Ina Jens
Manuelitos Glücksfall
Ina Jens

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Bei der Señora Mercedes

Gerade als Manuelito in den Pasaje Nr. 4 einbiegen wollte, stieß er mit der Madrina zusammen. Er hatte sie nicht mehr genau im Gedächtnis, aber sie erkannte ihn auf den ersten Blick.

»Manueli-i-i-to!« Er wurde umarmt und geküßt. »Wie geht es dir, mein Söhnchen? Stelle dir vor, ich mußte ganz plötzlich nach Santiago fahren. Mein armer Sohn, mein Fernandito, war s-o-o-o krank! Beinah ist er gestorben. Jesus und Maria! Was war das für ein Schrecken! Aber jetzt ist er Gott sei Dank wieder gesund . . . Und deine arme Mutter . . .« Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. »Ich habe sie so gern gehabt! Sie war aber auch eine so gute Frau! 59 Ein Engel! . . . Armer Junge! Wo bist du denn die ganze Zeit über gewesen?«

Ein prüfender Blick traf ihn, und er antwortete ausweichend: »Oh . . . hier und dort.«

Da wurde sie aufmerksam. »Mein Gott! Wie siehst du aus? Was ist denn mit dir geschehen?«

Sie schien auf einmal allerlei zu verstehen. »Komm!« sagte sie entschieden und schob ihn in ihre Wohnung, zuerst in die Yerberia und dann in eine kleine Küche mit einem schmalen Höfchen davor.

»So!« Sie goß Wasser in eine große Schüssel, stellte sie auf einen Stuhl, gab ihm ein Stück Seife und ein Handtuch. »Jetzt wäschst du dich erst und dann trinken wir.«

Sie setzte den Teekessel auf, stellte zwei Tassen, eine Zuckerdose und frisches Brot auf den Tisch neben dem Kohlenherd.

Manuelito wusch sich draußen das Gesicht. »Zieh die Jacke aus, und wasch dich ordentlich!« rief die Madrina, kramte in einem Koffer herum und holte ein Blusenhemd heraus, verglich dessen Größe mit der des Jungen und sagte: »Hier, zieh dieses saubere Hemd an! Es paßt dir. Das ist noch von meinem Jüngsten. Deine Hose putze ich, wenn du im Bett liegst.«

Als er sich setzen wollte, nahm sie einen Kamm und brachte auch sein zerzaustes Haar in Ordnung.

»Mein Gott!« jammerte sie. »Wenn deine Mutter dich so gesehen hätte, wie du vorhin warst!«

Endlich saßen sie am Tisch. Sie warf drei Stücke Zucker in seine Tasse, schenkte ihm heißen Tee ein und schob ihm ein frisches Brötchen hin. Dann tranken und sprachen sie miteinander. Er mußte ihr viel von der Krankheit der Mutter und vom Begräbnis erzählen. 60

»Niemand hat mir auch nur ein Wörtchen davon gesagt, daß sie gestorben ist. Erst nachher, als du im Krankenhaus warst, haben sie mich gefunden. Ich sagte gleich, daß ich dich zu mir nehmen würde, aber dann mußte ich ja weg. Jetzt sage mir aber offen und ehrlich, wie und wo du diese letzten vierzehn Tage verbracht hast!«

Ein wenig zögernd erwiderte er wie vorhin: »Oh . . . eben hier und dort.«

»Hier und dort ist nichts,« erklärte sie. »Sicher bist du während der ganzen Zeit auf der Straße gewesen?« Er nickte stumm.

»Mit wem hast du dich denn da herumgetrieben?«

»Mit dem Lagarto.«

»Mit dem Lagarto?« Sie dachte nach. »Ist das etwa der Luis Ovillo?« Er bejahte schuldbewußt.

»Manuelito,« ihre Stimme wurde eindringlich. »Der Luis Ovillo ist der gefährlichste Roto, der auf Gottes weiter Erde herumläuft. Den kenne ich. Hüte dich vor dem, sonst bist du verloren.«

Er glaubte ihr aufs Wort und erwiderte: »Der Lagarto und ich sind auseinander.«

»Das ist gut,« lobte sie beruhigt. »Das Schlimmste, was ein Junge, wie du es bist, tun kann, ist, sich mit der Bande dieser Straßenjungen gemein zu machen.«

Sie erzählte ihm dann von ihrer eigenen Familie. Ihr Mann war gestorben, aber sie hatte vier Söhne, und alle arbeiteten, der eine in einem Lagerraum im Hafen, der andere in einer Kupfermine im Norden, der dritte als Schofför und der vierte, der Fernando, in einer Oficina auf einem Bahnhof in Santiago.

»Die drei Jüngeren kümmern sich nicht um mich . . . Ach, 61 ach!« seufzte sie. »Aber der Fernandito,« ihr Gesicht hellte sich auf, »der ist gut. Jeden Monat schickt er mir dreißig Pesos für die Miete der Wohnung.«

Manuelito hörte aufmerksam zu und stellte auch hin und wieder eine vernünftige Frage.

Als sie fertig getrunken hatten, zeigte sie ihm ihre Wohnung. Neben der Küche waren zwei winzige Stuben, in jeder knapp Platz für ein Bett und einen Stuhl.

»Hier kannst du schlafen, wenigstens solange keiner meiner Jungen da ist.«

Dann gingen sie in die Yerberia. Ein wunderbarer Duft erfüllte den kleinen Raum. Da roch es nach getrockneten Gräsern, nach Hölzern und Feldblumen. Rechts und links stiegen vom Boden bis zur Decke Gestelle mit lauter viereckigen, offenen Abteilungen auf, in welchen die verschiedensten Heilkräuter, zu kleinen Bündeln gepackt, lagen.

Manuelito sah staunend an den Hunderten von Päckchen empor.

»Für welche Krankheiten hast du Heilkräuter?« fragte er interessiert.

Sie behauptete großartig: »Für alle.«

»Für alle?« Sein Staunen wuchs.

