Ina Jens
Manuelitos Glücksfall
Ina Jens

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Auf dem Wege zur Madrina

Es war im Juni, mitten im chilenischen Winter. Valparaiso, dessen Häusermeer sich schier unabsehbar weit über Hügel hinauf- und hinabwindet, lag wie ein graues Ungetüm in Nebel und Regen; denn seit drei Tagen und drei Nächten goß es ohne Unterlaß vom Himmel herunter. Dazu brauste ein heftiger Wind von Norden her. Der wühlte das Meer in seinen Tiefen auf, jagte durch die Straßen in der Ebene und tobte unbarmherzig in den Schluchten um die elenden Behausungen der armen Bevölkerung.

Am wildesten aber brauste er auf dem einen Berge, wo ungeschützt und von aller Welt verlassen gleich einem Wrack auf hoher See eine armselige, kleine Hütte stand.

Bei jedem neuen Ansturm des Norders war es, als würde sie im nächsten Augenblick den Hang hinunter in die Tiefe 10 fliegen. So zitterten und ächzten die morschen Wände! So rumpelten und klapperten die losen, verrosteten Dachbleche! Aber nachgeben tat sie nicht.

In der offenen Laube der Hütte stand ein Knabe. Es war der zehnjährige Manuelito López, ein Kind, so einsam wie die Blätter, welche der Wind draußen mit dem Regen in die Weite wirbelte; denn der einzige Mensch, der ihn geliebt und umsorgt hatte, seine Mutter, war vor einigen Tagen gestorben, und er war im Begriffe, in Sturm und Regen den Ort zu verlassen, wo er mit ihr gewohnt hatte.

Die Ellbogen auf das Geländer gestützt, sah er mit großen Augen in den Aufruhr der Natur. Sein Blick haftete in der Tiefe. Dort lag der Hafen, und weit hinaus dehnte sich das tobende Meer. Durch den fallenden Regen sah er die gewaltigen Wellenkämme, die hintereinander hoch aufschlagend in weißen Schaumketten am Strande verbrandeten. Er sah, wie die Dampfer und Segler ins Treiben gerieten, wie sie bald hinter hohen Wasserbergen verschwanden und dann wieder wie leichte Schalen in die Höhe gehoben wurden.

Er liebte das Meer, die Schiffe, den Sturm. Längst Vergangenes tauchte vor seiner Seele auf. Er dachte an seinen Vater. Auch der hatte das Meer und das Leben auf hoher See über alles geliebt. Wie glücklich war er doch gewesen, als er endlich als Maschinist auf dem »Cautín« hatte fahren können! Damals hatten sie unten in der Stadt gewohnt, und ihnen hatte es an nichts gemangelt.

Jedesmal, wenn das Schiff von einer Reise nach dem Süden zurückkehrte und im Hafen einlief, war der Vater nach Hause gekommen. Immer brachte er Geld, und stets gab es ein kleines Fest. Freunde kamen, und es ging lustig zu. Der Vater holte die Guitarre und spielte. Alle mochten das gern; 11 denn der Vater kannte so viele Lieder und konnte so schön singen!

Dann aber war das Unglück wie ein Blitz aus heiterem Himmel über sie hereingebrochen. In einer schrecklichen Sturmnacht ging der »Cautín« mit der ganzen Besatzung unter, und das Leben wurde mit einemmale unendlich traurig und schwer.

Sie verkauften fast alle Möbel und mieteten eine kleine Stube am Abhang in einer Schlucht bei armen Leuten. Die Mutter schneiderte und verdiente ein wenig, aber es reichte nicht, um sich satt zu essen. Da wurde Manuelito Zeitungsverkäufer und konnte etwas für den Unterhalt beitragen; aber nach und nach wanderte doch alles, was sie noch besaßen, ins Pfandhaus, und von keiner Seite kam Hilfe. Die Mutter hatte ja keine Verwandten in Chile; denn sie war in Spanien geboren, und die Angehörigen des Vaters lebten im Süden und waren selber arm.

Am traurigsten aber wurde es, als die Mutter erkrankte. Nicht einmal einen Arzt konnten sie holen. Nicht einmal für ein wenig Medizin reichte es! Da verkauften sie ihr letztes Wertstück, die große, schöne Nähmaschine, und zogen in das Häuschen hier oben auf dem Berge, wo es fast nichts kostete.

