Karl Immermann
Preußische Jugend zur Zeit Napoleons
Karl Immermann

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8. Kapitel.

Erstes Semester in Halle.

Zwischen der Schule und Universität ist eine große Kluft. Den Sprung vom erzwungenen zum freien Lernen macht niemand, ohne daß eine Entwicklungskrankheit ihn befiele. Diese bestand in jenen Zeiten für die Meisten, nämlich für diejenigen, welche nicht berufen waren, dereinst als Lehrer der Nation zu glänzen, in dem sogenannten Burschenleben. Es ist untergegangen, weil die Freiheit, deren Surrogat es war, begonnen hat, selbst in das deutsche Leben einzusickern. Die Studenten sind auch jetzt noch vergnügt oder dissolut, sie glauben aber nicht mehr, daß ihre Possen oder Ausschweifungen in ein System gebracht werden müßten.

Das Burschenleben war ein ausgebildetes Nichtstun, eine TabulaturUngefähr: Hausordnung oder Statut, Gesetze für einen bestimmten Kreis. Die Meistersinger hatten solche Tabulatur von Vorschriften für das Dichten, die viel verspottet wurden. phantastischer Gesetze, von Müßiggängern für Müßiggänger gegeben, ein problematischer Staat, in welchem kindische Tätigkeit, kindische Ehre, kindische Tapferkeit regierten nebst einiger wahren Freundschaft, Hingebung und Brüderlichkeit. Es war die deutsche Komödie, der nationale Schwank. Die mittleren Köpfe füllten damit ihre Zeit aus, bis das Gespenst des Examens herandrohte und sie zu den Studien scheuchte, zu dem Studium, welches damals für die Mehrzahl noch keinen verächtlichen Nebenbegriff hatte.

Dies war das Brotstudium. Es ist jetzt mit Recht verrufen und wird nur gleichsam illegitim geliebt. Damals galt es als das ganz ehrenvolle; es war schon ein besonderer Luxus, wenn der Jurist, der Theologe, der Philologe sich noch mit Lehrvorträgen außer seinem »Fache« befaßte. Die Meisten blieben in der Trainkolonne, die unmittelbar zum Amte fuhr, und empfingen, was auf diesem Wege ihnen als Proviant zugemessen wurde.

Allerdings gab es zwischen den künftigen Lehrern der Nation und den Handwerksköpfen auch noch eine zahlreiche Klasse, welche durch die eigentlich bildenden Disziplinen erregt blieb. Diese Klasse hat einen höchst achtbaren Bestandteil der nachherigen Männer geliefert.

Im April 1813 bezog ich die Universität Halle. Mein Vater hatte in dem sehr richtigen Gefühle, daß Lebensabschnitte die besten Früchte tragen, wenn der neue Boden unvermischt gelassen wird, festgesetzt, daß ich ein ganzes Jahr lang nicht nach Hause kommen und die ersten Ferien zu einer Reise nach Thüringen und Franken benutzen solle.

Die Honigmonate meiner jungen Freiheit waren süß. Nach Giebichenstein und Crellwitz wurde allabendlich gepilgert, die Saale in Kähnen, die nicht viel breiter und sicherer waren als die Kanus der Wilden, bis zur Höltybank befahren. Zwischen den grünen Büschen des Giebichensteiner Gartens oder unter den Felsen von Crellwitz lagerte sich die junge Horde, seelenvergnügt bei der schmälsten Kost, und dort ging uns TiecksImmermann blieb zeitlebens ein großer Bewunderer Ludwig Tiecks, der damals gewissermaßen für Goethes Nachfolger auf dem Throne der deutschen Poesie galt; auch persönliche Freundschaft verband Beide. Gestirn auf, welches wir eben kennen gelernt hatten und das uns mit unsäglicher Freude erfüllte. Wirklich stieg da die wundervolle Märchenwelt uns auf in der alten Pracht, und wie oft stürmten wir jauchzend über den Jäger im Runenberg, über den Kater, die Studenten Löwe und Tiger, das Rotkäppchen und den König Gottlieb in »mondbeglänzter Zaubernacht, die den Sinn gefangen hielt«, heim!

