Ina Jens
Rosmarin
Ina Jens

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Der Raubmörder.

In unserm Dorfe herrschte die größte Aufregung, wenigstens in jenem Teil, den ich genau kannte. Es hieß nämlich, irgendwo im Wald in einer Höhle oder gar in einem der vielen Ställe hinter den Häusern sei ein schrecklicher Verbrecher verborgen, der das ganze Dorf bedrohe. Und zwar sei es nicht etwa ein Dieb oder ein Falschmünzer, sondern . . . man sprach ganz leise und schlug dabei die Hände zusammen . . . es sei ein Raubmörder, aber auch nicht ein gewöhnlicher, sondern ein siebenfacher. Stellt es euch bitte vor! Ein siebenfacher Raubmörder, ein Oesterreicher! Er heiße Wendel, und man erkenne ihn sofort an einer quer über die Stirne laufenden Schußwunde.

Dem Worte siebenfach entsprechend wurden überall die notwendigen Vorsichtsmaßregeln getroffen.

Unser Haus stand dicht am Walde, ein wenig abseits von den übrigen Häusern des Dorfes, und hätte seiner Lage nach diesen siebenfachen Raubmörder wohl zu neuen Verbrechen verlocken können.

Die Großmutter sagte zwar: »Solche Menschen wissen ganz genau, wo es sich lohnt einzubrechen, 52 und bei uns weiß jeder, daß nichts zu holen ist.« Trotzdem wurden die mächtigen Scheunentore mit ein paar mächtigen Brettern bis auf weiteres zugenagelt. Fast alle Schlösser bekamen die fehlenden Schrauben eingesetzt, und die Großmutter verriegelte abends überall, wo es überhaupt etwas zu verriegeln gab. Die Mutter aber ging eines Tages in ein Nachbardorf und kam in der Dunkelheit mit einem fürchterlichen Köter wieder zurück. Er war mager, hochbeinig, struppig und richtig bösartig.

Wir Kinder hatten in jenen Tagen vom Morgen bis zum Abend Stoff für die gruseligsten Geschichten. Fast jeder behauptete steif und fest, dem Wendel irgendwo begegnet zu sein oder ihn gesehen zu haben, der eine hinter den Ställen in der Dämmerung, der andere in der alten Feldstraße am hellen Tage und ein dritter im Walde. Alle schwuren hoch und heilig, genau die blutrote Narbe auf der Stirn, einen Dolch im Gürtel und zwei blitzende Revolverläufe in jeder Tasche gesehen zu haben.

Einem solle er sogar zugerufen haben: »Halt! Ich ermorde dich!« Und ein anderer wieder wollte dem Raubmörder selbst nachgeschrien haben: »Verfluchter Halunke!« Da sei der aber nicht schlecht ausgeflitzt!

Häufig rotteten wir uns auch mitten auf der Straße zusammen und blickten in die Höhe. Ueber 53 dem Geierstein befand sich eine große Felsenhöhle, deren Eingang vom Tale aus als dunkler Fleck weithin sichtbar war. Dahin starrten wir also still und stumm . . . minutenlang . . . bis einer schrie: »Dort . . . dort . . .! Seht ihr ihn? . . . Der schwarze Schatten! . . . Das ist er!«

Und wir sahen ihn alle, und die Haare standen uns zu Berge. Wie die wilde Jagd stoben wir davon in die Ställe und verkrochen uns im Heu.

Nach einer Weile schlichen wir auf den Zehenspitzen wieder hinaus, sahen zu einer alten Ruine empor, bis einer schrie: »Er kommt! . . . Er kommt! Lauft! Flieht! Versteckt euch!« Und dann sausten wir wieder davon.

Das Schauerlichste aber erzählte uns der Karli Weiß an einem Montagmorgen. Der Landjäger Hempel sei am Tage vorher mit seinen zwei kleinen Kindern am untern Rain spazieren gegangen, und wie er an die großen Nußbäume gekommen sei . . . wer liegt dort lang ausgestreckt und schlafend? . . . Der siebenfache Raubmörder Wendel.