Dem Jungen schossen die Tränen in die Augen. Es war am vergangenen Sonntag gewesen. Als er aufwachte, hatte die Señora Carmen, die nächste Nachbarin am Hang, vor ihm gestanden und gesagt, nun sei seine arme Mutter endlich erlöst. Ruhig und sanft sei sie in der Nacht eingeschlafen, und er sollte nur nicht weinen, denn nun sei sie ein Engel und droben beim lieben Gott im ewigen Lichte.

Dann wurde sie begraben, und zwei Tage nachher kamen 12 Leute und holten alles, was noch in der Hütte war, weg. Sie sagten, sie hätten der Mutter Geld geborgt und wollten es nicht verlieren. Wie ausgeräumt ließen sie die Zimmer zurück.

Wie liebevoll aber war in jenen traurigen Tagen doch die Señora Carmen gewesen! Es wurde ihm ganz warm im Herzen, wie er daran dachte. Sie hatte ihn gleich nach dem Begräbnis in ihr Haus genommen, und er hatte dort gegessen und geschlafen bis heute. Dabei war sie selbst so arm! Wirklich fast ärmer noch als er und die Mutter!

Sie hatte fünf kleine Kinder und nur eine einzige schlechte Stube mit einer dunklen Küche und einem kleinen Hof, wo sie den ganzen Tag für fremde Leute Wäsche wusch.

Ihr Mann war unten im Hafen angestellt. Dort wurde ein gestrandetes Schiff gehoben, und er stand acht Stunden lang bis zu den Hüften im Wasser. Dafür verdiente er fünf Pesos am Tage, aber das reichte nicht einmal für ein ordentliches Essen am Abend.

Darum hatte die Señora Carmen denn auch so traurig und ernst mit ihm gesprochen.

»Manuelito,« hatte sie weinend gesagt, »deiner Mutter zuliebe möchte ich dich gewiß noch lange bei mir behalten; aber so wie wir leben, geht es nicht mehr. Mein Mann ist immer schlechter Laune, und jetzt, wo du bei uns bist, ist es noch schlimmer. Er sagt, es sei eine Sünde an unseren eigenen Kindern, und vielleicht hat er recht. Darum, Manuelito, mußt du halt weg. Zum Glück weißt du wohin, nicht wahr? Du fährst nach Viña del Mar zu der Señora Rosa. Die sorgt ganz bestimmt für dich. Sie ist ja deine Madrina

Er hatte das alles verstanden und eingesehen, hatte vielmals gedankt und versprochen fortzugehen. Darum war er13 in die Hütte zurückgekehrt, um seine wenigen Habseligkeiten einzupacken.

Und nun wollte er sich aber wirklich auf den Weg machen. Der Wind hatte nachgelassen, und er überlegte, daß es vielleicht möglich sei, bevor er von neuem einsetzte, die Stadt zu erreichen. Dort wollte er dann in die Elektrische steigen und zu der Madrina fahren.

Die Madrina! Seine Gedanken beschäftigten sich minutenlang mit ihr. Wie sie ihn wohl empfangen würde? Ob sie ihn gern bei sich aufnahm, oder ob er ihr sehr ungelegen kam? Sie war ein einziges Mal bei der Mutter gewesen und hatte damals mit ihm kein Wort gesprochen. Er wußte darum nicht, ob sie eine wohlwollende oder eine hartherzige Frau war. Nun, sie war eben seine Madrina, und eine solche war fast immer so etwas wie eine zweite Mutter.

Er drehte sich langsam um und blickte auf den Boden. Der Schimmer eines Lächelns flog über sein Gesicht. Da lag ein Paket, ein großer Sack und darauf zusammengekugelt die Palomita, sein Hündchen, ein kleiner, armseliger Pinscher, dem die langen, struppigen Haare wie ein zerschlissener Schleier über Gesicht und Rücken fielen.

Er hatte das Tierchen liebevoll in sein Herz geschlossen. Es war so klein und zart, daß es mehr ein Spielzeug als ein Wächter und Begleiter war. Er bückte sich zu ihm nieder.

»Palomita,« sagte er traurig, »jetzt müssen wir aber fort.« Er hob den Sack auf, breitete ihn aus, schob dessen einen Zipfel in den andern, so daß er wie eine Kapuze aussah, und stülpte ihn sich über den Kopf. Schützend deckte er ihm Schultern und Rücken. Das Paket, in welchem sich ein wenig Wäsche befand, nahm er in die Hand und das Hündchen 14 unter den Arm. Es war so federleicht und hilflos, daß er es nicht dem Unwetter preisgeben wollte.