»Für alle,« wiederholte sie, nahm aus verschiedenen Fächern kleine Bündel heraus und erklärte: »Das ist Boldo für Rheumatismus, hier Viravira für die Brust, Pingopingo für die Nieren, Menta und Paico für den Magen –« So ging es sachkundig eine ganze Weile weiter, bis der Knabe sie unterbrach: »Wieviel hast du im ganzen?«

»Im ganzen?« Sie dachte nach. »Im ganzen habe ich vierhundersiebenundachtzig. Das sind aber lange nicht alle. In den Bergen gibt es mehr als zweitausend.« 63

»Und wer bringt sie dir?«

»Die Leute vom Campo. Die suchen die Kräuter, trocknen sie und bringen sie in Säcken zur Stadt.«

»Verdienst du viel damit?«

»So . . so . . Es reicht gerade zum Leben. Die Leute trinken gern von diesen Wässerchen. Sieh, dieses hier ist Medizintee. Der hilft für jede Krankheit und schmeckt großartig.«

Mittlerweile kamen Kunden, sprachen von ihren Leiden und kauften dieses und jenes. Manuelito blieb den ganzen Vormittag in dieser gemütlichen Yerberia und fand es bei seiner Madrina über Erwarten schön.

Am Mittag saßen sie dann wieder beisammen in der Küche, aßen eine gute Suppe und einen ordentlichen Teller voll weißer Bohnen, und da sagte die Madrina: »Du weißt nun, wie das bei mir ist, und wie ich hier lebe, Manuelito. Du scheinst ein guter Junge zu sein und kannst gerne bei mir bleiben, aber natürlich nicht zum Faulenzen. Du mußt dir irgendeine Beschäftigung suchen; denn die Zeiten sind schwer, und alles ist teuer geworden.«

Er wußte das sehr gut und stimmte ihr sofort bei. »Ich werde schon Arbeit finden,« meinte er zuversichtlich. »Ich kann ja Schuhe putzen oder Zeitungen verkaufen.«

»Nein, nein! Das auf keinen Fall!« wehrte sie. »Du sollst nicht auf die Straße. Ich werde dir etwas besorgen. Sei nur getrost!«

Als er an diesem Abend in dem engen Zimmerchen neben der Yerberia im Bette lag, war er dem Schicksal, das ihn nach den Entbehrungen, dem Schmutz, der Angst und den Unruhen der vergangenen Tage hiehergeführt hatte, unendlich dankbar. Besonders gefiel ihm seine Madrina, denn sie hatte ein so freundliches Gesicht und sprach fast wie seine Mutter. 64

Und während er das alles überdachte, hörte er mit einem Male ein vertrautes Geräusch um und über sich. Genau so hatte es auch vor nicht so langer Zeit oben auf dem Berge geweht und getropft. Es regnete, regnete plötzlich, was vom Himmel herunter konnte. Irgendwo gurgelte das Wasser in einer Dachrinne, aber in seine Stube drang kein Tropfen. Das Gefühl des Geborgenseins wallte warm in ihm auf. Oh Gott, wenn er in dieser Sturmnacht in der Wasserleitungsröhre neben der Brücke gelegen hätte!

Am nächsten Morgen war das Unwetter vorbei, und eine mit ihrer milden Wärme alles durchdringende Sonne strahlte vom tiefblauen, wolkenlosen Himmel hernieder.

Auf dem Verkaufstisch in der Yerberia lag ein schöner Strauß goldgelber Aromoblüten, und während er den wunderbaren Frühlingsduft einatmete, sagte die Madrina, sie habe ihm seinen Anzug in Ordnung gebracht und er solle sich jetzt ganz fein machen, denn er müsse ihr einen Auftrag ausrichten.

Als er dann frisch und sauber vor ihr stand, gab sie ihm einen Brief, ein Päckchen Medizintee und den Aromostrauß und sagte: »Jetzt gehst du zuerst bis an das Ende unserer Straße und dann den Berg hinauf.« Sie beschrieb ihm den Weg genau. »Dort kommst du an ein großes, eisernes Tor. Dahinter steht ein riesiger Ceibo, und auf dem Rasen sind zwei herrliche Farne. Ein wenig weiter hinten ist ein graues Haus mit hohen Fenstern. Da wohnt eine reiche Dame, die Señora Mercedes, bei der ist schon mehr als dreißig Jahre lang eine Freundin von mir angestellt. Sie hat in dem Hause viel zu sagen, weißt du, und wenn man dir öffnet, fragst du nur nach der Señora Clementina, und wenn sie kommt – du kennst sie gleich an ihrem weißen Haar –, dann sagst du: 65 ›Einen schönen Gruß von der Señora Rosa, und da schickt sie diesen Brief, das Paketchen und die Blumen.‹«

So ging Manuelito denn sauber gekleidet und rein gewaschen mit dem Strauß im Arm über die Plaza. Alles leuchtete, grünte und blühte ringsum; aber er hielt sich nirgends auf, denn er wollte niemandem begegnen, am wenigsten dem Lagarto.

Auf dem Berge fand er sofort das Haus der Señora Mercedes, drückte auf einen Knopf neben dem großen Tor und wartete. Es dauerte nicht lange, so kam eine hagere Frau in einem schwarzen Kleide und mit ganz weißem Haar durch 66 den Garten. Er erkannte in ihr gleich die Señora Clementina, und als sie öffnete, reichte er ihr den Brief.

Aufmerksam las sie ihn durch, und dann wurde sie freundlich: »Also du möchtest hier bei uns arbeiten?«

Überrascht sah er sie an. Er hatte ja keine Ahnung von dem, was in dem Brief stand, aber rasch erriet er den Zusammenhang und nickte.