»Und? . . . . Hat er ihn gepackt?« fragten wir fast wie aus einem Munde.

»Was fällt euch ein!« empörte sich der Karli, »der Wendel hatte sieben geladene Revolver rund um seinen Kopf herum gelegt, und der Landjäger durfte ihm wegen seinen Kindern nicht nahe kommen.«

Wir sahen das vollständig ein, bedauerten es 54 grenzenlos und fühlten mit heimlicher Wonne, wie das Grauen in uns ins Unermeßliche stieg. Es war wirklich aufregend, in diesem Dorfe zu wohnen. Ich hätte in jener Zeit mit keinem andern Dorf auf der ganzen Welt getauscht. So etwas gab es doch nur bei uns.

Das einzige, was mir aufrichtig leid tat, war, daß ich diesen Raubmörder noch nie mit eigenen Augen so richtig in der Nähe gesehen hatte. Alle taten sich so groß mit ihren Erlebnissen, nur ich wußte nicht das geringste zu erzählen.

Manchem glaubte ich zwar nicht, was er sagte, aber mir war es doch, als ob mir etwas Unwiederbringliches verloren ginge, wenn ich den Wendel nicht einmal selbst zu Gesicht bekäme.

Ich bangte ordentlich, er könnte wieder aus der Gegend verschwinden, bevor mir der Anblick seiner Schrecklichkeit zuteil geworden war. Stundenlang streifte ich nachmittags zwischen den Wiesen und Aeckern umher und hoffte auf ein großes Erlebnis. Daß ich beim leisesten Geräusch jedesmal wie gehetzt unserm Hause zujagte, ist selbstverständlich, aber ich konnte es nicht unterlassen, immer wieder nach dem Raubmörder auszusehen.

Zu Hause sprach ich nur vom Wendel, und einmal sagte ich gerade heraus: »Ach, ich möchte ihn doch zu gern einmal sehen!«

Da wurde die Großmutter ganz blaß, faltete 55 die Hände und murmelte: »Lieber Gott, beschütze das Kind und verzeih ihm seine Worte, denn es weiß noch nicht, was es spricht.« Und dann folgten ellenlange Ermahnungen, ungeheuerliche Drohungen und strengste Verbote.

Ich durfte nicht mehr aus unserm Garten hinaus, mußte sofort antworten, wenn man mich rief, und damit war wenigstens meinem vorsätzlichen Suchen nach diesem siebenfachen Raubmörder gesteuert.

Wahrscheinlich war er auch bereits aus der Gegend verschwunden, denn im Dorf war nicht das geringste geschehen, und niemand hatte den gefürchteten Menschen je wieder gesehen. Die Gespräche über ihn verstummten, und allerorten herrschte Ruhe und Sicherheit wie vorher.

An einem Samstagnachmittag war meine Mutter beim Aepfellesen im Baumgarten, der sich unterhalb des Dorfes befand. Die Großmutter aber war zu Hause und bereitete das Mittagessen. Als sie damit fertig war, stellte sie die Töpfe schön zugedeckt auf den Herd und sagte zu mir: »So . . . nun nimmst du eine Handarbeit und setzest dich hieher in die Küche. Ich gehe unterdessen in den ›Untern Rain‹. Die Mutter kann das Obst nicht allein nach Hause tragen. In einer halben Stunde sind wir hier.«

Ich setzte mich also neben die Töpfe und sah durch die Scheiben auf die schöne, große 56 Turmuhr. Die Ziffern und die Zeiger glänzten wie Gold auf dem leuchtend blauen Grund in der Herbstsonne. Es schlug halb elf.

Da klopfte es unten an der Tür, die die Treppe von der Tenne abschloß. Ich stand auf und zog an einem Strick, der den Riegel öffnete, ohne daß man hinunterlief.

Die Tür ging auf, und ich sah in ihrem Rahmen einen ganz fremden Menschen stehen. Er trug einen grauen Anzug und einen schwarzen Hut, dessen Krempe vorn nach unten gebogen war und das Gesicht tief beschattete.