Über diese Anregungen hinaus ragte noch eine andere Erscheinung der edelsten Schönheit. Die weimarische GesellschaftDie weimarischen Schauspieler spielten in den Sommermonaten in dem damals viel besuchten Bade Lauchstädt bei Halle vor den Badegästen und den Hallischen Professoren und Studenten. Sie waren von Goethe und Schiller zu einer hohen Auffassung ihrer Kunst erzogen; Immermann deutet ihre Besonderheiten im Nachfolgenden an, deutet auch an, wie wichtig sie für ihn wurden. Er wurde nicht nur ein Dramatiker, der seine Stücke für ein solches Theater, wie das weimarische war, dachte, sondern er wurde später geradezu ein Nachfolger Goethes in der Erziehung der Schauspieler und des Publikums zu einem Theater höherer Art. Und wie Goethe Theaterintendant und Geheimer Rat war, so war Immermann in Düsseldorf freiwilliger Theaterdirektor und im Hauptberuf Landgerichtsrat., damals in der höchsten Blüte, spielte in Halle, und so erlebte ich etwas, was unschätzbar in eines Menschen Geschick ist; nämlich, der völlig offene und unentweihte Sinn wurde gleich von einem Höchsten in seiner Art entzündet.

Ich fühlte mich seit meinen ersten Kinderjahren leidenschaftlich zum Dramatischen hingezogen; man kann aber nach dem bisher Erzählten sich wohl vorstellen, daß mir der Besuch des Schauspiels eben nicht reichlich verstattet wurde. Ich war bis zu meinem siebzehnten Jahre vielleicht drei- oder viermal im Theater gewesen, und nun wurde mir, der ich durch etwas Falsches noch nicht geirrt worden war, diese Offenbarung des Feinen, Würdigen, diese Musik des Vortrags, dieser Reigentanz des Gangs und der Gebärden, dieser Äther der Poesie, wodurch der große Dichter seine Anstalt zum Abdruck der eigenen harmonischen Brust gemacht hatte. Von Vergnügen war da nicht die Rede, sondern entzückt war ich und verzückt; die alte Kirche, worin man die Bühne eingerichtet hatte, war mir eine geweihte Halle.

Regelmäßig hörte ich SchützChristian Gottfried Schütz (1747-1832), von 1779-1804 in Jena, danach in Halle Professor der Poesie, Literaturgeschichte und Beredsamkeit. Großen Einfluß hatte er durch die von ihm 1785 begründete Allgemeine Literaturzeitung. über Horazens »Episteln« und die »Frösche« des Aristophanes. In diesem Kollegio stellte sich gleichfalls zu jeder Stunde ein feiner, blasser Mann im erbsengelben Oberrock, das Buch wie wir anderen Schüler unter dem Arme, ein, der uns am Abend als Posa, Don Manuel, Wiburg, Klingsberg hinriß oder lachen machte. Es war WolfPius Alexander Wolf, der Beste und Gebildetste der weimarischen Schauspieler; Goethe betrachtete ihn als seinen eigentlichsten Schüler. Uns Heutigen tritt er noch nahe als Textdichter der ›Preziosa‹, z. B. durch sein Lied »Die Sonn' erwacht«. .

Es ist wahr und muß immer wiederholt werden: die Deutschen hatten in jenen Leidensjahren nur in ihrer großen Dichtung das Evangelium, welches sie zur Gemeine machte, sie über der materiellen Not, über dem Verlieren in eine wüste Verzweiflung emporhielt. Namentlich sind Goethe und Schiller die beiden Apostel gewesen, an deren Predigt sich das deutsche Volk zu Mut und Hoffnung auferbaute. Es ist mehr als sündlich, wenn man dieses unsterbliche Verdienst nachmals hin und wieder in stumpfsinniger oder heuchlerischer Mäkelei hat vergessen werden wollen. Die »Evangelische Kirchenzeitung« und die mit ihr trollende Lämmleinsbrüderschaft hat den beiden ihr Heidentum aufgestochen, und Mancher meint etwas recht Kluges gesagt zu haben, wenn er von sich gibt, daß Goethe doch keine Religion habe. Er hatte die Religion, ein großer Mann zu sein und den Ausländern Bewunderung abzuzwingen, während wir Anderen vor ihnen im Staube knirschten!

Das Verhältnis, in welches sich die Jugend zu den großen Schriftstellern setzte, war ein leidenschaftlicher Liebesbund. Das junge Alter pflegt eine richtige Ahnung von dem Höchsten zu haben, was gerade in der Zeit da ist. Die Ersten lebten noch zum Teil, und das tat auch viel, denn das Tote ist abgeschlossen und fällt der Betrachtung anheim, das Lebendige weiset aber immer in eine unendliche Zukunft hin, der Nerv der Bewegung wird von ihm affiziert. Sie kamen uns wie Heilige vor, deren leuchtende Fußtapfen zu sehen schon das höchste Glück gewesen wäre. Von Kritik war unter diesen Jünglingen nicht die Rede. Eine beschränkte Lehre machte die Seele nur um so lechzender, am Quell der Poesie sich zu berauschen, wenn sie einmal zu ihm hinangeleitet worden war. Auch war der Blick nicht zerstreut, die Literatur bot dem geistigen Auge die einzige Weide. Von der bildenden Kunst, welche jetzt Viele ableitet, sprach Niemand.

