Karl Leberecht Immermann
Der Karneval und die Somnambule
Karl Leberecht Immermann

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Hier schloß ich meinen Bericht. Meine Frau hatte während der letzten Hälfte desselben außerordentlich emsig gearbeitet. Ich sah, daß ihre Finger bluteten; sie mußte in ihrem Eifer sich mit der Nadel gestochen haben. Ich hätte ihr doch auf keinen Fall so verfängliche Dinge mitteilen sollen! Diese Betrachtung kam, wie alle meine Betrachtungen, nachdem der Schade geschehen war.

«Wenn sie dir nun wirklich in Köln erschiene, diese ideale Person – –?» sagte meine Frau spöttisch. – «Geliebte, was denkst du von mir?» versetzte ich mit Emphase.

«Jene Anzeige in der Karnevalszeitung ist sonderbar, höchst sonderbar; aber –.»

«Fritz! Fritz! Die Brücke kommt!» sagte sie in einem etwas schneidenden Tone. «Vergiß doch den Ring nicht! Deine mystische Vorbraut verlangt ihn vielleicht zu sehen als Beweis, daß du ihr Andenken ehrst.» Es war spät; sie packte ihr Gerät zusammen und stand auf, um sich schlafen zu legen. «Nun, ich wünsche dir einen vergnügten Fasching!» sagte sie beim Abschied. Ich war allein und überlas die Anzeige der Karnevalszeitung wohl zwanzigmal. Wär's möglich? Und was –? Ich wollte mir selbst meine Gedanken nicht bekennen.

 

Während eines heftigen Regengusses, der auf die Dächer niederklatschte und die Straßen zur menschenleeren Wüste machte, langte ich in Köln an. Mein Wagen fuhr durch die engen, finstern Gassen; melancholisch klang der Hufschlag auf dem nassen, ungleichen Pflaster; mir war zumute, als führe ich hinter einer Leiche her. So begann mein Karneval. Endlich hielt der Wagen vor dem Hause meines Freundes. Der Kutscher stieg ab, öffnete den Schlag, schüttelte seinen nassen Pelz, von dem die Tropfen wie die Perlen niederrannen, und brummte verdrießlich: «Das ist eine verfluchte Wirtschaft!» Ich ging durch einen langen dunklen Hausflur, konnte anfangs niemand finden; endlich kam ein Bedienter die Treppe herabgestiegen, überblickte mich flüchtig und sagte: «Ach, Sie sind gewiß der Herr, den wir erwarten.» Ich fragte ihn nach meinem Wirte; er sei noch in der General-Narrenversammlung, versetzte der Bursche und führte mich in das für mich bereitete Zimmer. Nicht lange blieb ich allein; Anselm, mein Freund, flog bald darauf in meine Arme. Wir hatten uns seit Jahren nicht gesehen; unser Wiederfinden war, wie es unter Jugendfreunden sein muß. Er war noch immer der alte, schwärmend für alles Neue, Herrliche, Große. Kaum ließ er mir Zeit, mich etwas zu erholen; sein Geist strömte über von den Ideen, die ihn erfüllten. «Endlich ist es gestürzt, dieses scheußliche Ministerium Villèle!» rief er freudig aus. «Ich habe den Constitutionnel in der Generalversammlung gelesen; es ist offiziell, der König beruft ein neues Conseil. Die Tendenzen des Jahrhunderts haben einen glänzenden Sieg erfochten; die Niederlage des heuchlerischen Aristokratismus ist entschieden. Törichtes Bemühen, die Zeit in ihren Fortschritten aufhalten zu wollen! Das hat dem Größten, dem Napoleon, Reich und Macht gekostet. Wir wirken, leben und sind jetzt nur durch Ideen, mit Ideen, in Ideen; die erhabenen Sterne der Gegenwart heißen Freiheit und Recht, Vernunft und Wahrheit; wer vor ihrem Lichte seine Augen verschließt, oh, der ist bald vom Wege ab und kommt unter die Füße. Glaubst du», rief der Freund heftig und packte mich an der Schulter, «daß man die Welt noch mit Reglements und Cabinets-Ordres, mit alter Stumpfheit und erneuter Lüge regieren kann? O wehe dir, wehe euch allen, die ihr das glaubt! Verkriecht euch in die Klüfte der Eulen; denn dahin gehört ihr! Schwirrt durch die Nacht, die euch verbleibe, aber laßt uns unsern Tag und unsere Sonne!»

«Hältst du mich für einen Finsterling?» unterbrach ich ihn, ärgerlich über seine mir empfindliche Anrede und darüber, daß er mich nicht einmal ruhig auspacken ließ. «Habe ich nicht anonym zu General Foys Subskription einen halben Louisdor eingeschickt mit dem Motto: Der Brave besitzt Landsleute auf der ganzen Erde? Hangen nicht Bolívar, Miaulis und Canaris über meinem Sekretär? Was treibt dich, deinen Freund, den du eingeladen hast, das Vergnügen dieser Tage bei dir zu genießen, mit beleidigenden Worten zu überschütten?» – «Bruder», sagte Anselm verschnaufend, «sei nicht böse! Gott weiß es, ich kann nicht anders! Ich bin Enthusiast; ich schwärme, ich rase für die gute Sache. Wenn ich das Gespenst der alten Begriffe mit den Augen meines Geistes erblicke, so kenne ich mich selbst nicht mehr; ich gerate außer mir; ich könnte meinen Bruder über den Haufen stoßen, wenn er mir dann begegnete!»