Ich fragte ihn, was er wolle, und er sagte, er habe seit drei Tagen nichts Warmes im Leib, ob ich ihm nicht aus Barmherzigkeit etwas zu essen geben könnte.

Diese Worte und der traurige Ton, in dem sie gesprochen waren, erregten mein tiefstes Mitleid. Ich erinnerte mich auch, was die Großmutter in ähnlichen Fällen tat, und fühlte mich plötzlich ganz in ihrer Rolle.

»Gewiß,« sagte ich sehr freundlich und aufmunternd, »komm nur herauf. Ich gebe dir gern etwas von unserm Mittagessen.«

Ganz ohne Ueberlegung sagte ich »du« zu ihm, denn er sah nicht anders aus als einer der jungen Burschen in unserm Dorfe, die wir Kinder auch meistens duzten.

Er stieg die Treppe herauf und blieb auf der 57 zweitletzten Stufe stehen. Ich aber schöpfte einen gewaltigen Teller voll Suppe samt einer dicken Wurst aus der Schüssel heraus und brachte sie ihm. Dann holte ich auch ein großes Stück Brot und fragte ihn, ob es genüge.

Darauf antwortete er nicht, sondern erkundigte sich, ob ich allein im Hause sei, und ich gab ihm genaue Auskunft, nämlich, daß ich mich mutterseelenallein befände, daß aber meine Mutter und meine Großmutter in einer halben Stunde kommen würden.

Da setzte er sich auf die Treppe nieder und begann zu essen . . . hastig und gierig wie ein hungriger Wolf.

Ich sah ihm zu, und er tat mir leid. Von allen menschlichen Uebeln schien mir damals der Hunger das schlimmste zu sein. Voll Mitleid begann ich ihn darum auszufragen, und es kümmerte mich wenig, daß er nur zögernd und kurz antwortete.

»Wo kommst du eigentlich her?«

Zwischen Kauen und Schlucken erwiderte er: »Von da hinter den Bergen.«

»Hast du niemand, der dir zu essen gibt?«

»Nein . . .« er steckte die halbe Wurst in den Mund . . . »ja . . . ich habe noch eine Mutter.«

»Gibt sie dir nichts?«

»Doch,« sagte er, »aber ich bin doch nicht bei ihr.«

»Warum bist du nicht bei ihr? Gehst du nicht wieder zu ihr hin?« 58

»Doch«, nickte er und verschluckte den Rest der Wurst.

»Wirst du morgen bei ihr essen?«

»Nein, morgen nicht. Sie wohnt sehr weit von hier.«

Mit dieser Auskunft war ich noch lange nicht zufrieden. Mich interessierte im Augenblick nichts mehr als der Hunger und das Essen dieses Mannes, den ich da seit drei Tagen zum erstenmal sättigte und der fast wie unsere Ferkel fraß und schmatzte, wenn man ihnen abends das Futter in den Trog warf.

»Was wirst du denn morgen essen, wenn du nicht zu deiner Mutter gehst?« forschte ich weiter.

»Nichts . . . ich werde irgendwo betteln oder Arbeit suchen.«

Da schwieg ich endlich und überlegte. Er mußte morgen doch auch essen. Dafür wollte ich schon sorgen.

Ein Gedanke kam mir. »Hast du Geld?« Er schüttelte verneinend den Kopf und schlürfte den letzten Suppenrest aus dem Teller.

»Dann warte bitte einen Augenblick.« Ich ging in die Wohnstube und öffnete die oberste Schublade des Schreibtisches. Da lag Geld, und ich besah es mir lange. Es waren eine Banknote, ein Fünffrankenstück und einige Zwanziger. Ich dachte nach. Die Banknote? . . . Nein, das war zu viel! . . . Die paar Zwanziger? . . . Das war zu 59 wenig, um sich Essen zu kaufen . . . Aber das Fünffrankenstück? . . . Ja . . . damit war ihm geholfen.