Am gewaltigsten unter Allen wirkte aber doch Schiller, während Goethe uns mehr ein Gott in unendlichem Abstande blieb. »Faust«, der jetzt das Haupt- und Grundbuch der Jugend geworden ist, regte uns eher Schreck als Freude an. Ich erinnere mich noch des eigenen Fröstelns, mit dem ich Mephistopheles und die Meerkatzen zum ersten Male gedruckt las. Einer unserer Lehrer sagte, es solle das größte Werk Goethes sein, man könne es nur leider nicht verstehen.

Schiller hat das ganz eigentümliche Genie besessen, scheinbar die Gestalten der Welt heranzubeschwören und sie doch so im Feuer des Begriffs wieder aufzulösen, daß sie Schatten glichen, die nun ein Jeder erst mit seinem wärmsten Herzensblute tränken mußte, um die edeln bleichen Lippen für sich zum Reden zu bringen. Schillern ist die Welt dunkel, und in dieser Dunkelheit läßt er einige Figuren ohne individuelle Züge, aber von glänzender Durchsichtigkeit erscheinen. Gerade diese erhabene Transparentmalerei war es aber, was dem Sinne der damaligen Jugend am mächtigsten zusprechen mußte. Das frische Gefühl der Menschheit verlangt nach Gestalten, es mag aber nicht gern seine noch große Reizbarkeit durch ihren Realismus belästigen lassen. Damals nun bedurfte der auf allen Seiten von der kolossalsten Wirklichkeit umdrängte Sinn nur noch mehr des poetischen Widerhalts, den ihm diese großen und doch leichtfaßlichen Transparente gaben. Obgleich die Empfindsamkeit noch nicht der Jugend verschwunden war, so konnte doch die Poesie jener Stimmung unter so historischen Umständen in uns nur die zweite Stelle einnehmen, und deshalb ist erklärlich, weshalb »Werther« uns nur in geringerem Grade berührte, selbst hinter Klopstocks tönenderen Freundes- und Liebesworten zurückstand und erst unsere reifere Zeit entzücken sollte. In Schiller traf nun aber Alles zusammen, was wir begehrten; gleichsam eine historische Sentimentalität wehte uns aus ihm entgegen. Seine voll hinrauschenden Worte prägten sich fast ohne Absicht, sie zu behalten, dem Gedächtnisse ein; das Gedächtnis ist aber die erste Kraft, welche im Menschen sich ausbildet. Wird man mich mißverstehen, wenn ich sage, ich halte es für das Hauptverdienst Schillers, der größte Jugendschriftsteller der Nation geworden zu sein?

Unsere Begeisterung für ihn ging aber bis zur Andacht. Es war uns wunderbar, daß ein solcher Mann hatte sterben können. Das Bewußtsein, daß sein Tod erst vor wenigen Jahren erfolgt sei, schärfte noch die mythische Empfindung, von welcher Jeder in seinem Privatgeschicke ein Analoges erlebt, wenn nun ein Geliebtester soeben abgeschieden ist und die an den Verlust noch nicht gewöhnte Seele aus ihren Tränen und aus ihrer Sehnsucht, aus den Kleidern des Dahingegangenen, aus den Spuren seines Wirkens, aus Allem, was seine Hand berührte, noch eine Zeit lang die teure Schattengestalt sich zusammenwebt. So schritt uns Schiller als Schatten noch umher, denn er war ja in der Mitte seiner Laufbahn hinweggerafft worden, und wir sagten uns, daß wir, wenn er das gewöhnliche Lebensalter erreicht hätte, ihn dereinst von weitem gesehen haben würden.

In einer unserer Zusammenkünfte, es mochte sieben Jahre nach seinem Tode sein, als wir wieder einmal über ihn sprachen, rief einer plötzlich aus: »Wenn er noch lebte, wollte ich gern einen Finger meiner rechten Hand darum geben!« – Dieser Eifer blieb nicht ohne Nachahmung. Ein Zweiter setzte die Hand, ein Dritter beide Hände daran. Der Enthusiasmus wuchs und sprach sich in immer größerem Erbieten zu Verstümmelungen aus, so daß, wenn man die Gliedmaßen, welche aufgegeben werden sollten, zusammensummiert hätte, der ganze Kreis zum wenigsten einen vollständigen Menschen eingebüßt haben würde.

Man kann diese Szene lächerlich finden und zweifeln, ob der Opfermut stark genug gewesen wäre, sich beim Worte nehmen zu lassen; indessen ist es doch immer schön, wenn die Jugend ihre ersten Aufregungen von starken, positiven Geistern empfängt.


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