So ging er durch die Laube und in die Stube hinein. Sie war leer und kahl und erschien unheimlich düster in dem dämmerigen Zwielicht des grauen Tages. Mitten in dem Zimmer blieb er stehen, schloß die Augen und preßte das Gesicht an den Körper des Hündchens.

Etwas Unsichtbares schien übermächtig noch zwischen den vier Wänden zu leben, schien den armseligen Raum zu erfüllen, etwas von den vergangenen leidvollen Zeiten, von der Liebe seiner Mutter, von ihren Worten, ihren Sorgen. Das heiße Weh des Verlassenseins ergriff seine Seele, aber die aufquellenden Tränen hielt er gewaltsam zurück.

Er war doch kein kleines Kind! Er wußte doch schon, wie es in der Welt zuging und daß das Weinen eine ganz nutzlose, vergebliche Sache war. Seine Mutter gab ihm niemand mehr zurück. Sie lag draußen auf dem Friedhof, und er mußte 15 jetzt versuchen, das Leben irgendwie anzugreifen. Bei der Madrina oder eben anderswo. Er fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, richtete sich auf, und in sein Antlitz trat ein entschlossener, unkindlicher Zug.

Draußen war es für Augenblicke ruhig geworden. Kein Wind, keine Böen, nur der senkrecht niederrauschende Regen!

Er schritt über den ebenen Platz auf der Höhe, dann einen schmalen Weg längs eines Eukalyptuswäldchens hinab, und kam an den Reihen neben- und übereinandergeschachtelter Hütten der Armen vorbei. Hier kannte er jeden einzelnen, aber er sah sich nach niemandem um. Vorsichtig stieg er eine lange, baufällige Holztreppe und dann noch einen Hang in kurzen Windungen abwärts. Nun war er dort angelangt, wo der Fahrweg begann.

Aber wie sah es da aus! Von der hohen Mauer, welche die Straße gegen den Berg abschloß, stürzte mit Tosen und Brausen ein richtiger Wasserfall auf den Weg hinab, überschwemmte denselben in seiner ganzen Breite und verwandelte ihn in einen reißenden Bach.

Überrascht stand er still und überlegte. Sicher waren die großen Röhren, welche das Regenwasser von den Bergen ins Meer hinunterleiteten, geplatzt oder verstopft. Das war ja nichts Neues. Fast jedes Jahr sah es im Winter hier so aus, aber trotzdem war es jedesmal wieder ein Ereignis.

Und wie mochte es in der Stadt unten ausschauen! Er erinnerte sich gut, wie vor zwei Jahren nach einem ähnlichen heftigen Regenwetter die schrecklichen Wassermassen verheerend in die schönen Geschäfte geströmt waren und die kostbaren Sachen zusammen mit Schlamm und Lehm und Geröll hinaus und durch die Straßen gefegt hatten. 16

Entschlossen eilte er längs des Weges an einem Abhang weiter bis zu den ersten Häusern auf dem Berg. An den Fenstern und auf den Türschwellen standen Leute und sahen mit Besorgnis auf die jagenden Wassermassen. Wenn der Regen nicht bald aufhörte, gab es eine Katastrophe.

Manuelito hielt sich dicht an die Häusermauern und gelangte, halb springend, halb rutschend, bis zu einer Biegung. Hier war mitten im Wege eine Einsenkung, und jedesmal, wenn sich der Schwall von oben her verdoppelte, spritzte das Wasser hoch empor.

Zu beiden Seiten standen Jungens, kleine und große. Die meisten hatten wie er einen Sack über dem Kopf, und fast alle waren barfuß. Manche von ihnen kannte er, und so blieb er mitten unter ihnen stehen. Sie vergnügten sich großartig und begleiteten jede neue Bewegung der Wasserkraft mit Bemerkungen, über die sie selbst furchtbar lachten.

Auf einmal schrien alle entsetzt: »Schaut! Schaut! Da kommt eine Karrete!« Und wirklich! Die Wasser brachten von den Höhen das Wrack eines Wagens daher, dasselbe wie eine Kugel herumwirbelnd. Dicht vor den Knaben fuhr die Karrete mitten in die Grube hinein und blieb da liegen.

Ein großer Tumult entstand. Verschiedene versuchten das Wasser zu durchqueren, um die Karrete aus dem Loch zu heben. Was für ein Spaß wäre das gewesen, sie weiter in die Stadt hinunterrumpeln zu sehen!

Plötzlich aber wandten sich alle wieder der Höhe zu und schrien wie verrückt: »Ein Esel! Ein Esel!« Und so war es. Kopfüber kam ein armes Grauschimmelchen dahergeschwemmt.