Da nahm sie den Tee und die Blumen und sagte: »Vielen Dank, mein Junge! Grüße die Señora Rosa von mir und sage ihr, ich käme morgen selbst bei ihr vorbei.«

Zu Hause richtete er seinen Auftrag aus, und die Madrina prophezeite ihm hocherfreut: »Du kannst sicher sein, daß du dort angestellt wirst. Die Señora Clementina ist nämlich eine furchtbar gute Frau und hat in dem Haushalt ganz allein zu befehlen. Niemand hat ihr etwas dreinzureden. Du mußt dir das nur vorstellen! Ein Riesenhaus und zehn Angestellte für eine einzige alte Frau!«

Sie schüttelte den Kopf und seufzte: »Ach, ach! War das damals eine traurige Geschichte! Jesus und Maria! Die Señora Mercedes ist ja seither nicht mehr richtig im Kopf; aber so geht es eben auf der Welt. Nicht nur die Armen, auch die Reichen haben ihr Kreuz zu tragen, und der Herrgott im Himmel macht es ihnen nicht immer so leicht, wie man denkt.«

»Was ist denn mit der Señora Mercedes, Madrina?« fragte Manuelito.

»Die Señora Mercedes hat ihren Mann, ihren zwölfjährigen Jungen und ein Mädchen von vier Jahren an einem Tage verloren.«

Ergriffen von der Erinnerung an dieses Unglück, konnte sie eine Weile gar nicht weitersprechen. 67

»Wieso, Madrina?« Manuelito mußte zweimal fragen, bis sie fortfuhr:

»Sie haben da in der Nähe von Santiago einen großen Fundo, auf dem sie immer die Sommermonate verbrachten. An einem Sonntagmorgen fuhr der Herr mit den beiden Kindern in die Stadt. Kurz vor einer Brücke versagte die Steuerung, und das Auto stürzte in einen tiefen Kanal. Alle sind umgekommen, auch der Schofför.«

»Und die Frau?« Manuelito bekam ganz entsetzte Augen.

»Die Frau war zu Hause, aber als sie von dem Unglück hörte, ist sie irrsinnig geworden. Viele Jahre lebte sie in einem Sanatorium. Dann kam sie wieder nach Viña del Mar, aber sie wollte keinen fremden Menschen mehr sehen. Nur die Dienstboten sind um sie geblieben, und in dem Hause durfte nichts verändert werden. Alles sollte so bleiben, wie es war, das Herrenzimmer, die Schlafstuben, und jeden Tag werden die Betten gemacht, als ob alle noch lebten.« –

Am folgenden Nachmittage erschien dann wirklich die Señora Clementina in der Yerberia. Sie brachte Kuchen und Früchte, trank mit der Señora Rosa Tee, und als sie wegging, nahm sie den Jungen mit. Genau konnte sie nicht sagen, was für Arbeit er zu verrichten hätte, aber sie meinte, es sei nicht allzuschwer, und er würde es gut haben.

In der Quinta Margarita, so hieß das Haus der Señora Mercedes, wurde ihm ganz abseits vom Herrschaftshause ein kleines Zimmer über einer unbenutzten Garage angewiesen. Gleich am ersten Abend lernte er die übrigen Dienstboten kennen. Sie saßen an einem großen Tisch in einem Raume neben der Küche. Wie in einem Hotel wurde das Essen aufgetragen, und Manuelito erschien alles furchtbar fein. 68

Dann aber geschah plötzlich etwas so Schreckliches, daß ihm beinah der Bissen im Halse stecken blieb. Ein alter Diener, den sie Floridor nannten, kam herein, sah ihn, stutzte und fuhr die Clementina an: »Was für einen Gauner hast du uns da wieder aufgehalst?«

Ruhig antwortete diese: »Erstens ist das kein Gauner, und zweitens habe ich ihn niemandem aufgehalst, sondern hier angestellt.«

Da stand der Floridor auf, ließ sein Essen stehen und ging hinaus.

Manuelito zitterte vom Kopf bis zu den Füßen; aber nachher sagte ihm die Clementina: »Kümmere dich nicht um diesen alten Kerl! Der ist nun einmal so; aber auf alle Fälle, wenn dir etwas geschieht, so wende dich nur an mich!«

Da war er beruhigt, ging durch den Garten bis zu der alten Garage, stieg die Treppe hinauf und verschloß sich in seinem Stübchen.

Licht gab es darin keines, aber eine große Bogenlampe, die vor dem Fenster stand, warf hellen Schein hinein. Als er im Bett lag, hörte er aus der Tiefe das Rauschen des Meeres. Erinnerungen stürmten über seine junge Seele hin und brachten ihm beängstigend seine grenzenlose Verlassenheit zum Bewußtsein; aber er biß die Zähne zusammen, wollte tapfer sein und nahm sich fest vor, an diesem neuen Orte fleißig zu sein und diesem schrecklichen Floridor möglichst aus dem Wege zu gehen.

Die Arbeit, die er dann in der Folge zu leisten hatte, war zwar mannigfaltig, aber leicht. Bald mußte er eine Hecke blühender Geranien von ihren vertrockneten Blättern und Stielchen säubern. Bald rechte er die langen Wege unter den Bäumen, sammelte welkes Laub auf den weiten 69 Rasenflächen, putzte Türklinken blank, staubte Bilderrahmen ab oder machte Botengänge.

An einem Sonntagnachmittag, als die meisten Angestellten ausgegangen waren, machte die Clementina mit ihm einen Gang durch das Haus. Sie zeigte ihm allerlei, und er staunte hier und dort, besonders in den beiden Sälen mit den dicken Perserteppichen, den herrlichen Marmorfiguren und den blitzenden Kronleuchtern.

Als sie seine großen Augen sah, erzählte sie leise: »Früher, als der Herr noch lebte, wurden in diesem Hause oft viele Menschen eingeladen, und manchmal haben zweihundert Paare hier getanzt. Ja, wenn man daran denkt und sieht, wie vereinsamt heute alles ist, kann man wirklich traurig werden.«

Aus diesen Räumen traten sie in eine weite Halle mit feinen Rokokomöbeln und dunkelroten Teppichen. In der Mitte erhob sich eine gewaltige Bronzefigur: ein sterbender Krieger in Lebensgröße und neben ihm sein Pferd. Großartig war das anzusehen, und Manuelito kam es vor, als sei er in eine verwunschene Welt geraten.