Ich nahm also die fünf Franken und ging hinaus. »Hier hast du Geld, damit du morgen nicht zu hungern brauchst.«

Er sah mich an und lachte ein wenig. Dann reichte er mir den Teller, nahm das Geld, sagte »danke« und stand auf.

Ich aber ging mit dem Teller in die Küche, wusch ihn ab und horchte zwischendurch, ob die Tür beim Weggehen des Mannes unten zuschlage, aber ich hörte nichts.

Da trat ich verwundert wieder auf die Schwelle zurück und stutzte.

Dort stand er immer noch auf derselben Stelle. Er wischte sich den Mund und hatte den Hut ein wenig aus der Stirn nach hinten geschoben.

Ich sah ihn an . . . und . . . dann . . . mein Herz schlug wie rasend. Ihr Heiligen des Himmels steht mir bei! . . . Die blutrote Narbe! . . . Der siebenfache Raubmörder! . . . Dort stand er . . . kaum zwei Schritte von mir entfernt . . .

Das Entsetzen preßte mir würgend die Kehle zusammen. Ich schrie fürchterlich auf, jagte durch die Küche hinaus auf das Läubli und brüllte verzweifelt in den Baumgarten hinunter: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Der Wendel ist im Haus! Der siebenfache Raubmörder! Zu Hilfe! Zu Hil . . . fe! Mordio!« 60

Wahrscheinlich war die halbe Stunde, von der die Großmutter gesprochen hatte, gerade vergangen. Jedenfalls bogen in diesem furchtbaren Augenblick die beiden Hüterinnen meiner Kindheit wie hergezaubert um die Ecke.

Sie waren mit Zainen und Körben schwer beladen. Als ich sie sah, wurde mir sofort leicht, aber ich schrie wie wahnsinnig immer weiter: »Mordio! Der Wendel ist im Haus!«

Mutter und Großmutter warfen ihre Körbe hin und riefen: »Spring sofort über das Geländer! Wir halten dich auf. Sofort . . . Sofort!«

In dem Augenblick aber, da ich den gewagten Sprung in die Tiefe und in die vier erhobenen Arme machen wollte, hielt ich inne, denn ich sah den Wendel zum Stall hinaus und durch den Baumgarten dem Walde zu jagen.

»Da!« schrie ich. »Seht ihr ihn? . . . Da läuft er! . . .«

Ja, sie hatten ihn auch gerade noch gesehen, wie er sich über die Mauer schwang und verschwand.

Die Mutter sprang die Treppe hinauf, rannte in die Stube hinein und stürzte auf den Schreibtisch zu.

Ein Schrei des Schreckens entfuhr ihrem Munde. Die Schublade stand weit offen. Ich hatte vergessen sie zu schließen.

Die Mutter suchte nach dem Gelde. Dann 61 schrie sie fast triumphierend: »Er hat eingebrochen. Fünf Franken sind weg!«

Sie vergaß in der Aufregung ganz, daß es so seltsame Einbrecher gar nicht gab, die fünf Franken stehlen und eine Banknote von zehnfachem Werte liegen ließen.

Die Großmutter sagte denn auch sofort: »Das ist aber merkwürdig!« Und ich heulte dazwischen: »Er hat gar nichts gestohlen. Ich habe ihm einen Teller Suppe gegeben, weil er so verhungert war, und auch die fünf Franken, damit er sich morgen Essen kaufen kann.«

»Herr im Himmel! Dieses Kind!« Die Mutter faßte sich mit beiden Händen an den Kopf. Aber die Großmutter beruhigte wie immer: »Sei still, Anna! Vielleicht hat sie sich mit den fünf Franken das Leben gerettet.«

Und die Mutter war auch wirklich still, aber der Schrecken saß in allen Gliedern, und nicht nur an diesem Tage, sondern noch lange Zeit.

Nun hatte ich den Wendel ganz nach Wunsch und Verlangen gesehen, aber etwa groß damit zu tun, war mir denn doch vergangen. Kaum daß ich den Kindern davon zu erzählen wagte. Ich spürte überhaupt nicht die geringste Lust mehr, von dem siebenfachen Raubmörder zu sprechen.