Die Knaben jubelten und brüllten vor Vergnügen und Erwartung. Gleich würde das Tier an ihnen vorbeisausen. Aber 18 nein, dort, wo die Karrete festsaß, blieb auch der Esel stecken, den Hinterleib tief im Wasser und nur den Kopf darüber hinausstreckend.

Die Knaben gerieten außer sich. War das ein Anblick! Und wie das Tier sich mühte, um aufzustehen und herauszukommen! Und wie die Wassermassen über ihm wegfegten!

Auf einmal sah Manuelito drüben auf der andern Seite unter den Jungens den Pelucho, einen Knaben, den seine Mutter nie so recht gemocht hatte, und dem er trotzdem gut war. Wie oft hatte der Pelucho, als sie zusammen Zeitungsverkäufer gewesen waren, sein Weniges mit ihm geteilt, eine Apfelsine, eine Banane oder ein warmes Brötchen!

Am Hals des Esels hing ein langer Strick, und den beiden Knaben mochte im Augenblick derselbe Gedanke gekommen sein.

»Pelucho!« rief Manuelito durch den Regen hinüber. »Holen wir das Eselchen heraus? Du faßt es am Strick und ziehst, und ich stoße von hinten.«

»Sofort!« antwortete der andere so rasch, als habe er nur auf diese Aufforderung gewartet. »Also los!«

Manuelito zog sich Schuhe und Strümpfe aus, legte sie samt dem Paket und dem Hündchen auf eine Türschwelle, und dann versuchten sie, das Wasser zu durchwaten.

Von den Fenstern ertönten laute Warnungsrufe. Sie sollten die Dummheiten lassen! Sie würden schon sehen, was ihnen passierte! Die Knaben aber, die ringsherum standen, feuerten sie mit einem richtigen Indianergeheul an, den Rettungsversuch zu wagen.

Bald sahen die beiden selbst das Gefährliche ihres Unternehmens ein sprangen wieder zurück. Dann jedoch gelang es dem Pelucho, den Strick zu erhaschen. Manuelito stand 19 noch einen Augenblick zögernd im Wasser und überlegte, wie und wo er das Tier am besten anfassen könnte . . . aber da war es, als ginge die ganze Welt in einem schrecklichen Rauschen und Drehen unter.

Vom Berge herab wälzte sich plötzlich eine so entsetzliche Wasserflut, daß zu befürchten war, sie reiße die Häuser mit sich fort. Sicher war auf den Höhen einer der großen Wasserbehälter auseinandergegangen. Mit rasender Schnelligkeit schossen die Wogen daher und rissen die Karrete, den Esel mitsamt den beiden Knaben in die Stadt hinunter.

Die Leute schrien wie verzweifelt. »Um Gotteswillen! Der Pelucho! Der Manuel López! Die armen Kinder!« Aber keiner rührte sich. Wer sollte sich auch bei einem solchen Unwetter für den andern einsetzen! Das ging gleich ans Leben. Die Knaben waren doch verloren. Das war gewiß, und es geschah ihnen recht. Was kümmerte sie ein halbtoter Esel! –

Als Manuelito wieder zu sich kam, war sein Staunen groß. Er befand sich in einem Saal mit hohen Fenstern und vielen Betten. Der Rücken schmerzte ihn, und die Brust war ihm wie zugeschnürt. Was war nur geschehen? Langsam, langsam besann er sich. Als ihn die Wasser ergriffen hatten, war es ihm gewesen, als sei das Ende gekommen. Und nun lebte er doch noch! Und sein Hündchen? Sicher war es umgekommen! . . . Und sein bißchen Wäsche? . . . Ach, und die Mutter, und das Häuschen auf dem Berge . . .

Eine grenzenlose Schwäche und Traurigkeit überkam ihn, schier zum Sterben. Plötzlich aber stand eine weißgekleidete Frau neben ihm, und er spürte sofort etwas Gütiges von ihr ausströmen.

Sie beugte sich über ihn. »Ausgeschlafen?« Er sah sie an:

»Wo bin ich?« 20

»Im Krankenhause, aber bald bist du wieder gesund und darfst nach Hause.«

»Ich habe kein Zuhause,« antwortete er leise.

»Daran mußt du jetzt nicht denken,« sagte die Wärterin tröstend. »Vorläufig behalten wir dich hier und pflegen dich, bis du wieder aufstehen kannst. Wie heißt du?«

»Manuel López.«

»Schön, Manuelito, und nun wollen wir sehen, ob du noch Fieber hast.« Sie steckte ihm das Thermometer unter den Arm, ordnete seine Decke und schritt geräuschlos zum nächsten Bett.

