Jean Paul
Das Kampaner Tal
Jean Paul

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507. Station

Der Diebstahl des Souvenirs – Antworten auf vorige Stationen – über die Auswanderung der Toten in fremde Planeten – die dreifache Welt im Menschen – die Klage ohne Trost – Siegel der Unsterblichkeit – das Lustschloß – die Montgolfieren – Entzückungen

Wenn es drei Uhr und einem wandernden ökumenischen Konzilium außerordentlich wohl und ein wenig warm ist und wenn gerade der schmalere Adour, der am Tal-Ende entquillt, sich um ein Erdzüngelchen ringelt und über den auf seinem Bette schlafenden MondDie unter dem Wasser gemilderte nachgespielte Sonne. seinen Silberflor zieht – wenn um die Erdzunge, diesen blumigen Ankerplatz, halb Wasserstück, halb bowling-green, eine breitlaubige Ahorn-Arkade wacht, unter der ein aus den Zweigen auf Rasen herausgeschlüpftes, mit Sonnenlicht vergoldetes Nachtstück zittert, das der rauschende bunte Streusand auf dem Buch der Natur, die Insekten, sticken – wenn das Hämmern in den glänzenden Marmorbrüchen und die lebendigen Alphörner, das blökende Weidevieh, und das Rauschen von den Wellen bis zu den Ähren und Gipfeln hinauf das Herz voll Lebensbalsam, den Kopf voll Lebensgeister gießet – und wenn so viel Schönheiten zu sehen und zu hören sind: so ist Schönheiten, welche gehen, damit gedient, daß sie sich auf die Erdzunge niedersetzen und daß die Polsterträger, die sie bedienen, vorher etwas zum Untersatz für die Arme unterbreiten.

Mein lieber Viktor, das wurde alles ins Werk gerichtet.

Im Sitzen schienen lange Reden nicht so tulich wie im Lauf; auch hatten sie schon vorher, als man mit den Augen sich diese Erdenge zum Lustlager abstach, etwas gelitten. Ich hielt mich auf dem Ufer – die Stiefel hingen über dem Adour – unweit Nadinen auf, die jetzt in dem vom Schatten getuschten Widerschein der Wellen ein herrliches bleiches Rot (als hätte sich eine Purpurschnecke auf der Wange verblutet) zeigen konnte. Der Gang und der rote Sonnenschirm waren zu grelle Koloristen gewesen.

Guter Bruder, ich schickte mich an, mich zu verlieben. Die operierte Warze wollte als Eckstein des Ärgernisses, als negative Elektrizität nicht viel sagen: Warzen haben ihr Gutes.

Nadine brach Flatterrosen und andere Blumen. Ich zog ein leeres Schmuckkästchen – es wurde wie der 9te Kurstuhl oder der Elias-StuhlBei der Beschneidung setzen die Juden einen Stuhl für den Beschneider und einen für den Propheten Elias hin, der sich unsichtbar daraufsetzt. oder der limbus patrum nicht besetzt – aus der Tasche und hielt es offen unter, mit der Bitte, die Blumen darein auszuschütteln und auszustoßen, damit ich die wenigen SkolopenderSkolopender oder Feuerasseln leuchten nachts; man muß sich hüten, sie nicht aus den Blumenkelchen mit den Düften ins Gehirn zu ziehen. bekäme, die ohnehin wie die Talglichter mehr für das Auge als die Nase wären. Wir zogen ein ganzes Wormser Dreizehner-Kollegium von Feuerasseln aus den Blumenkelchen gefänglich ins Kästchen ein.

Unter dem Blumenspiel, das uns einander näherte, fiel mir ein ganzer verkleinerter Mai auf die Schneiderische Haut: ich sah mich nach den Blumen-Poren um. Es war nichts auszufinden, bis ich aus der linken Tasche Nadinens ein in Montpellier mit wohlriechenden Kräutern gefüttertes Souvenir vorgaffen sah. Eine Schöne bestehlen ist oft nichts Geringers als sie beschenken: ich hielt es für sachdienlich, Nadinen die riechende Schreibtafel heimlich zu entwenden, um nachher einen Flakon und einen Spaß daraus zu machen. Ich kartete das Spolium so, daß gerade der Baron meine kriechende Hand sah, als sie das Werkchen aus der Tasche holte.