In einem kleinen Flur entdeckte er ein vollgeschriebenes Papier, das in einem Rahmen an der Wand hing, und er versuchte, es zu entziffern. Da erklärte ihm die Clementina: »Das ist so etwas Ähnliches wie ein Stundenplan in der Schule. Hier findest du die Namen aller Angestellten. Sieh, das sind die beiden Zimmermädchen, die Juana und die Feliza, dieses die zwei Handmädchen Ester und Anita, hier die Köchin Clotilda, die beiden Gärtner Rául und Pedro, der alte Floridor, der Schofför Benito. Hier ist die Zeit angegeben, und daneben steht, was jeder zur bestimmten Stunde zu tun hat. Wenn dieser Plan nicht wäre, ginge nicht alles so ordentlich 70 und ruhig in diesem großen Hause zu. Das kannst du dir doch denken.«

Manuelito nickte und schritt leise neben der Clementina weiter. Sie kamen an einer mit Vorhängen verdeckten Tür vorbei, und die Clementina flüsterte: »Hier sind die Zimmer unserer Herrin. Nach vorn ist eine große Terrasse mit Büschen, kleinen Bäumen, Farnen und Blumen, und wenn sie ganz gesund ist, sitzt sie manchmal dort und liest oder blickt aufs Meer hinaus.«

»Hat sie denn gar niemanden mehr?«

»Oh, du lieber Himmel!« machte die Clementina. »Die Familie ist riesengroß, aber niemand ist hier. Alle leben in Paris. Nur selten kommen sie auf einen kurzen Besuch nach Chile, und dann bleiben sie meistens in Santiago. Aber die Señora will auch von ihnen nichts wissen. Sie ist eben krank und kann das große Unglück nicht vergessen.«

»Und geht sie nie aus?«

»Kaum. Nur einmal im Monat, wenn das Wetter gerade schön ist. Dann fährt sie auf den Friedhof nach Valparaiso und bringt Blumen für ihre Toten hin. Sie hat ein prachtvolles Mausoleum. Darin liegen ihr Mann und ihre beiden Kinder.«

»Und bekommt sie nie, nie Besuch?«

»Sie will keinen. Nur zu Weihnachten gibt sie ein kleines Fest. Dann kommen etwa zwanzig arme Kinder und werden beschert. Natürlich alle nur von Familien, die sie kennt und die früher bei ihr gedient haben. Sie schickt aber auch ganze Wagen voll Lebensmittel und Kleider in die Waisenhäuser und zu den Nonnen.«

Nach diesem interessanten und, wie es Manuelito schien, geheimnisvollen Gang durch das schöne Haus, war er fast ein wenig stolz darauf, daß auch er in diesen Betrieb 71 hineingehörte und daß er bei einer so reichen Dame angestellt war, obwohl er dieselbe noch nie gesehen hatte.

Aber dieses Gefühl genoß er nicht ungetrübt; denn da war einer in dem Hause, der bei der geringsten Gelegenheit dafür sorgte, daß dieses kleine Flämmchen im Herzen des Kindes wie vor einem rauhen Windhauch erlosch. Das war der Floridor.

Einmal hatte Manuelito von der Clementina den Auftrag erhalten, Blumen zu pflücken. Er kniete im Garten am Boden, ordnete den Strauß und pfiff dazu. Da ging der Floridor vorbei und herrschte ihn an: »Was pfeifst du! . . . Du Galgenvogel!« 72

Manuelito tat, als hätte er nichts gehört; aber als der Alte vorbei war, sagte er: »Weil's mich freut.«

Da kam der andere zurück und gab ihm eine so kräftige Ohrfeige, daß er kopfüber ins Gras flog. »Dreckiger Roto!« schnaubte er. »Nun pfeife weiter, wenn du Lust hast!«

Ein paar Tage später saß er auf der Treppe, die an der Hinterseite des Hauses in den Garten führte, und machte einen Brasero zurecht. Er schürte die Glut und hatte nicht bemerkt, daß jemand von oben kam, dem er den Weg versperrte. So erhielt er denn ganz unversehens einen Stoß in den Rücken, daß er mit beiden Händen in die brennenden Kohlen fuhr und sich jämmerlich verbrannte. Da ging er zur Clementina und sagte es ihr.

Diese suchte den Floridor auf. »Du schamloser Mensch!« empörte sie sich. »Wenn du dem Kinde noch ein einziges Mal etwas zuleide tust, spreche ich mit der Señora.«

»Von mir aus zehnmal!« höhnte der andere. »Und mit der Señora sprechen kann ich genau so gut wie du. Du weißt ganz genau, daß sie keinen Roto im Hause duldet.«

»Das ist kein Roto, aber du, weißt du, was du bist? . . . Neidisch bist du wie sieben Teufel. Pfui! . . . Du magst es dem Kinde von der Maria und dem Juan López nicht gönnen, daß es hier atmet, weil du deinen mißratenen Neffen hereinbringen wolltest und es dir nicht gelungen ist. Das ist das Ganze.«

Er warf ihr ein Schimpfwort ins Gesicht und ließ sie stehen, aber in seinem Herzen schwor er dem Jungen Rache.

Mittlerweile war der Frühling ins Land gezogen, und der chilenische Nationalfeiertag stand vor der Tür. Das ist der achtzehnte September, aber dieser »Achtzehnte« beginnt meistens schon am sechzehnten und dauert bis in den 73 zwanzigsten hinein. Im ganzen Lande wird er gefeiert, und nie trinken, essen, singen, spielen und tanzen die Menschen so viel wie in diesen Tagen, die nicht nur geschichtliche Bedeutung haben, sondern auch mit dem herrlichen Erwachen der Natur zusammenfallen.

Der siebzehnte stieg in jenem Jahr als ein wirklich goldener Frühlingstag auf. Überall duftete es nach jungem Grün und blühenden Bäumen. Leicht und schön bewegte sich die rote Fahne mit dem weißen Stern auf blauem Grunde am Giebel des Daches in der Quinta Margarita, und aus der nahen Stadt erklangen die Töne der Militärmusik.

Verschiedene von den Angestellten waren ausgegangen, und im Hause und im Garten war es noch stiller als sonst. Manuelito schlenderte zwischen den Bäumen dahin, spielte eine Weile mit einem Kreisel und setzte sich dann auf eine Bank in der Nähe der großen Terrasse.

