe hinaus, schritten zwischen Gebüsch einen schmalen Gartenweg entlang, immer den brummelnden Alten hinter uns, bis wir vor einem kleinen Haus mit einer altmodischen Rundbogentüre und zwei laubumsponnenen Fenstern standen.

Dann ging's drei Stufen aufwärts in einen kleinen Flur hinein. Der Alte öffnete rechts, schob 86 uns vorwärts, und mit den Worten: »So, nun werden wir ja sehen«, schloß er hinter uns zu.

Wir befanden uns in einem fremden, schönen Raum. Ich wagte aber gar nicht mich umzusehen. Was ich mit einem Blick erfaßte, war ein Schreibtisch, ein Harmonium und ein großes Bild mit einem Christuskopf darauf.

In dem Zimmer war keine Seele. Hinter uns tickte eine Uhr, und wir fürchteten uns ganz entsetzlich.

Plötzlich aber tat sich eine Türe im Hintergrunde auf, und ein Herr im Priestergewand trat hervor. Er war sehr groß, trug eine Brille und hatte auf dem Kopfe eine Fülle schneeweißen, gelockten Haares.

Ich sah ihn wie etwas Ueberirdisches auf uns zukommen. Zu der Angst gesellte sich eine bange Ehrfurcht, denn der sah, weiß Gott, wie ein Heiliger aus.

Jetzt stand er vor uns, legte jeder von uns eine Hand auf den Kopf und fragte freundlich: »Nun sagt mir einmal, ihr Kinder, was wolltet ihr in meiner Sakristei?«

Ein langes Schweigen folgte. »Na?« machte er aufmunternd. Da antwortete das Stineli: »Nichts.«

»So?« sagte er erstaunt, und seine Stimme klang gut und mild. »Warum seid ihr denn dort hineingegangen?« 87

Keine Antwort.

»Wo kommt ihr eigentlich her, ihr zwei?«

Keine Antwort.

»Wollt ihr mir vielleicht sagen, wie ihr heißt?«

Keine Antwort.

»Hm . . . wenn ihr denn gar nicht sprechen wollt, weiß ich keinen andern Ausweg, als die Polizei zu benachrichtigen.«

Das wirkte. Wir fingen alle beide wie auf Kommando an fürchterlich zu heulen.

Der Herr sagte darauf sehr gütig: »Also wenigstens versteht ihr, was man zu euch spricht . . . Sagt mal, habt ihr vielleicht Kaffeedurst?«

Du lieber Himmel! Das ließ sich hören. Wir nickten beide heftig und rieben uns die Augen mit dem Handrücken.

Da ging er zur Tür und rief hinaus: »Christine, geben Sie doch diesen beiden Kindern eine Tasse Kaffee und etwas zu essen, und nachher schicken Sie sie wieder zu mir!«

Wir stolperten also in die Küche . . . fast wie zwei bockbeinige Lämmer.

Es war eine saubere, kleine, helle Küche mit einem schneeweiß gefegten Tisch. Wir setzten uns hin, und die »Christine«, eine freundliche, alte Magd, stellte vor jede eine Tasse mit Ohren. Darauf waren rote und blaue Tulpen mit langen, grünen Blättern gemalt.

Die Christine schenkte uns Kaffee mit sehr viel 88 Milch ein und legte neben jede Tasse ein fast unglaublich großes Stück Blechpitte mit Rosinen.

Wir aßen und tranken langsam, schweigend und tief versonnen. Müdigkeit, ausgestandener Schrecken, diese plötzliche Wohltat, die man uns so ganz ohne »Gotteslohn« erwies, der fremde Ort, die fremden Menschen . . . alles wirbelte in unsern verwirrten Seelen wild durcheinander.

Als wir mit Essen und Trinken fertig waren, mußten wir wieder zu dem alten Herrn hinein. Er saß am Schreibtisch.

Wie wir eintraten, kam er auf uns zu, legte uns beiden die Fingerspitzen unter das Kinn, hob das Gesicht ein wenig in die Höhe und fragte: »Seid ihr nun satt? Und hat es euch geschmeckt?«

»O ja«, kam es wie aus einem Munde. Da zog er einen Stuhl heran, setzte sich vor uns, und dann kam ungefähr folgendes Gespräch zustande.