»Aus dem Souvenir«, dacht' ich, »kann sich eine und die andere Szene entspinnen. Riechen kann man ohnehin daran.« Für den Diebstahl des Riechsäckchens hielt ich sie durch die Skolopender schadlos, deren Gefängnis ich auf der Stelle in ihre Tasche spielte. Der Baron war Zeuge.

Wilhelmi sagte, als wir aufstanden: »Abends sind wir durch die Wagen getrennt und betäubt; falls noch etwas auszumachen ist....«

»Etwas?« (versetzte Phylax) »Alles ist noch auszumachen. Sie haben jetzt, Herr J. P., zuvörderst die zweite Schwierigkeit zu heben.«

»Heben?« (fragt' ich) »die Decke einer ganzen künftigen Welt soll ich heben wollen? Ich komme ja erst hinein, und nicht daraus her. Aber eben diese Unähnlichkeit der zweiten Welt, diese inkommensurable Größe hat ihr die meisten Apostaten gemacht: nicht das Zerspringen unserer körperlichen Puppenhaut im Tode, sondern der Abstand unsers künftigen Lenzes vom jetzigen Herbst wirft so viele Zweifel in die arme Brust. Das sieht man an den Wilden, die das zweite Leben nur für den zweiten Band, für das Neue Testament des ersten halten und zwischen beiden keinen Unterschied annehmen als den zwischen Alter und Jugend; diese glauben ihren Hoffnungen leicht. Ihre erste Schwierigkeit, das Abspringen und Zerbröckeln der Körper-Glasur, entzieht gleichwohl den Wilden die Hoffnung nicht, in einer neuen Blumenvase wiederaufzukeimen. Aber Ihre zweite Schwierigkeit vermehret sich und die Zweifler täglich; denn durch die Menstrua und Apparate der wachsenden Chemie und Physik wird die zweite Welt täglich besser niedergeschlagen oder verflüchtigt, weil diese weder in einen chemischen Ofen noch unter ein Sonnenmikroskop zu bringen ist. Überhaupt muß nicht bloß die Praxis des Körpers, sondern auch die Theorie desselben, nicht bloß die angewandte Erdmeßkunst seiner Lüste, sondern auch die reine Größenlehre der sinnlichen Welt den heiligen, in sich zurückgesenkten Blick auf die innere Welt diesseits der äußern verfinstern und erschweren. Nur der Moralist, der Psycholog, der Dichter, sogar der Artist fasset leichter unsere innere Welt; aber dem Chemiker, dem Arzte, dem Meßkünstler fehlen dazu die Seh- und Hörröhre, und mit der Zeit auch die Augen und Ohren.

Im ganzen find' ich viel weniger Menschen, als man denkt, welche das zweite Leben entschieden entweder glauben oder leugnen: die wenigsten wagen es zu leugnen – da das jetzige dadurch um alle Einheit, Haltung und Ründung und Hoffnung käme –, die wenigsten wagen es anzunehmen – da sie über ihre eigne Verherrlichung erschrecken und über das Erbleichen der verkleinerten Erde –, sondern die meisten schwanken dichterisch nach dem Stoße alternierender Gefühle im Zwischenraum beider Meinungen auf und ab.

Wie wir Teufel leichter als Götter malen, Furien leichter als die Venus Urania, die Hölle leichter als den Himmel, so glauben wir auch leichter jene als diese, leichter das größte Unglück als das größte Glück: wie sollte nicht unser an Fehlschlagungen und Erdenketten gewöhnter Geist über ein Utopien stutzen, an dem die Erde scheitert, damit die Lilien derselben wie die Guernsey-Lilien das Ufer zum Blühen findenDie Guernsey-Lilie aus Japan hat ihren Namen von der Insel Guernsey, auf welche ein scheiterndes Schiff, das damit beladen war, sie ausschüttete und aussäete., und das die gequälten Menschen errettet und befriedigt und erhebt und beglückt?