Sein Blick schweifte in die Ferne. Regungslos lag die blaue Meeresfläche da, und wunderbar fein und wie mit Gold überhaucht zeichneten sich die Berge und Dünen vom Horizonte ab.

Keine Menschenseele war weit und breit. Nur die Flut rauschte leise in der Tiefe, und durch die blaue Frühlingsluft flogen Möwen dem Meere zu.

Da begann er zu singen, unbewußt unter dem zauberhaften Eindruck des stillen Nachmittags. Es war sein Lieblingslied, das ihm wie von selbst aus dem Herzen auf die Lippen kam. »Mi caballo murió . . . Mi alegria se fué . . . Mein Pferd ist tot . . . Meine Freude ist dahin . . .« Ein Pampareiter trauert um seinen treuen Gefährten, um sein totes Pferd, das jahrelang Freud und Leid, Hunger und Entbehrungen aller Art mit ihm geteilt und ihn nun verlassen hat. Drei kleine Strophen 74 waren es, und jede schloß mit der Klage: »Mi caballo murió . . . Mi alegria se fué . . .«

Manuelito sang es mit Ausdruck und Empfindung, nicht wie Kinder singen, die dem Sinn der Worte nicht nachdenken; aber er hatte keine Ahnung, daß nur zwei Fenster weiter das Lied zu seltsamer Auswirkung kam.

Die Señora Mercedes hatte ihm zugehört. Ferne Erinnerungen tauchten in ihr auf, und als die Stimme verklang, bedauerte sie es.

Sie rief die Clementina: »Clementina, wer hat soeben im Garten gesungen?«

»Gesungen?« Die Clementina wußte es nicht. »Ich habe nichts gehört, Señora. Sicher war es nicht bei uns.«

»Doch, doch! Nicht weit von der Terrasse. Es war eine Kinderstimme, aber unendlich lieblich.«

Wie aus einer nebelhaften Ferne kommend, stieg im Gehirn der Clementina ein Gedanke auf. »Vielleicht . . . der Manuelito . . .« Eigentlich hielt sie das für ganz ausgeschlossen; aber um ihrer Herrin gefällig zu sein, sagte sie: »Ich kann ja nachsehen . . . Es ist sonst niemand im Hause, der singt.«

Selten war die Clementina so rasch durch Haus und Garten gegangen wie eben jetzt. Manuelito saß auf einer Bank und ließ den Kreisel tanzen.

»Manuelito, hast du vorhin gesungen?«

Er blickte sie an und gestand verlegen: »Ja . . . Habe ich gestört?«

»Nein, nein! Im Gegenteil! Die Señora hat dich gehört und sagt, du solltest zu ihr kommen.«

Er lächelte, stand sofort auf und ging mit der Clementina ins Haus. Immer wieder mußte sie ihn ansehen. 75

»Manuelito!« sagte sie, kurz bevor sie in das Zimmer der Señora traten: »Sag mal ehrlich! Hast wirklich du gesungen, oder war es ein anderer?«

»Wer denn sonst?«

»Kannst du denn singen?«

Er hob ein wenig die Schultern und meinte: »Ich weiß nicht . . . So ein bißchen schon.«

Ach Gott, wenn das nur gut ablief! Sie kannte ihre Herrin und wußte, daß die geringste Enttäuschung ihr schadete. Unsicher öffnete sie die Tür und ließ ihn allein eintreten.

Zum ersten Male stand der Knabe dieser Frau gegenüber, und Verlegenheit und Scheu schwanden wie Schatten vor der Sonne. Er sah in ein bleiches, aber schönes und gütiges Antlitz, und ein kurzes Gespräch ging zwischen ihnen.

»Hast du vorhin da drüben im Garten gesungen?«

»Ja, Señora.«

»Wie heißt du?«

»Manuel López.«

»Wer sind deine Eltern?«

»Ich habe keine Eltern, Señora. Mein Vater war Maschinist auf dem ›Cautín‹ und ging mit dem Schiff unter, und meine Mutter ist vor drei Monaten gestorben.«

»Kannst du noch mehr solche Lieder, wie du da vorhin eines gesungen hast?«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht: »Oh . . . s-o-o-o v-i-ie-le, Señora!«

Auch die Züge der alten Dame erhellte ein flüchtiger Schimmer. »Würdest du, wenn ich es gerade wünsche, wieder so ein Lied draußen im Garten singen?«

»Mit Vergnügen, Señora.« 76

»Schön . . . Laß dir von der Clementina etwas Süßes geben! . . . Du kannst gehen.« Er war entlassen.

Draußen wartete die Clementina. »Wie war's?« Er meinte: »Ganz nett,« und lachte, »du sollst mir etwas Süßes geben.«

Das konnte sie wieder nicht fassen, und ohne ihn weiter zu beachten, ging sie in das Zimmer der Herrin.

»Clementina!« sagte diese. »Paß auf dieses Kind auf! Beobachte es gut! Ich muß erst wissen, ob es etwas taugt. Falls es innerlich ebenso gut ist, wie es äußerlich den Eindruck macht, werde ich mich seiner annehmen . . . Der Knabe hat ja eine prachtvolle Stimme!«

Der Clementina fielen Zentnerlasten von der Seele, und zu dem Jungen sagte sie nachher: »Manuelito! Glaube mir, ein guter Stern hat dich in dieses Haus geführt. Du wirst noch an diesen Nachmittag und an meine Worte denken.« Damit schob sie ihm ein ordentliches Stück Schokolade in die Hand und fuhr ihm liebevoll über seine wirren Locken.

Am nächsten Tage, dem richtigen »Dieciocho«, hatte er Erlaubnis auszugehen. Er wollte seine Madrina besuchen. Als er vor dem Pasaje Nr. 4 ankam, sah er dort ein etwas klapperiges Auto stehen. Darin befanden sich seine Madrina, zwei ihrer Söhne, eine Bekannte und ein mächtiger Korb voll Eßwaren. Sie wollten an einen kleinen See in der Nähe der Stadt zu einem Picknick fahren. Manuelito wurde jubelnd dazugepackt, und dann ging es dem »Tranque« zu.