Diese und ähnliche Reden, die mein begeisterter Freund aus dem Stegreif vortrug, begleitete er mit raschen und gewaltigen Bewegungen des Hauptes, wodurch eine sonderbar geformte Mütze, die er zu meinem Erstaunen trug, locker gemacht wurde und in eine schiefe Richtung geriet. Endlich fiel sie ihm vom Kopfe, und ich nahm sie auf. Es war dieses eine hohe, nach vorn in eine gekrümmte Spitze auslaufende Mütze von rotem, weißem und grünem Tuche. Sie hatte die Gestalt der phrygischen Kopfbedeckung, welche die Statuen des Paris charakterisiert. Ich betrachtete sie aufmerksam und fragte: «Tragt ihr dergleichen jetzt hier? Das ist eine auffallende Mode.» – «Es ist meine Narrenkappe», erwiderte der Freund und steckte sie verdrießlich zusammengewickelt in die Tasche. «Man darf ohne den Bettel nicht in den Versammlungen erscheinen; ich hatte sie in meiner Freude über den Sturz jenes schändlichen Ministeriums aus Zerstreuung auf dem Kopfe behalten.»

Ich wünschte das Gespräch aus dem politischen Gleise zu lenken und sagte meinem Freunde, daß ich mich freue, ihn mit diesen unschuldigen Torheiten beschäftigt zu sehen; ich hätte bei seinem Ernste ihn dessen nicht für fähig gehalten; worauf er mir voll Würde entgegnete: «Sehr irrst du, wenn du glaubst, daß ich von Herzen solche Kindereien treiben könnte. Wahr ist es, ich bin Mitglied des Komitees; ich wohne allen Gelagen bei, die der Hauptabgeschmacktheit vorhergehn; ich helfe die Geckenzeitung redigieren; ich bin dem Scheine nach Geck, reiner Geck, nichts als Geck. Aber das alles ist nur Maske; unter derselben wirke ich für das Eine, was nottut. Leider sind uns in Deutschland die Besserungen ins Große und Ganze versagt; so muß man im Kleinen und Einzelnen etwas auszurichten suchen.» – «Und auch den Karneval benützest du für liberale Zwecke?» fragte ich ihn. – «Freilich!» rief er. «Wo Menschen zusammenströmen, da lernt man Menschen kennen; man darf deshalb dergleichen Gelegenheiten nicht verabsäumen. Ich halte als Hanswurst satirische Reden über Absolutismus; ich nehme diejenigen, denen ich Mißvergnügen ansehe, beiseite und sage ihnen, daß auch ich mit der Gegenwart nicht zufrieden sei. Ich spreche hauptsächlich gegen Rußland und dessen Einfluß.» – «Du machst dir doch ein beschwerliches Leben!» rief ich lachend aus. – «Freund», sagte mein Wirt und blickte verklärt gen Himmel, «für die Menschheit ist keine Mühe mühselig genug. Was ist das Leben wert, wenn man nicht die Kraft besitzt, einem erhabenen Zwecke seine Tage aufzuopfern? Diese Anbetung des Heiligsten in der neuen Zeit ist einmal mein Steckenpferd, mein Augapfel; ich mag darüber zugrunde gehen, was kümmert's mich? Ich habe nicht umsonst gelebt. Sie nennen mich den Hans in allen Gassen; ihr schaler Spott verwundet mich nicht; hat der Pöbel je höhern Sinn begriffen? Ich benutze jeden Anlaß, die gereinigten Ansichten über Volksleben und Volkswürde unter den Menschen zu verbreiten; ich bin in die Vorstellung des Bauchredners Alexander gegangen und habe gesagt, als der Gaukler seine Stimme aus allen Ecken des Saales tönen ließ: So hallt in Despotien nur das Wort eines einzigen, wenn auch mehrere zu sprechen scheinen. Was habe ich gesagt, als die Sontag hier sang und alles entzückt war? Braucht das Talent, rief ich, ein Wappen, um die Welt zu erobern? – Oh, ich werde noch ein Märtyrer meiner Überzeugungen werden!»