»Nun werdet ihr mir aber gewiß auch sagen, wie ihr heißt?«

Meine Freundin antwortete sofort: »Stineli Heß.«

»So, so! Und du?« Er wandte sich an mich. In mir aber warnte immer noch eine Stimme: »Wir wollen doch nach Jerusalem, und wenn wir uns verraten, kommen wir nie dahin.« Darum schwieg ich verstockt.

»Also du hast keinen Namen . . .« folgerte er.

»Doch«, entfuhr es mir da ärgerlich. 89

»Also doch . . . und wie lautet er?«

»Maja . . .«

»Sieh mal an! Das ist sogar ein sehr hübscher Name.« Das schmeichelte mir zwar ein wenig, aber ich nahm mir vor, sehr auf meiner Hut zu sein.

»Und wo seid ihr daheim?«

»In Valsein.« O dieses Stineli! Es antwortete so schnell und so laut, als ob es nur darauf wartete, alle Geheimnisse der Welt preiszugeben.

»So, da seid ihr also her? Und wo wollt ihr hin?«

Da erwachte auf einmal auch in mir der Mitteilungsdrang. Ich weiß nicht, entsprang er der Sucht, mit unserm Vorhaben groß zu tun, oder dem Aerger, daß dieser freundliche Herr seine Aufmerksamkeit ganz meiner Freundin zuwandte. Jedenfalls bekannte ich freudig und offen: »Nach Jerusalem.«

»Wohin?« fragte er milde, ganz wie ein Mensch, der um Entschuldigung bitten möchte, weil er sich verhört hat.

»Eben nach Jerusalem«, wiederholte ich.

Da fragte er immer noch sehr gütig und so nachsichtig, als ob er mit einem Kranken spräche: »Nach welchem Jerusalem denn, mein Kind?«

Und ich erwiderte: »Halt nach Jerusalem in Palästina.«

»So . . .?« staunte er, und ein seines Lächeln ging über sein Gesicht. »Ihr seid aber ein paar 90 seltene Vögel . . . Und was wollt ihr in Jerusalem?«

Da antworteten wir, alle Vorsicht vergessend, wie aus einem Munde: »Heilig werden wie Sankt Elisabeth«, und machten fromme Gesichter.

Der alte Herr nahm seine Brille ab, putzte sie sehr umständlich, setzte sie wieder auf und sah uns mit seinen großen, blauen Augen eine Weile sinnend an.

»Wissen eure Eltern, daß ihr . . . ich meine, weiß man zu Hause, wo ihr seid?«

Da rief ich plötzlich in heller Angst: »Nein! Nein! Aber verraten Sie uns um Gotteswillen nicht, sonst kommen wir nie zum Heiligen Grab, und wir müssen doch dahin.«

»So?« sagte er leise, fast wie zu sich selbst, »ihr müßt dahin?«

Dann schwieg er eine Weile und sah, von uns abgewandt, zum Fenster hinaus, kehrte sich aber wieder zu uns und begann: »Wenn ihr wirklich glaubt, daß ihr dahin müßt, will ich euch vorher noch etwas erzählen. Ihr müßt mir aber versprechen, aufmerksam zuzuhören, und mit gutem Willen versuchen, das, was ich euch sage, in eurem Herzen zu verstehen. Also denkt euch, vor vielen hundert Jahren, da gab es auch schon Kinder, die genau wie ihr heilig werden und nach Jerusalem wandern wollten, und es waren nicht etwa nur zwei wie ihr heute, sondern es waren viele 91 Tausende. Die riß es vom Elternhause weg, und sie wanderten und wanderten in die unbekannte Ferne, aber was glaubt ihr, sie sind nicht weit gekommen, die armen Kinder. Der Hunger, die Müdigkeit, die Kälte der Nächte, die Hitze fremder Länder, Krankheiten aller Art – es kam über sie wie ein Schauer, und elend und verlassen sind sie am Wege verdorben und gestorben. Und genau so würde es auch euch ergehen, denn Jerusalem liegt in ganz unermeßlichen Fernen. Berge, Meere, Länder und Wüsten liegen davor, und man erreicht es nie.

Wenn aber ein Kind wirklich heilig werden will, wenn es eine solche Liebe zu seinem Heiland und den Heiligen spürt, daß es ihnen nacheifern möchte, wenn es sich wirklich mit ganzer Seele seinem lieben Herrgott hingeben will, dann braucht es gar nicht erst nach Jerusalem zu wandern. Es kann damit ganz still und bescheiden und demütig im Hause, in der Schule und auf der Straße anfangen, genau wie es die heilige Elisabeth auch getan hat, denn man sagt von ihr, daß sie schon als kleines Mädchen gütlich in allen ihren Worten, innig in ihren Gebeten, friedsam und freundlich gegen ihre Gespielinnen und barmherzig gegen die Armen gewesen sei.