Dort war schrecklich viel Volk, und überall herrschte fröhlichste Stimmung. Manuelito fuhr in einem Boot auf dem Wasser umher, und nachher gab es reichlich zu essen: Empanadas, Hühnerbraten, Eier, Süßigkeiten und Früchte.

Erst bei dämmernder Nacht kehrten sie zurück, und da mußte er noch zum Abendbrot bleiben. Als er dann endlich 77 in der Quinta Margarita ankam, war es schon elf Uhr. Er ging durch den vom Mondlicht erhellten Garten, und da fiel ihm plötzlich eine kleine Pflicht ein, die er zu erfüllen vergessen hatte. Er verwahrte den Schlüssel für die Hintertür des Gartens und mußte diesen jeden Abend an eine Tafel hängen, wo sich immer sämtliche Schlüssel des Hauses zusammenfanden.

Leise ging er um das Haus herum, bat den alten Rául, ihm zu öffnen und schlich auf den Zehenspitzen durch den Flur. Überall herrschte Totenstille. Alles schien zu schlafen; aber als er die kleine Halle durchquerte, an welcher auch die Zimmer der Herrin lagen, stieß er mit dem Floridor zusammen. Er erschrak und blieb wie festgenagelt stehen.

»Was suchst du um diese Stunde noch hier herum? Eh? Du Lausbub! Schlechte Absichten? Hm?«

Ein kalter Schauer lief ihm vom Kopf bis zu den Füßen, aber kein Wort kam über seine bebenden Lippen. Wie unter einem fremden Zwange bewegte er sich vorwärts bis zur Wand, hängte den Schlüssel auf und ging, ohne sich umzusehen, hinaus.

In seinem Zimmer aber wälzte er sich schlaflos hin und her. Die Begegnung mit dem alten, bösen Manne und dessen schreckliche Worte erfüllten seine kindliche Seele mit einer unaussprechlichen Angst. Was meinte der mit den schlechten Absichten? Ihm war es plötzlich, als drohten ihm von allen Seiten Gefahren.

Und wirklich! Noch bevor der Monat zu Ende ging, ereigneten sich in dem sonst so stillen Hause ganz ungeahnt schwere Vorfälle, die auch ihn empfindlich trafen.

Gleich nach den Feiertagen schien es Manuelito, als sei um ihn herum mit einem Male alles anders geworden. Die 78 Clementina ging verhärmt und wortkarg umher. Am Tische wurde kaum oder nur leise gesprochen, und eigentümliche Blicke streiften ihn dabei. Niemand gab ihm mehr ein freundliches Wort. Niemand rief ihn zum Helfen.

Zwei Tage lang hielt er das schweigend aus. Dann nahm er sich zusammen und ging zu der Clementina.

»Clementina, was ist hier los? Warum sind alle gegen mich?«

Sie warf ein paar Worte hin, die viel und auch gar nichts sagten: »Ja, was soll man noch lange darüber reden! . . . Es ist eben schrecklich.« Sie seufzte und schwieg.

»Clementina, wenn du es mir nicht sagst, gehe ich fort.«

Wahrscheinlich wurde es ihr klar, daß der Junge ein Recht hatte zu fragen und daß sie ihm auch antworten mußte, und so hörte er es denn.

»Der Señora fehlt ein kostbarer Ring in ihrem kleinen Schmuckkasten. Er lag auf dem Toilettentisch im Nebenzimmer . . . Aber hier im Hause sind nur ehrliche Menschen . . . Alle sind während vieler Jahre erprobt.« Sie sah den Knaben schmerzlich an: »Der Floridor sagt, er habe dich am »Achtzehnten« ganz spät im Hause herumschleichen sehen.«

In das Gesicht des Jungen trat ein merkwürdiger Ausdruck. Es waren nicht mehr die Züge eines Kindes, sondern es war das ernste Antlitz eines Erwachsenen, in welchem die dunklen Augen wie zwei Flammen loderten.

»Clementina, beim Andenken an meine tote Mutter und an meinen Vater schwöre ich dir, daß ich nie etwas von der Señora Mercedes angerührt oder weggenommen habe.«

Als sie schwieg, fügte er noch hinzu: »Der Floridor ist ein schlechter Mensch, und Gott wird ihn dafür bestrafen.«

Da zog sie ihn an sich. »Ich glaube dir ja, Manuelito. Es 79 ist undenkbar, daß jemand unserer Herrin so etwas antun könnte.« Dabei weinte sie, und er war nicht ganz überzeugt, daß sie an seine Unschuld glaubte.

Verlegen fuhr er ihr mit der Hand über die Schulter und sagte: »Gute Nacht!« Es klang unendlich traurig, so wie ein Großer es sagt, wenn er weiß, daß alle Worte überflüssig sind.

Am nächsten Morgen rief ihn die Clementina. »Du sollst zur Herrin kommen.«

Ruhig trat er in das Zimmer. Die Señora saß in einem Lehnstuhl am Fenster, und er blieb wartend an der Tür stehen.

»Tritt näher, Knabe!« forderte sie ihn auf.

Er ging bis zur Mitte und verharrte dort, die Augen groß und fragend auf die Frau gerichtet.

»Was tatest du am ›Achtzehnten‹ abends um elf Uhr in der kleinen Halle?«

»Ich habe den Schlüssel für die Hintertür des Gartens aufgehängt.«

»Warum so spät?«

»Ich war bei der Madrina und kam erst um elf Uhr nach Hause. Da merkte ich, daß ich den Schlüssel vergessen hatte.«

Unverwandt sah die Frau ihn an. »Weißt du, daß jedes Unrecht, das wir Menschen begehen, seine Strafe findet?«

»Ja, Herrin. Das weiß ich.«

Ein langes Schweigen folgte diesen Worten; aber dann sprach die leise Stimme wieder: »Ich habe einen Ring verloren . . . Er hat keinen großen Wert, aber für mich ist sein Verlust sehr schmerzlich; denn jemand, den ich liebte, hat ihn mir geschenkt . . . Wenn du also etwas von diesem Ringe siehst oder hörst, so melde es mir!« 80

Die Augen des Knaben weiteten sich, und die Frau versenkte ihre Blicke lange und tief in dieselben, so als wolle sie bis auf den Grund der Seele dringen.