Nach dieser eindrucksvollen Begegnung mit dem Wendel waren vierzehn Tage vergangen. Es war an einem Sonntag. Eine Freundin meiner Mutter 62 war sehr krank, und Mutter und Großmutter, die wochentags keine Zeit hatten, wollten sie besuchen.

Bevor sie weggingen, schärften sie mir wiederholt ein, mich nicht vom Hause zu entfernen, aber an den Raubmörder dachten sie nicht mehr. Das ganze Dorf war fest überzeugt, daß er sich bereits über die Grenze geflüchtet hatte.

Der Nachmittag war still und schön und voll Sonne. Unsere Kühe weideten im Baumgarten, und ich streifte unter den Pflaumenbäumen hin und suchte nach einer letzten, vergessenen Frucht. Dann legte ich mich ins Gras und besah unser Haus von hinten.

Schön war es nicht, aber für mich voller Geheimnisse, besonders das angebaute Nachbarhaus, und das war es auch, was mich plötzlich ungeheuer fesselte.

Es zeigte eine schmale, braune Holzwand mit einem vergitterten Küchenfenster unten und einem blitzblanken Fenster in der Höhe. Dieses Fenster war meistens offen. Hinter ihm befand sich eine Schlafstube, um die ich die Leute geradezu beneidete, denn dort gab es zwei Betten mit himmelblauen Ueberwürfen. An der Wand hing eine Kuckucksuhr, und auf einem alten Schrank lag eine blitzblanke Trompete.

Ich kannte dieses Zimmer in- und auswendig, denn sobald ich wußte, daß niemand im Hause war, stieg ich an der Bretterwand unserer Scheune 63 in die Höhe, sprang von da auf einen Balken und dann durch das Fenster in das Zimmer hinein.

Es erfüllte mich ein wohliges Gruseln, durch dieses fremde Haus zu wandern, durch diese kleinen, dunklen Stuben zu gehen, die schmale Ofentreppe hinunterzusteigen, alles zu betasten und zu begucken und dann wie aus einem verzauberten Waldhaus wieder zum Fenster hinauszusteigen.

Nie erzählte ich jemand von diesen Wanderungen, denn ich wußte ganz gut, daß ich auf verbotenem Wege ging, obwohl ich in dem Hause nichts tat, als staunen und bewundern.

Und an diesem stillen Sonntagnachmittag kam mir plötzlich der Gedanke, wieder dort oben hineinzusteigen. Ich wußte, daß die Leute Sonntags immer ausgingen und oft ziemlich spät erst wiederkamen.

Ich stand also auf, ging hinunter bis zu unserer Scheune und kletterte in die Höhe. Das Zimmer entzückte mich wie immer. Dann tastete ich mich durch einen schmalen, dunklen Gang hindurch, an dessen Wänden lauter Kleider hingen, die nach Kuhmist rochen. An einem Fensterchen mit schmutzigen Scheiben und Spinnweben blieb ich einen Augenblick wie traumverloren stehen. Dann trat ich in eine große, niedere Stube mit drei Betten und ein paar alten Koffern in der Ecke.

Langsam tappte ich die Treppe hinunter . . . 64 drei Stufen . . . vier Stufen . . . da . . . ich glaube, mein Herzschlag setzte dieses Mal wirklich aus . . .

Eine Kälte kroch mir wie Todesschauer über den Körper bis in die Fingerspitzen hinein, denn dort unten vor dem offenen Eßschrank stand ein Mann, und der Mann war niemand anders als der Wendel . . .

Er drehte mir den Rücken zu und suchte unter den Vorräten. Ich war wie festgenagelt und hatte doch nur den einen Willen: »Zurück! . . . Um alles in der Welt . . . nur zurück!«

Leise, ganz leise und vorsichtig versuchte ich rückwärts wieder hinaufzusteigen.