Ich komme zu Ihrer Schwierigkeit. Mich dünkt, sogar wenn einer das Grab für den Kommunikationsgraben bloßer verwandter Globen nähme, so sollte ihn seine Unwissenheit über die zweite Weltkugel nicht erschrecken, und wir dürfen darum, weil wir durch das tiefe Gewässer des toten Meers nicht durchblicken können, nicht schließen, daß sich die Gebirge der Menschheit nicht im toten Meere fortziehen, so wie alle Bergrücken unten auf dem Meeresboden weiterlaufen. Wie? der Mensch will Welten erraten, der keine Weltteile errät? Würde der Grönländer den Neger, den Wiener, den Dänen, den Griechen ohne Urbilder in seiner Gehirnkammer abschatten? Weissagt ohne Erfahrung das politische Genie sich die innere Versifikation des poetischen, der Abderit die Bauart des Weisen? – Würden wir nur eine von den Tiergestalten des hinabwärtssteigenden Anthropomorphismus erraten haben, der die Menschengestalt in allen Tieren nachdruckt und doch in allen verändert? Oder hätte ein unbeleibtes Ich, mit allen hiesigen Logiken und Metaphysiken in das vacuum postiert, je durch Denken eine Ader seiner jetzigen Verkörperung und Menschwerdung erdacht? –

»Was verneinen oder bejahen Sie denn eigentlich?« sagte Wilhelmi.

»Ich bejahe nur, daß deswegen noch nicht ein zweites Leben auf einem Planeten zu verneinen wäre, weil wir den Planeten nicht mappieren und die Einwohner nicht porträtieren können. Wir brauchen aber keinen Planeten.«

Der Baron sagte: »Ach, ich dachte mir oft die große Tour durch die Sterne so reizend! Es war die Lokation eines Schülers von einer Klasse zur andern – die Klassen sind hier Welten.«

»Auf allen diesen Erden«, sagte der Rittmeister, »wirst du abgewiesen, wie auf unserer, wenn du ohne Körper hineinwillst. Durch welches Wunderwerk bekömmst du einen?«

»Durch ein wiederholtes,« (sagte ich) »denn den gegenwärtigen haben wir ja schon durch eines. Zum Vorteil der Planetenwanderung kann man noch sagen: unser Auge trennt die Welten zu sehr, deren jede nur ein Element des unendlichen zusammenwirkenden Integrales ist. Die verschiedenen Erden und Nebenerden über und um uns sind nur entferntere Weltteile; der Mond ist nur ein kleineres entlegneres Amerika, und der Äther ist das Weltmeer.«

»Das ist so,« sagte Nadine, »wie ich mir vor einigen Tagen die Einwohner eines Zitronenbaums dachte. Das Würmchen auf dem Blatt denkt etwan, es sei auf der grünen Erde, das zweite Würmchen auf der weißen Blüte glaubt sich auf dem Vollmond, und das auf der Zitrone denkt sich auf die Sonne.«

»Doch ist nur«, sagt' ich, » ein Baum des unermeßlichen Lebens. Wie um den Erdkern weitere und feinere Umfassungen gehen, die Erde, die Meere, der Luftkreis, der Äther, so umschlingt den Riesen einer Welt ein immer größerer mit längern Armen. Das längere Band ist das feinere, wie die Lichtmaterie und Anziehungskraft, die schöne Umschlingung dehnet sich weicher von Eisenringen zu Perlenschnüren aus bis zu Blumenketten und Regenbogen und Milchstraßen.«

»Wollen wir wieder von der Milchstraße herab,« (sagte Karlson:) »denn wir können eben nicht hinauf. Eben diese allgemeine Einheit des Universums schließet das Durchschwärmen der Emigranten aus der Erde aus: jeder Planet ist mit seiner Schiffsmannschaft schon bevölkert; dichtere Planeten, z. B. der Merkur, mit wahren Matrosen.«

»Ganz wie es Kant vermutet!« sagte Phylax.