Manuelito stieg es brennend zum Herzen. Er mußte sprechen, erklären, schreien, daß er unschuldig war, aber als er die Lippen öffnete, hauchte er nur: »Señora . . .«

Sie machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand: »Du kannst gehen.«

Unhörbar wie ein Schatten schritt er über den Teppich, eilte über den langen Flur, durch den Garten und in sein Zimmer.

Verzweifelt warf er sich dort auf das Bett, weinte, biß in die Decke, um nicht laut aufzuschreien. So edel, so freundlich war die Señora! Und er sollte . . . Wie Eiseskälte rann es ihm durch den ganzen Körper. »Vater! Mutter! Steht mir bei! Helft, denn ich bin doch unschuldig! Oh, laßt diesen Ring wieder erscheinen!«

Aber dann geschah etwas noch viel Traurigeres, als es die Angelegenheit wegen dieses verschwundenen Ringes war. Die Señora Mercedes erkrankte und zwar ernster als je zuvor. Ungeheure Aufregung herrschte im ganzen Hause. Ärzte kamen. Telegramme wurden verschickt. Manuelito jagte hierhin und dorthin, und darüber wurde alles andere vergessen. Jeder Gedanke, jedes Wort drehte sich nur um den Zustand der Herrin.

Aber vergebens! An einem wunderbaren Morgen im Monat Oktober, als im Garten alle Rosen aufgeblüht waren und die kleinen Zorzales ihr lustigstes Konzert in den Palmen vor der golden besonnten Terrasse gaben, fuhr es wie ein elektrischer Schlag durch das ganze Haus: Die Herrin war entschlafen. 81

Ein fieberhaftes Rennen und Hasten begann. Was mußte nicht alles besorgt werden! Ein prachtvoller Sarg mit Gold- und Silberbeschlag wurde gebracht und die Leiche in einem der Säle aufgebahrt. Die Gärtner arbeiteten lautlos in den großen Räumen und verwandelten sie in ein weißes Blumenparadies. Palmen schmückten die Wände. Riesige Kerzen brannten. Ein hohes, silbernes Kreuz leuchtete zu Häupten der Toten. Alles war unendlich schön und feierlich, und Manuelito sah zum ersten Male, wie es zuging, wenn ein Reicher begraben werden sollte, und konnte nicht genug darüber staunen.

An dem Tage, an welchem die Beerdigung stattfand, kamen schon am frühen Morgen Verwandte aus der Hauptstadt an, und Manuelito hielt sich abseits auf dem Hofe vor der Küche auf. Er saß neben einem großen Wasserfaß auf dem Boden und putzte Schuhe.

Und da, wie er so ganz versunken in seine Arbeit war, geschah für ihn das erste große Wunder seines Lebens. Dicht vor ihm, schon halb in den Sand getreten, sah er einen Ring.

Mit zitternden Händen griff er danach, holte ihn heraus, sah sich nach allen Seiten um und ließ ihn in seine Hosentasche gleiten. Dann stand er auf. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. War das der Ring? Und was dann? Er mußte mit dem Stürmen seiner Gedanken allein sein.

Er ließ alles liegen und eilte in seine Stube. Dort setzte er sich auf das Bett, holte den Ring heraus und betrachtete ihn lange. Es war ein schmaler Goldreif mit einem kleinen, dunkelgrünen Stein . . . Das Wunder war geschehen . . . Seine Gebete waren erhört . . . Der Ring war da, aber was nun?

Er überlegte. Ob er jetzt hinüberging und den andern den 82 Ring zeigte? Sicher würden sie ihn doch für einen Dieb halten und behaupten, nur das böse Gewissen treibe ihn, denselben zurückzugeben.

Was tat er nur? Er sann und sann. Auch die Señora Mercedes glitt vor sein geistiges Auge, gütig und mild. So wie sie damals mit ihm gesprochen hatte, klangen ihm ihre Worte noch deutlich im Ohr: Der Ring habe keinen Wert, sei nur für sie ein schmerzlicher Verlust . . . Und weiter überlegte er: Nun lag sie verlassen in dem blumengeschmückten Saal zwischen weißer Seide und brennenden Kerzen . . . Ganz allein . . . Und da mit einem Male wußte er, was er zu tun hatte. Er nahm den Reifen – wickelte ihn sorgfältig in ein Papierchen, steckte ihn in seine Hosentasche und ging hinaus.

Auf dem Hofe traf er die Clementina. »Manuelito, geh leise durch die Hintertür in das Totenzimmer und sieh nach, ob eine der großen Kerzen tropft. Willst du?«

Natürlich wollte er! Er staunte grenzenlos, wie wunderbar sich heute alles fügte.

Vorsichtig trat er in den dämmerigen Saal. Seine Augen suchten die Flammen der Kerzen. Alle standen steil und schön. Keine einzige tropfte oder bewegte sich. Gott, wie wunderbar war das alles! Wie in einer Kirche an hohen Feiertagen. Die weißen Blumen! Der herrliche Duft! Und draußen im andern Saale setzte sich dieses Blumenmeer fort. Er wußte, dort standen zwei Diener, aber ihn konnte keiner sehen. Er blickte nach dem leuchtenden Kreuz zu Häupten der Toten. Sein ganzer Körper begann zu zittern, und dann, wie von einer fremden Macht gehoben, stand er plötzlich neben dem offenen Sarg und ließ sachte, sachte den Ring in die weiße Seide hinuntergleiten. Dann trat er 83 ebenso leise, wie er gekommen, wieder zurück, und eine tiefe Ruhe senkte sich in seine Seele. Wie unendlich dankbar war er dem Himmel für diese große Gnade!