Da knackte das Holz unter mir . . . Der Mann drehte sich um . . ., und ich jagte wie sinnlos auf und davon . . . der Mann hinter mir her . . . Und dort oben in dem heimeligen Zimmer mit der wunderlichen Kuckucksuhr und der Trompete, das mir aber alles auf einmal gar nicht mehr heimelig vorkam . . . dort holte er mich ein.

Er sah schreckenerregend aus. Die Augen waren gespenstisch groß. Die Haare standen ihm kerzengerade in die Höhe, und die Narbe flammte wie Feuer. Wenigstens sah ich das alles so in meiner Angst.

Ich stand wie gebannt da, streckte die Hände aus und sank dann auf die Knie.

»Tu mir nichts! Tu mir nichts!« stammelte ich und streckte ihm in meiner Todesangst ein kleines 65 Kreuzchen entgegen, das ich mir vom Halse gerissen hatte. Eine katholische Freundin hatte es mir geschenkt und mir gesagt, daß es mich gegen Tod, Teufel und Hölle beschütze.

Der Mann kam auf mich zu, riß mir das Kreuz aus der Hand, sah es an und . . . steckte es in seine Tasche. Dann packte er mich an den Armen, stellte mich auf die Beine und fragte hastig: »Bist du mir nachgeschlichen?«

»O nein,« jammerte ich mit erhobenen Händen, »ich wußte nicht, daß du da bist.«

»Was tust du denn in dem Haus? Gehört es euch?«

»Nein, nein«, beteuerte ich. »Ich komme manchmal ganz allein hier herein.«

»So?« sagte er und trat mir noch näher. »Wolltest du etwa hier mausen?«

Mir kam ein rettender Gedanke in die Seele. »Ja, ja!« gab ich zu und sank wieder auf die Knie. »Ich bin genau wie du ein siebenfacher Raubmörder, . . . wie du . . . bitte, bitte morde mich nicht!«

Unser ganzes Gespräch hat keine Minute, sondern nur Sekunden gedauert. Irgendwo draußen hörte man Menschen sprechen.

Der Wendel jagte hinunter und kam sofort wieder mit einem Bündel in der Hand zurück. Das Bündel warf er auf ein Bett und griff nach einer Blechschachtel, die auf einem Nachttischchen lag. 66 Er öffnete sie und schüttete sich den Inhalt, eine ganze Menge Kleingeld, in die hohle Hand, schob es in die Tasche, trat auf mich zu, stieß mich in eine Ecke gegenüber der Uhr und sagte leise und schnell: »Du bist neulich gut zu mir gewesen. Darum tu ich dir nichts. Eins aber sage ich dir, wenn du jemand erzählst, daß du mich hier gesehen hast, dann . . .«, er packte mich mit zwei Fingern an der Kehle, drückte ein wenig und quiekste dazu. »Du verstehst mich? Also sei still! Und aus diesem Zimmer hier gehst du erst, wenn der kleine Zeiger auf vier steht. Verstanden?«

Ich wollte irgend etwas beteuern, versprechen, aber ich kam gar nicht dazu, denn sprechen und über die Fensterbrüstung springen, waren bei dem Wendel eins.

Ich stand wie angekettet an der Wand und starrte auf die Uhr. Vor meinem Geiste führten Bilder einen wilden Reigen auf. Die blutrote Narbe, das Bündel, das Geld, mein Kreuzchen . . . alles tanzte auf und ab, und dazu spürte ich an meinem Halse den Druck der beiden Finger, als ob mich in Wirklichkeit eine eiserne Zange zusammenklemmte. Und der schreckliche Zeiger dort auf der Uhr! Er wollte und wollte nicht weiter rücken.

Die Ewigkeit von zehn Minuten war vorbei. Meine Aufregung flutete ein wenig ab, denn es war totenstill im Hause, und das liebliche Läuten der Kuhglocken drang von draußen beruhigend 67 wie eine holde Melodie durch das offene Fenster zu mir herein. Schließlich wurde ich mir auch froh bewußt, daß ich gar nicht ermordet war, sondern richtig lebte.