Dort blieb sie lange. Auch ein Arzt kam herzu, hantierte herum und sprach leise mit der Schwester. Manuelito verstand kein Wort, aber er merkte doch, daß da jemand lag, dem es schlechter ging als ihm.

Nach einer Weile war alles wieder still. Die Schwester 21 holte den Fiebermesser unter seinem Arm hervor, besah ihn, schrieb etwas auf ein Papier an der Wand, nickte ihm zu und ging wieder fort.

Langsam wandte er sich nach dem Bett zu seiner Linken. Der starre Ausdruck eines wachsgelben Gesichtes erschreckte ihn derart, daß er sich auf die andere Seite drehte.

Da lag ein Knabe mit einem bis über die Augen verbundenen Kopf. Schlimm sah der aus, und er konnte den Blick gar nicht von ihm wenden, und dann mit einem Male stieg es ihm heiß zum Herzen. Täuschte er sich, oder sah er richtig? Leise rief er: »Pelucho!«

Minutenlang blieb es still. Das schmale Knabengesicht war wie tot. Aber nach einer kleinen Weile hauchten die Lippen des Kranken: »Manuelito . . .« Weiter nichts, und dann begann ein mühsames, stockendes Gespräch.

»Hat dich das Wasser auch mitgerissen?«

»Ja . . . schrecklich . . .,« flüsterte der Pelucho.

»Geht es dir schlecht?«

»Nein . . . aber beinah hat es mir den Schädel gespalten.«

»Wo haben sie uns aufgefischt? . . . Hast du eine Ahnung?«

»Ich glaube unten am Meere.«

»Warum hast du denn den ganzen Kopf verbunden?«

Der Pelucho atmete schwer. »Das Wasser hat mich gegen die Eisen an der Mole geworfen . . . Die haben mich ein wenig aufgekratzt.« Das sollte ein Scherz sein, und der Manuelito lächelte auch ein wenig. Nach einer Weile fragte er: »Hast du eine Ahnung, wo die Palomita geblieben ist?«

»Nein . . .« Es klang wie ein Seufzer, und dem Manuelito fiel es ein, daß es seinem Freunde doch wohl sehr schlecht ging, und ganz vorsichtig fragte er: »Glaubst du, daß wir bald wieder aufstehen können?« 22

»Ja . . . Schwester Angelica sagte vorhin, ich sei schon viel besser.«

Manuelito dachte nach. Wo blieb der andere, wenn er fortging? »Hast du ein Zuhause?«

Nach einem langen Stillschweigen antwortete der Pelucho: »Ja . . . aber ich gehe nicht dorthin. Wir sind elf, und sie haben für mich keinen Platz.«

»Wirst du wieder Zeitungen verkaufen?«

»Vielleicht . . . Und wo wirst du wohnen, Manuelito?«

»Ich weiß es noch nicht. Wahrscheinlich bei der Madrina in Viña del Mar.«

Lange war es wieder still. Dann begann der Pelucho schwer und leise. »Ich habe einen feinen Ort zum Schlafen gefunden.«

»Wo denn?«

»In einer kleinen Gasse im Almendral. Da ist eine leere Hundehütte unter einer Treppe . . . voll Stroh . . . und ganz warm . . . und wenn du willst . . .« Er schien über diesen Worten einzuschlafen, und Manuelito wagte nichts mehr zu fragen.

Der Tag ging dahin, und in der darauffolgenden Nacht schlief er so fest, daß er erst spät am andern Morgen aufwachte. Sein erster Gedanke galt dem Pelucho, aber als er sich nach ihm umsah . . . Wie staunte er! Das Bett, in welchem sein Freund gelegen hatte, war leer. Die Schwester, die gerade zu ihm trat, antwortete auf die stumme Frage seiner Augen ruhig: »Dem Pelucho geht es gut. Er ist jetzt in einem andern Zimmer.«

Da freute er sich und hoffte, auch bald aufstehen zu können; aber als die Schwester sich entfernt hatte, sagte der Kranke, der an seiner andern Seite lag: »Was sie dir da 23 gesagt hat, ist eine Lüge. Der Pelucho ist in der Nacht gestorben.«

Ein kaltes Grauen ging ihm durch den Körper. Was hatte der gesagt? Er mußte sich verhört haben, und mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam, fragte er: »Was, meinten Sie vorhin? . . . Ich habe nicht gut verstanden.«

