Ina Jens
Manuelitos Glücksfall
Ina Jens

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Vorwort

Wer in Europa aufwächst, hat keine Ahnung, wie viele Kinder hier draußen in der neuen Welt auf der Straße leben und verderben. Hunderte, ja Tausende streifen obdachlos umher, gewöhnen sich an das ungebundene Leben und sind später häufig zu nichts mehr zu gebrauchen.

Rasch ist der Schritt vom Elternhaus auf das Pflaster der Straße getan. Der Hunger schreckt hier niemanden. Da streckt einer bloß die Hand aus, und schon legt jemand eine Frucht, ein Stück Brot oder eine Münze hinein. Vor der Kälte fürchtet sich auch keiner. Immer ist die Luft gleichmäßig mild und warm und der Regen im Winter nicht schwer zu ertragen. Auch Schlafstätten finden sich überall, sei es in Kisten oder Fässern, auf Kehrichthaufen, in Mauerlöchern, unter Brückenbogen oder in Abzugskanälen.

Manche von diesen »Rotos«, wie sie hier in Chile genannt werden, sind Schuhputzer, andere Zeitungsverkäufer, viele Bettler und Schlimmeres, und es ist wahr, daß die meisten von ihnen richtige Wanzen sind: diebisch, schmutzig und lästig.

Aber manchmal ist es auch anders. Manchmal ist ein solcher Junge wie irgendein Kind von braven Eltern, gut veranlagt und ohne schlechte Instinkte, und wenn sich jemand seiner annimmt, entwickelt auch er sich zu einem ordentlichen und brauchbaren Menschen.

Nicht selten kommt es vor, daß in dem einen oder andern dieser armen Straßenkinder sogar irgendein schönes Talent schlummert, hierzulande meistens ein musikalisches. Wie hübsch pfeift doch oft so ein kleiner Schuhputzer die schwierigsten Melodien zu seiner Arbeit! Wie überraschend richtig 8 singt oft so ein barfüßiger Roto an einer Straßenecke zur Guitarre!

Auch die nachstehende Erzählung berichtet von einem solchen musikalisch begabten Knaben. Durch ein trauriges Geschick hat der Junge seine Eltern verloren, wird bald hierhin und bald dorthin verschlagen, bis er zuletzt, wie der Titel des Buches sagt, doch noch einen richtigen Glücksfall erlebt.

Viña del Mar (Chile), Weihnachten 1938.

Ina Jens.

 


 


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