Aber dann jagten mich doch wieder die schrecklichen Vorstellungen. Wenn jetzt die Leute des Hauses zurückkämen! Wenn sie mich hier oben fänden! Dazu unten der geplünderte Eßschrank und dort auf dem Nachttisch die leere Geldschachtel!

Lieber Gott! Was sollte ich tun? Ich mußte ja fort und wagte mich doch nicht zu rühren, denn ich war fest überzeugt, daß der Wendel irgendwo in einem sichern Versteck ganz scharf aufpaßte, ob ich seinem Befehl nachkam oder nicht.

Plötzlich aber hörte ich Stimmen. Eine Gänsehaut lief mir über den Körper. Ich horchte angestrengt, und es sauste und brauste mir in den Ohren. Gott im Himmel! Unten ging die Tür. Die Hausbewohner kamen zurück.

Ich starrte auf die Uhr. Es waren genau zwanzig Minuten nach drei. Ein Satz und ich stand auf dem Bett, faßte den großen Zeiger, drehte ihn bis auf zwölf . . . Die Uhr schlug vier . . . und ich sprang zum Fenster hinaus.

In unserm Baumgarten angelangt, kam ich mir wie auf heiligem Boden vor, und eine grenzenlos wohltuende Ruhe erfüllte mich Es war ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das 68 mich wie Himmelsfrieden nach dem erlebten Schrecken umfing.

Die Welt kam mir plötzlich viel schöner vor als je: die Berge, das Dorf, die stille Straße, der Garten. Alles hatte ein neues Gesicht, und ich fühlte mich wie durch ein Wunder dem Leben wiedergegeben.

In dieser wunderlichen Stimmung setzte ich mich auf die Bank vor unserm Hause und blieb da wohl eine Stunde lang versonnen und benommen.

Dann kamen endlich die Mutter und Großmutter auch wieder heim. Die beiden sahen mich auf der Bank sitzen und schienen sich über meine Sittsamkeit sehr zu freuen. Die Mutter fragte fast ein wenig mitleidig: »Was hast du nur den ganzen Nachmittag so allein gemacht?« Und ich erwiderte sehr bescheiden, indem ich eine unschuldsvolle Miene aufzusetzen versuchte: »Ich habe nur hier gesessen und auf euch gewartet.«

Da sagte die Großmutter gerührt: »Es ist wirklich ein gutes Kind, auf das man sich verlassen kann.«

Und dann nahmen sie mich in die Mitte, und in großer Harmonie gingen wir ins Haus.

An diesem Abend aber war im alten Dorf noch großer Spektakel. Die Frauen standen am Brunnen, die Männer an den Türen und die Kinder auf der Straße zusammen. Es hieß, in unserm Nachbarhause sei eingebrochen worden. 69 Wurst, Speck, Käse, Brot und zehn Franken seien weg! Der Wendel . . . der siebenfache Raubmörder!

Auch die Mutter und die Großmutter waren zu Tode erschrocken. Sie banden den Hund von der Kette los und verriegelten sorgfältig Tür und Tor. Dann brachte die Großmutter die Bibel und las lange Psalmen vor.

Als sie damit fertig war, fragte ich aus einem schweren Nachdenken heraus: »Wird man den Wendel jetzt wohl fangen?«

Die Großmutter antwortete, und es klang wie das Amen nach einem Gebet: »So Gott will, ja«

Ich aber dachte im stillen: »Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist er jetzt auch schon bei seiner Mutter. Dann kriegt er genug zu essen und braucht nicht mehr zu stehlen und zu morden.«

Mit diesem tröstlichen Gedanken bin ich an dem Abend ganz beruhigt zu Bett gegangen . . .

Was aus diesem siebenfachen Raubmörder Wendel wurde, und ob er überhaupt ein Raubmörder gewesen ist, weiß ich nicht. Es interessierte mich aber auch gar nicht mehr, denn meine Neugier war durch die beiden Begegnungen in einer solchen Weise befriedigt worden, daß ich für lange Zeit genug hatte. – 70

 


 


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