Auf dem Hofe fragte die Clementina: »Ist alles in Ordnung?«

Er nickte, trat ganz nahe an sie heran und fragte: »Clementina, nicht wahr, die Toten sehen und hören alles, was wir tun?«

Sie stutzte augenblicklich. Ihre Augen weiteten sich in einem plötzlichen Erschrecken. Sollte der Junge wirklich . . .? 84

»Ja,« erwiderte sie ernst, »die Toten sehen und wissen alles . . . alles, Manuelito.«

Er lächelte; denn er erriet sofort ihre Gedanken und bestätigte: »Das ist gut, Clementina, sehr gut, weißt du!«

Am Abend, als der Sonnenball langsam versank, war die Beerdigung. Das Meer flammte in rotgoldener Glut, und durch die stillen Räume zogen die Klänge einer wunderbaren Musik. Geigen spielten unendlich zarte Weisen. Die Señora hatte das alles lange vor ihrem Tode so angeordnet.

Am Abend dieses Tages aber ereignete sich dann noch etwas, das diejenigen, die es betraf, kaum fassen konnten.

Die Angestellten des Hauses saßen wie gewöhnlich bei der Mahlzeit zusammen. Da erschien eine von den beiden Damen, die zu den allernächsten Angehörigen der Señora Mercedes gehörten.

Sie hielt ein Etui in der Hand und sagte: »Ich habe gehört, daß meine Tante kurz vor ihrem Tode einen kostbaren Ring vermißte und möchte Ihnen mitteilen, daß wir diesen Ring heute gefunden haben. Er war zwischen der Wand und einem kleinen Fach im Toilettentisch eingeklemmt. Wenigstens nehme ich an, daß es sich um diesen Ring handelt.«

Sie öffnete das Etui. Alle besahen sich das Schmuckstück und staunten. Es war ein kostbarer Ring, der von kleinen und großen Brillanten nur so blitzte und funkelte.

Die Clementina war wie erstarrt und bestätigte tonlos: »Er ist es.«

Die Dame schloß das Etui. »Ich habe Ihnen das nur mitgeteilt, damit niemand im Hause unschuldig verdächtigt wird.«

Kaum hatte sie sich entfernt, so wandte sich die Clementina an den Floridor: »So,« schnaubte sie, »was sagst du nun?« 85

»Was heute nicht ist, kann morgen werden,« giftete er dagegen.

»Ja, und wenn deine verleumderische Zunge nicht heute verfault, so tut sie es morgen,« antwortete sie empört und wandte sich an die andern: »Jetzt fehlt nur noch, daß jemand auch meinen Ring irgendwo eingeklemmt findet.«

»Haben Sie denn auch einen Ring verloren?«

»Ja, leider. Ich habe gestern draußen gewaschen. Da hat sich der Ring wohl durch die Seife gelockert und ist mir mit dem Wasser davongeschwommen; aber es ist keine Wertsache. Er war schon abgenutzt und hatte nur einen kleinen grünen Stein.«

Aber ums Himmelswillen, was war denn nun wieder los? Alle blickten auf den Manuelito. Der Junge lag mit beiden Armen auf dem Tisch und weinte herzbrechend in seine Ärmel hinein.

Man bemühte sich um ihn, aber kein Trostwort verfing. Er weinte, als ob er gehängt werden sollte. Da nahm sich die Clementina seiner an und ging mit ihm in ihre Stube.

»Da,« sagte sie. »Setz dich!« Sie gab ihm etwas zum Beruhigen, aber es half nicht. So wartete sie denn geduldig, bis dieser Weinkrampf vorbei war.

»Clementina,« gestand er endlich jämmerlich. »Ich habe deinen Ring gefunden.«

»So? . . . Das freut mich . . . Deswegen brauchst du nicht zu weinen.«

»Clementina . . . ich glaubte, es sei der Ring der Señora.«

»Oh du heilige Einfalt!« Sie lächelte. »Wo hast du ihn denn gelassen?«

»Ich glaubte . . . oh . . . oh . . .« Fast verfiel er wieder ins Heulen. »Ich glaubte, die Señora freue sich im Himmel, 86 wenn sie den Ring wieder habe . . . und da legte ich ihn ihr heute morgen in den Sarg.«

Ein langes, drückendes Schweigen folgte diesem Geständnis. Endlich fragte sie: »Ist das wirklich wahr?«

Er nickte. »Heilige Wahrheit, Clementina.«

»Es ist gut, Manuelito, sehr gut,« sagte sie still. »Diesen Ring hat die Señora mir geschenkt, als wir beide noch junge Mädchen waren . . . Ich bin ja mit ihr zusammen aufgewachsen.« Sie weinte plötzlich und meinte dann: »Es ist gut so . . . Der Ring ist wieder bei ihr . . . Komm, mein Söhnchen!«

Schon am folgenden Tage wurde alles von den Verwandten der Verstorbenen in Besitz genommen. Das Haus und die Möbel sollten versteigert werden, und die Dienstboten wurden entlassen. Alle Angestellten waren mit schönen Legaten bedacht. Nur Manuelito, für den die Señora doch hatte sorgen wollen, ging leer aus.

Die Clementina verwendete sich aber so warm für ihn, daß ihm als Geschenk eine Note von hundert Pesos in die Hand gedrückt wurde. Das war wenig; aber ihm schien es ein Vermögen zu sein, und mit einem kleinen Koffer in der Hand und dem Geld in der Hosentasche verließ er ganz vergnügt die Quinta Margarita, in welcher er zwar nur ein paar Wochen gedient, aber unglaublich viel erlebt hatte.

Als er im Pasaje Nr. 4 landete, machte die Madrina große Augen, aber als sie den Geldschein sah, meinte sie: »Was für ein Glück, daß ich dich in dem Hause unterbringen konnte! Dieses Geld, mein Söhnchen, werden wir heute noch auf die Sparkasse bringen.«

»Nicht alles,« protestierte er. »Ich muß jetzt doch wieder bei dir wohnen, also gehört mindestens die Hälfte dir.« 87

Sie wollte zuerst nichts davon hören; aber dann nahm sie es doch an, und noch am gleichen Tage besorgte sie ihm ein Büchlein bei der Sparkasse, in welchem fünfzig Pesos auf den Namen Manuel López eingetragen waren. 88

 


 


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