Da bestätigte der andere ohne Mitleid: »Du hast schon recht gehört. Der Pelucho ist in der Nacht gestorben, und kein Wunder macht ihn wieder lebendig. Er kam ja auch schon halb tot hier an . . . Und was tut's? . . . Ein Roto weniger! . . . Solche Jungens gibt's wie Sand am Meer.«

Dem Manuelito war es, als bohre sich ihm ein spitzes Eisen mitten ins Herz hinein. Der Pelucho tot . . . Ein kleiner, dreckiger Straßenjunge war er gewesen, aber er hatte ihn gern gehabt . . . Er war ihm ein lieber Kamerad gewesen . . . Freigebig und lustig und ohne die Schlechtigkeiten der andern. Das Weinen saß ihm in der Kehle, aber er hielt es fest, preßte den Schmerz zurück, dahin, wo alles übrige Leid der vergangenen Zeit stumm und lastend aufgehäuft lag.

Ein paar Tage später war er wieder hergestellt. Nur wegen seines Hustens wurde er noch ein wenig zurückbehalten, aber er lag nicht mehr im Bett, sondern saß in den warmen Nachmittagsstunden draußen im Garten.

Das war ein ruhiger Ort mit hohen Bäumen, Rasenflächen und Blumenbeeten. Überall waren Genesende, genossen die sonnige Luft und sprachen freundlich mit ihm. Ja, eines Tages geschah es sogar, daß er ganz absichtslos die Aufmerksamkeit aller auf sich zog.

Er saß in einer Laube, die vom Dufte blühender Glyzinien erfüllt war, und fühlte sich leicht und behaglich inmitten dieser wohltuenden Frühlingswärme. Unbekümmert um seine 24 Nachbarschaft, fing er an leise zu pfeifen und dann richtig zu singen.

Es war ein trauriges Lied, aber die helle, klare Knabenstimme klang schön, und als er zu Ende war, klatschten einige beifällig und wollten noch mehr hören. Erschrocken sah er sich um und wehrte verlegen ab. Er hatte gar nicht daran gedacht, daß man ihm zuhörte, und ihm war es ja auch nicht zum Singen zumute.

Still und nachdenklich lag er da, und hervorgerufen durch das kleine Ereignis, traten ihm plötzlich Dinge, die längst vergangen waren, in die Erinnerung.

So etwas wie eben jetzt hatte sich in seinem Leben schon mehr als einmal zugetragen. Oft hatte er in der Schule auf dem Berge bei Festen allein singen müssen. Und wie glücklich war seine Mutter immer gewesen, wenn man ihn wegen seiner Stimme auszeichnete! Nun, er sang ja auch wirklich gern, aber das war doch nichts Besonderes, und er hatte immer nur halb hingehört, wenn seine Mutter mit ihm darüber sprach.

»Eine schöne Stimme,« meinte sie, »kann einem Menschen im Leben oft mehr nützen als lesen und schreiben. Wer singen kann, ist überall willkommen. Vergiß das nie! Deinen Vater mochten darum auch alle so gut leiden.«

Und als er anfing, Zeitungen zu verkaufen, hatte sie fast ängstlich gebeten: »Nicht wahr, Manuelito, du schreist nicht so abscheulich auf der Straße wie die andern Knaben, wenn sie die Zeitungen ausrufen. Du verdirbst dir damit die Stimme fürs ganze Leben.«

Er mußte lächeln, wie er jetzt an diese Mahnungen dachte. Darin war seine Mutter wirklich ein wenig komisch gewesen; aber er hatte ihr doch gefolgt, nicht nur ihret-, sondern 25 auch seinetwegen. Ihm ging es nämlich immer wie ein Stechen durch den Kopf, wenn er die Zeitungsjungen so wüst schreien und brüllen hörte. Er war darum auch stets zuerst in die Kaffeestuben geeilt, war von Tisch zu Tisch gegangen und hatte nur leise gefragt: »›La Familia‹, señora? . . . ›Para ti‹, señorita? . . . ›Mercurio‹, señor?« Nachher lief er dorthin, wo die Elektrische an- und abfuhr, stellte sich dicht an die Türen und fragte in gleicher Weise dasselbe, und er war seine Zeitungen immer rasch los geworden. Er dachte mit Befriedigung daran und überlegte: Von jeder Zeitung blieben ihm zehn Centavos. Vielleicht würde er doch wieder Zeitungsverkäufer.