»Feinere lockere, wie z. B. der Uranus, mit den zartesten Wesen, vielleicht bloß mit Schönen und Charitinnen, die ohnehin die Sonne nicht lieben. Wer den sogenannten Geist oder Spiritus rektifizieren will, indem er ihn aus dem Brennkolben eines Planeten in den andern überzieht, der kann ebensogut versichern, daß die Geister aus dem verschlackten Merkur in einer Destillation durch Niedersteigen in unsere Erde ihre Dephlegmation erhalten, kurz daß die Erde die zweite Welt für Merkur und Venus ist – ja die Verstorbenen aus den Polarzonen könnten (es wäre destillatio per latus) in die gemäßigten fahren. Denn auf allen Planeten können am Ende doch nichts sein als gröbere oder feinere MenschenDenn die klimatischen Unterschiede der Planeten müssen zwar wie die klimatischen Verschiedenheiten unserer Zonen Neger, Pescherähs, Griechen, aber doch immer Menschen geben. wie wir.«

Karlson wartete auf Widerlegung und Kontraapprochen. Ich sagte aber, seine Meinung sei völlig die meinige.

»Ich habe noch einen stärkern Grund« (fuhr ich fort) »gegen die Auswanderung und voyage pittoresque durch Planeten: weil wir in unserer Brust einen Himmel voll Sternbilder tragen und verschließen, für den keine beschmutzte Weltkugel weit und rein genug ist. Aber darüber muß ich wenigstens so lange reden dürfen, bis wir alle Weizenfelder hindurch sind.«

Viktor, unser Luststeig war jetzt eine Allee durch Zaubergärten: unser Durchgang durch ein grünes Meer von Ähren wurde auf beiden Seiten von einem gelobten Lande umgeben und begleitet, auf dem vereinzelte Häuser unter gruppierten Laubhainen ausruhten, wie in Italien nachmittags die Sieste-Schläfer zerstreuet auf beschatteten Auen. Es wurde mir Ausführlichkeit verstattet.

»Es gibt eine innere, in unserem Herzen hängende Geisterwelt, die mitten aus dem Gewölke der Körperwelt wie eine warme Sonne bricht. Ich meine das innere Universum der Tugend, der Schönheit und der Wahrheit, drei innere Himmel und Welten, die weder Teile, noch Ausflüsse und Absenker, noch Kopien der äußern sind. Wir erstaunen darum weniger über das unbegreifliche Dasein dieser drei transzendenten Himmelsgloben, weil sie immer vor uns schweben, und weil wir töricht wähnen, wir erschaffen sie, da wir sie doch bloß erkennen.Man sollte daher nicht sagen mundus intelligibilis, sondern mundus intellectus. – Nach welchem Vorbild, mit welcher plastischen Natur und woraus könnten wir alle dieselbe Geisterwelt in uns hineinschaffen? Der Atheist z. B. frage sich doch, wie er zu dem Riesen-Ideal einer Gottheit gekommen ist, das er entweder bestreitet oder verkörpert. Ein Begriff, der nicht aus verglichenen Größen und Graden aufgetürmt ist, weil er das Gegenteil jedes Maßes und jeder gegebenen Größe ist: – kurz der Atheist spricht dem Abbild das UrbildMan sage immerhin, mit dieser Wendung werde jedes Utopien, das auch ein Abbild sei, realisiert: denn das Urbild aller Träume, Severambenländer, Utopien etc. existiert auch wirklich – wiewohl stückweise; hingegen das Urbild des Unendlichen kann nicht stückweise existieren. ab. – Wie es Idealisten der äußern Welt gibt, die glauben, die Wahrnehmungen machen die Gegenstände – anstatt daß die Gegenstände die Wahrnehmungen machen –, so gibt es Idealisten für die innere Welt, die das Sein aus dem Scheinen, den Schall aus dem Echo, das Bestehen aus dem Bemerken deduzieren, anstatt umgekehrt das Scheinen aus dem Sein, unser Bewußtsein aus Gegenständen desselben zu erklären. Wir halten irrig unsere Scheidekunst unserer innern Welt für die Präformation derselben, d. h. der Genealogist verwechselt sich mit dem Stammvater und Stammhalter.

Dieses innere Universum, das noch herrlicher und bewunderungswerter ist als das äußere, braucht einen andern Himmel als den über uns und eine höhere Welt, als sich an einer Sonne wärmt. Daher sagt man mit Recht nicht die zweite Erde oder Weltkugel, sondern die zweite Welt, d. h. eine andere jenseits des Universums.«


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