Genau dasselbe könnt auch ihr tun. Darum werdet ihr jetzt nicht mehr weiter auf dieser fremden Straße wandern, sondern umkehren und zu 92 euren Eltern gehen, und zwar noch bevor die Nacht kommt und bevor euren Eltern das Herz vor Kummer über euch bricht. Ihr werdet ganz brav wieder nach Hause gehen und versuchen, die besten Kinder zu werden. Recht innig sollt ihr zum lieben Heiland beten, den Eltern und Lehrern gehorchen, ihnen Freude machen durch gutes Betragen, helfen, wo es etwas zu helfen gibt und die Armen nicht vergessen. Das ist dann gerade so gut und so viel wie heilig werden, ja, es ist hundertmal mehr wert als die ganze Reise nach Jerusalem.«

Er schwieg und zog eine Schublade seines Schreibtisches auf. Der entnahm er zwei ganz gleiche Bildchen. Davon gab er jedem von uns eines und sagte: »Dieses Bild schenke ich euch zur Erinnerung an den heutigen Tag. Der Mann, der da vorn kniet, ist der heilige Wendelin. Wenn ihr den um etwas anfleht, so hilft er euch, so oft ihr ihn darum bittet.«

Dann stand er auf, setzte sich einen großen, schwarzen Hut auf und nahm uns bei der Hand. So trat er mit uns vor das Haus, führte uns hinunter bis an die Straße und sagte: »Es ist fünf Uhr, und die Post muß jeden Augenblick kommen. Ihr könnt mit zurück und alles ist, als ob nichts gewesen wäre.«

Wir waren zahm wie Vögel, denen man die Flügel gestutzt hat. Die Worte dieses fremden 93 Herrn hatten wirklich die bessere Einsicht in uns geweckt, und es war uns nicht anders zumute, als ob wir nach Hause fliegen müßten.

Es dauerte auch wirklich nicht lange, so kam die Post dahergefahren. Der Herr machte dem Postillon ein Zeichen, daß er halten sollte, trat auf ihn zu, sprach mit ihm und gab ihm etwas. Wahrscheinlich bezahlte er ihm unsere Reise.

Bevor wir einstiegen, machte er das Zeichen des Kreuzes über uns, drehte sich um und ging langsam wieder der Kirche zu.

Wir aber fuhren still und erfüllt von einer fremden Glückseligkeit heimwärts. Unterwegs besahen wir uns aufmerksam unsere Bildchen. Sie waren sehr schön. Rechts im Vordergrunde stand ein altes, kunstlos geschnitztes Kruzifix. Davor lag eine wunderbare Königskrone. Im Grase aber zwischen Blumen kniete Sankt Wendelin im dunkelblauen Hirtengewand, Hut und Stab an die Brust gepreßt, die Hände gefaltet und das Haupt von einem Heiligenschein umstrahlt. Hinter dem Betenden weidete seine Herde, und ganz in der Ferne leuchtete ein altes Städtchen im Abendsonnenschein.

Es war noch ganz heller Tag, als wir heimkamen. Bei mir zu Hause fragte niemand nach meinem Ausbleiben und ich behielt das Erlebnis des Nachmittags tief im Herzen verschlossen.

Am Abend aber, als wir bei Tisch saßen, sah 94 mich die Großmutter ein paarmal ganz erstaunt an, und schließlich fragte sie: »Was ist eigentlich mit dir los, du machst ja ein Gesicht, als ob Sonntag wär.«

Ich antwortete darauf ausweichend: »Ich denke an eine schöne Geschichte, die ich einmal gelesen habe.«

Da lächelte die Großmutter und legte mir ein mächtiges Butterbrot mit sehr viel Wurst auf den Teller.

Ich aber weilte mit meinen Gedanken bei dem fremden Priester, und mir war es, als ob ich in Wirklichkeit in Jerusalem gewesen sei.

Ich gab mir in der folgenden Zeit auch aufrichtig Mühe, die Worte jenes Priesters zu befolgen, aber eine Heilige bin ich trotzdem nicht geworden. Dazu war die Unzulänglichkeit meines Herzens denn doch zu groß. 95

 


 


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