In der darauffolgenden Nacht hatte er allerlei wirre Träume. Er befand sich in einer großen Kirche neben dem Altar, unzählige Lichter brannten, und er sang über viele Menschen weg, die alle auf den Knien lagen. Nachher stand er an einer Straßenecke und sang eine chilenische Tonada. Ein Blinder begleitete ihn auf der Guitarre, aber niemand von den Vorübergehenden wollte eine Gabe auf den kleinen Teller in seiner Hand legen. Da versuchte er noch lauter zu singen, konnte aber keinen Ton hervorbringen und meinte, er müsse ersticken.

Ein paar Tage später wurde er entlassen. Schwester Angelica gab ihm einen alten Anzug, einen wollenen Schal und Schuhe und Strümpfe. »Das sind nicht meine Sachen,« erklärte er. Sie fuhr ihm übers Haar und meinte lächelnd: »Das müßte seltsam zugehen, wenn ich dir deine eigenen Kleider geben wollte. Die sind damals alle ins Meer geschwommen, und dich haben sie in eine alte Decke gewickelt hier abgeliefert.« Da bedankte er sich und nahm Abschied. 26

Die Schwester drückte ihm ein Paketchen mit ein wenig Essen und das Fahrgeld für die Elektrische in die Hand. »Nun fährst du gleich zu deiner Madrina, nicht wahr? Treibe dich nicht etwa auf der Straße herum! Schone dich, denn du bist immer noch ein wenig schwach, und Gott segne und beschütze dich, Manuelito!«

Dann saß er in der Straßenbahn, und das Neue fesselte ihn, das draußen an seinem Auge vorüberflog. Die Straße machte große Windungen um die Felsen herum. Auf den Höhen zur Rechten standen hübsche Häuser, und an den Abhängen blühten allerlei Blumen: viele Geranien, golden leuchtender Mohn und Ginster. Zur Linken dehnte sich wie ein blauer Spiegel das Meer. An den Klippen, die auf der ganzen Strecke den Strand säumten, verbrandeten die Wogen, und darüber weg flogen an einer Stelle Hunderte von weißen Möwen.

Nach einer halben Stunde war er in Viña del Mar. Zu beiden Seiten der Bahnlinie lagen Häuser mit schönen Gärten, um deren Mauern sich blühende Schlingpflanzen rankten.

Er spähte scharf umher. Die Señora Carmen hatte ihm den Weg zur Madrina genau beschrieben. Da erhob sich die große, graue Kirche, die Paroquia. Er stieg aus, überschritt die Bahnlinie und kam auf eine kleine, von gewaltigen Palmen ganz überdachte Plaza und von da in den großen, schönen Stadtgarten, durchquerte ihn und war bald auf der vorgezeichneten Straße. Hier erhob sich wie eine riesige Burg ein neues Hotel, und nun achtete er nur noch auf die Nummern der Häuser.

Endlich schien er seinen Bestimmungsort erreicht zu haben. Zwischen zwei langen, düsteren Häuserreihen führte eine schmale Gasse hindurch, an deren Ende eine kleine 27 Holztafel vorsprang, auf welcher mit großen, schwarzen Buchstaben »Yerberia« geschrieben stand.

Dem Jungen schlug das Herz rascher. Hier mußte es sein. Seine Madrina war eine Yerbatera, das heißt eine Frau, die Heilkräuter verkauft.

Wenn er ihr nur nicht zur Last fiel! Sie war gewiß auch arm; aber ein Winkel, wo er schlafen konnte, war vielleicht doch in ihrer Wohnung, und am nächsten Tage wollte er sich gleich nach einem Verdienst umsehn.

Ein wenig zaghaft schritt er an den unfreundlichen Wohnungen vorbei, die alle nicht mehr als eine kleine Holztür und ein Fenster hatten. Hier und dort standen Blech- und Holzkübel mit blühenden Geranien, und an einem Türpfosten hing ein Käfig mit einer kleinen Loica. Auch Hühner gackerten herum, und ein schmutziges Hündchen bellte ihn an.

Er ging bis dahin, wo das Schild hing . . ., stand einen Augenblick still und klopfte dann schüchtern an. In der Yerberia blieb alles totenstill. Als er zum zweiten Male klopfte, öffnete sich die Tür des gegenüberliegenden Hauses, und eine alte Frau erschien in ihrem Rahmen.

