Karl Leberecht Immermann
Der Karneval und die Somnambule
Karl Leberecht Immermann

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Einige Wochen später wurden die Freunde der Gatten durch eine unerwartete Nachricht überrascht und betrübt. Sie erklärten schriftlich gemeinschaftlich, daß Dinge, die einer dem andern nicht vorzuwerfen habe, sie zwängen, ihre Verbindung aufzuheben. Sie baten die, welche ihnen wohlwollten, keinen Stein auf sie zu werfen, da sie selbst einander nicht anschuldigten; sie fügten die Versicherung, hinzu, daß der Trennung ungeachtet gegenseitige Wertschätzung und Ergebenheit fortdauern werde.

Natürlich begnügte sich die Welt mit einer so rätselhaften Erklärung nicht. Man fragte, man deutete, man wollte durchaus einen Grund haben und wissen. Bestürzt kam der Bruder zur Schwester und drang mit wohlgemeinten heftigen Worten in sie; sie bat ihn inständigst, ihr Ruhe zu gönnen – ob er meine, daß ein so schwerer Schritt nicht wohl erwogen worden sei? – Einige neugierige Freundinnen steckten sich in ihrem Eifer hinter die Domestiken. Aber auch diese vermochten wenig Auskunft zu geben. Nur ein kürzlich angenommenes Mädchen erzählte, die gnädige Frau habe den Herrn bei der Rückkunft von einer Reise mit rotem Gesicht und heftigen Vorwürfen empfangen; sie habe ihm gesagt, wie sie wisse, daß er nach Köln gereist sei und nicht in das Gebirge. Der Herr habe gar nichts erwidert; es sei eine lange Pause entstanden; endlich habe die gnädige Frau einen Schrei ausgestoßen, der Herr aber habe gesagt: «Wenn diese Briefe von dir sind, so wären wir quitt!»

Weiter hatte das Mädchen, vor dem Zimmer lauschend, nichts erlauschen können. Sie sprach von verweinten Augen und naßgeweinten Kissen und daß der Herr seit jenem Tage immer krank ausgesehen habe. Diese Schmerzen interessierten die Welt eben nicht sonderlich; aber in Verzweiflung war man, daß man durchaus nicht zu ergründen vermochte, wo und wann das galante Abenteuer vorgefallen war. Denn Adolfine hatte sich während ihrer Ehe fleckenlos betragen.

Doch lassen wir die Menschen mit ihrer herzlosen Neugier! – Die Abschiedsstunde unsrer Freunde war nicht leicht. Sie sonderten ihre Sachen; da wurde so manches voneinander getan, was lange zusammengestanden hatte, es war ihnen beiden, als beginne die Auflösung ihres Leibes und ihrer Seele. Doch hatten sie einander Fassung gelobt; Adolfine schien besonders fest zu sein. Sie ruhte einen Augenblick von der Mühe des Packens aus, setzte sich auf einen Koffer und sagte: «Versprich mir, Gustav, daß du mich zu deiner Pflege holen lassen willst, wenn du krank wirst!» Er gab ihr die Hand, setzte sich zu ihr und erwiderte: «Du nimmst doch auch niemand als mich zu deinem Geschäftsführer?» So saßen sie Hand in Hand auf dem Koffer, und um sie her lagen Schachteln, Kartons, Musikalien und Bücher in wüster Unordnung. Jetzt trat der Bediente ins Zimmer und sagte verlegen und zögernd: «Der Musikdirektor schickt den Subskriptionsbogen herum und läßt fragen, ob der Herr und die gnädige Frau wieder an den Winterkonzerten teilnehmen werden.» In demselben Augenblicke hob die Flötenuhr an der Wand aus und spielte das Lied:

«Es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dem wechselnden Mond.»

Diese geringfügigen Umstände brachen, wie es wohl zu geschehen pflegt, die Herzen, welche unter schwereren Dingen sich aufrecht gehalten hatten. Laut weinend stürzten die Unglücklichen einander in die Arme; schluchzend rief Gustav: «Laß uns zusammenbleiben!» Sie weinte, als wollte sie sich in Tränen auflösen, und sagte dann leise, was Sidonie ihm gesagt hatte: «Hätte ich dich früher gesehen!» Sie lag wie ein armes Kind an seine Brust geschmiegt; nie war sie so innig gewesen. «Ja, du bleibst bei mir!» rief er, von falscher Hoffnung getäuscht.

Sie richtete sich auf, trocknete ihre Augen und sprach gefaßt: «Betrüge dich nicht! Ich will darin wenigstens verständiger sein als die meisten meines Geschlechts, daß ich nichts Zerstörtes mit eitler Mühe zu erhalten strebe. Wenn ich zurückdenke an das, was ich erfahren habe, so ergreift mich ein Ekel vor mir selbst. So sich betrügen zu können! Ein... Pfui! Der Mensch ist ein elendes Geschöpf! Siehst du wohl? Es geht nicht, und die Flötenuhr behält recht. Soll ich mich ewig in meinem eigenen Hause schämen müssen? Könnte das dich glücklich machen? Könnte eine Frau es ertragen?» – «So treiben die Toten die Lebendigen auseinander!» rief er verzweiflungsvoll aus. «Er liegt im Grabe, der Frevler, lange; sie ging zur Ruhe vor einigen Tagen; ihre alte Pflegerin ließ mich's wissen. Zwei Schatten – können sie einen Bund für das Leben zerstören?»

«Ich bin zu traurig», versetzte Adolfine, «als daß ich nachdenken könnte. Wenn man die Ringe wechselt, soll man die Herzen ganz verschenken und einen Strich über alles Frühere machen. Sonst rührt man an das Reich der Schatten, und da kommt herauf, man kann nicht voraussehen, was. Die Torheit hat begonnen, der Zufall hat vollendet; so ist der Abgrund zu unsern Füßen zuletzt aufgewühlt worden. – Hilf mir packen! Der Wagen kommt in einer Stunde.»

Er schwieg, und noch an demselben Tage fuhr ein schwerbepackter Reisewagen aus dem Tore. Die Fenster waren geschlossen, und niemand hat gesehen, wer in dem Wagen saß.

 

Wenn man von dem Kruzifixe, wo Gustav Sidonien so unerwartet traf, seitwärts in den Kreuzgang tritt, blickt man auf den stillen Friedhof, den der Kreuzgang mit seinem Pfeiler- und Blätterwerk umschließt. Der Anblick ist sehr freundlich und mild. Eine zierlich ausgezackte und abgestufte Spitzsäule erhebt sich in der Mitte; ringsumher weht die Akazie, schattet der Holunder über den Gräbern. Die Kinder lieben das Plätzchen und treiben den Kreisel dort; die Angehörigen besuchen fleißig die Ruhestätten ihrer Seligen. Namen, Jahrzahlen und fromme Sprüche sind an den Kreuzen nicht gespart. Ein namenloses Grab aber ist in der Nähe der Spitzsäule, kahl und unbeschattet, keine liebende Hand hat es bepflanzt. Nur eine Alte wankt von Zeit zu Zeit herbei, wenn das Abendrot auf den Kirchenfenstern liegt, ein herkömmliches Gebet über dem Grabe zu sprechen. Gustav hat es nie sehen mögen, und wenn die Alte stirbt, wird keiner mehr wissen, wer darin ruht.


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