»Die Señora Rosa ist nicht da,« sagte sie unwirsch. Er sah sie an, als habe er nicht verstanden. »Sie ist nicht da?«

»Nein, sie ist gestern abend nach Santiago gefahren. Ihr Sohn ist krank.«

»Wann kommt sie denn wieder?«

»Wer weiß! Vielleicht in vierzehn Tagen. Ihr Sohn hat Typhus, und sie muß ihn pflegen.«

Dem Knaben war es, als würde die kleine Welt, die er kannte, mit einem Male eine elende Wüste ohne Grenzen. Wo würde er während dieser vierzehn Tage bleiben? Wo schlafen? Wo essen? 28

»Ist das Haus denn abgeschlossen?« Seine Stimme klang ganz heiser.

Die Alte blickte ihn scharf an. »Du willst doch nicht etwa hier einbrechen? Überhaupt, wer bist du, und was willst du von der Señora Rosa?«

»Meine Mutter ist gestorben, und ich habe kein Zuhause. Die Señora Rosa ist meine Madrina.«

Die Alte überlegte einen Augenblick. So logen sie alle, diese Straßenbengel . . . Zwar so ganz richtig wie ein Roto sah der Kleine nicht aus, aber man kannte diese Schwindeleien zur Genüge. Sie fiel jedenfalls nicht darauf herein . . .

»Ja, da ist nun nichts zu machen. Da mußt du eben in vierzehn Tagen wieder kommen.« Sie schlug die Türe zu und ließ ihn stehen.

Langsam wandte er sich nach dem Ausgang, schlich an den Häusern entlang, und eine dumpfe Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Jetzt würde er auch einer von den vielen Jungens werden, die sich obdachlos herumtrieben, elend wie die Hunde lebten und nachts in den Wasserleitungsröhren, zwischen Kisten oder in Fässern schliefen.

Er ging in den Stadtgarten hinein, setzte sich auf eine der Steinbänke und versuchte sich zurechtzufinden. Hinter ihm war der Bahnhof, vor ihm eine lange Brücke, schräg gegenüber das gewaltige Hotel mit dem vornehmen Eingang und rechts und links je ein Theater.

Menschen gingen und kamen über die Plaza, auch Zeitungsverkäufer und Schuhputzer, die ihn im Vorübergehen mit neugierigen Blicken streiften.

Lange saß er unschlüssig da, aß die Brötchen auf, welche ihm die Schwester Angelica gegeben hatte, und überlegte, wo er wohl die Nacht verbringen könnte. Kein Mensch, kein 29 Schlupfwinkel war ihm in dieser Stadt bekannt. Alles war ihm hier fremd, und um nach Valparaiso zurückzufahren, fehlte ihm das Geld.

Ein kleiner, bärbeißiger Mann mit einem großen schwarzen Hut und einem dicken Knüppel unter dem Arm ging verschiedene Male an ihm vorbei und blickte ihn durch seine Brille unangenehm scharf an. Sicher war das der Aufseher der Plaza; denn er beobachtete, wie ein paar Schuhputzer hastig vor ihm Reißaus nahmen.

Langsam sank die Dämmerung, und ihm wurde es immer trauriger zumute. Zwischen den Bäumen flammten die 30 Lichter auf, und drüben, längs der kleinen Geschäftshäuser, wurde es hell.

Ob er sich unter eine dieser breiten Steinbänke legte? Nein, das ging nicht. Da würde er gesehen und vielleicht gar der Polizei übergeben. In der Ecke eines Rasenplatzes erhob sich eine große Araukarie, deren unterste Äste sich wie ein Schirm um den Baum breiteten und bis auf den Boden reichten. Das war ein Versteck. Niemand würde ihn da vermuten.

Er wartete, bis der gefährliche Mann mit dem Stock auf der andern Seite der Plaza auf und ab spazierte, und kroch dann rasch unter die Zweige, legte sich auf den Rücken und sah in das dunkle Ästegewirr über ihm.

Wie von ferne hörte er die Geräusche des nächtlichen Straßenlebens: das Fahren und Tuten der Autos und Autobusse, den Hufschlag der Kutschenpferde, das gelegentliche Pfeifen der Polizisten, das Heranbrausen des Zuges, das Schlagen der nahen Turmuhr.

Als es Mitternacht war, überkam ihn eine große Müdigkeit und mit ihr das Bewußtsein der trostlosesten Verlassenheit. Eine ganze Weile hielt er diesem übermächtigen, schmerzenden Gefühle stand, dann preßte er plötzlich beide Hände vor das Gesicht und weinte, nicht so wie Kinder weinen, sondern so wie es manchmal Erwachsene tun, verstohlen, lautlos, nur mit Tränen, die das Herz in die Augen treibt.

 


 


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