Während mein Freund nun noch mehreres über die Bedeutung des Jahrhunderts mit großer Salbung mir mitteilte, schien er ganz die Bedeutung der Stunde vergessen zu haben, in der wir uns zufälligerweise grade befanden. Es war nämlich diejenige, in der man gewöhnlich zu Nacht speist, und mein Magen, welcher den ganzen Tag über nichts zu sich genommen hatte, fühlte sich bei den Gesprächen über Verfassung und verfassungsmäßige Regierung außer aller Verfassung und unter der Tyrannei eines grausamen Hungers. Da wir alte Schul- und Universitätskameraden sind, so bat ich Anselmen endlich, er möge decken lassen. Das geschah, und wir aßen, oder vielmehr ich aß; denn Anselm lebte wirklich, wie er gesagt hatte, nur in Ideen und von Ideen. Er sagte mir, daß er morgen auch unsern Freund Ernst von Bonn erwarte. Ich freute mich sehr über diese Nachricht. «Sei nicht zu vergnügt!» sagte mein Liberaler. «Der Mensch hat umgesattelt – ist umgeschlagen wie schlechtes Bier; er ist servil geworden, er studiert Adam Müller und Konsorten. Mir ist's gar nicht recht, daß er kommt, der Fürstenknecht, es gibt immer Streit, wenn wir zusammentreffen.»

 

«Laß uns nur die Stunde nicht versäumen, wenn der Maskenzug beginnt!» sagte ich zu Anselm beim Frühstück. – «Wir haben bis elf Uhr Zeit», versetzte er. Und gleich war er wieder tief in politischen und humanen Erörterungen. In seinem Kopfe kreuzen sich die verschiedenartigsten Gedanken. Eine unglaubliche Rührigkeit setzt ihn in unaufhörliche Bewegung. Er ist Mitglied von Gott weiß wie vielen Gesellschaften, er sammelt Gemälde, er nimmt an einer Dampfschiffahrts-Kompanie teil und schreibt für mehrere Journale Korrespondenzartikel. Das alles erfuhr ich im Laufe einer von einem Punkte zum andern springenden Unterhaltung. Ich fragte ihn, ob er denn nicht gesonnen sei, sich zu verheiraten. «Nein», erwiderte er mit Feuer, «nur keine Fesseln, nur nicht Fußklötze, die jeden höhern Lebenszweck hindern! Der Mann – ist er ein Mann – bleibt Zölibatär; leider streben unsre Sitten entgegen, die vernünftigste Einrichtung, Gemeinschaft aller Weiber, einzuführen. Doch schweigen wir von solchen Kleinigkeiten – sieh einmal, was ich da habe!» Er brachte einen Plan der Stadt Köln hervor und sagte zu mir, daß es im Werke sei, sie zu verschönern. «Dann müßt ihr ja die ganze Stadt abbrechen!» rief ich. – «Nein», versetzte er ernsthaft, «nicht die ganze Stadt; – nur ein Teil, nur so die Hauptsache soll vorderhand verändert werden. Man muß im Anfange mit wenigem zufrieden sein; späterhin findet sich dann das mehrere.» Er breitete den Plan auf dem Tische aus und machte mir seine Verschönerungsvorschläge klar. Er hatte die Linien, welche er beobachtet wissen wollte, mit dem Bleistifte über den Grundriß gezogen; sie bildeten lauter rechte Winkel und Quadrate und gingen meistens mit unerschrockener Kühnheit hinweg über die Kurven, Trapeze und Trapezoiden, in welchen es der alten heiligen Stadt Köln gefallen hat, sich aufzuerbauen. Ich wollte ihm eben über diese geniale Idee etwas sagen, als die Hausklingel tönte. Gleich darauf trat ein Mann mit gescheiteltem Haar, im zugeknöpften Reiseüberrock ein. Es war Ernst, der Erwartete. Er wurde von mir mit herzlicher Freude, von Anselm aber mit ziemlich kühlem Willkommen begrüßt. Was mir an ihm, dem einst so leichtherzigen, leichtfertigen Vogel, auffiel: er sprach jetzt überaus gedehnt, leise, fast lispelnd. Indessen, wer ändert sich nicht im Laufe der rollenden Jahre? «Kinder», sagte ich zu beiden Freunden, «da wir drei nach langer Zeit nun einmal so hübsch wieder zusammen sind, so laßt uns auch recht fröhlich sein, laßt uns die alten Geschichten wiederholen, die uns einst so lustig machten!» – «Du bist ein Sanguiniker und denkst bloß an Sentimentalitäten und Genuß», fuhr Anselm ziemlich unfreundlich heraus. – «Habt ihr schon gehört», fragte Ernst, «daß die Väter in Freiburg mit jedem Tage mehr Zöglinge bekommen?» Bei diesen Worten schwoll Anselms Gesicht; er spuckte giftig und warf einen äußerst grimmigen Blick auf Ernst. Dieser nahm lächelnd den Verschönerungsplan zur Hand und sagte, sich an mich wendend: «Ich sehe, unser weltumstürzender Freund hat dich in die Lehre genommen. Nun, wie tief bist du denn schon in die Mysterien der neuen Weisheit eingedrungen? Sage mir aber doch, geliebter Anselm, warum hast du hier auf dem Plane die schönste gerade Linie an einer so unförmlichen Ecke abgebrochen?» – Ich sah auf die Stelle, die der Freund mit dem Finger andeutete, und erblickte wirklich zu meinem Erstaunen das, wovon er sprach. Die gerade Straße, welche einen Hauptplatz mit dem andern verbinden sollte, zog sich an einer Ecke höchst bescheiden um einen unförmlichen Vorsprung; der Strich war sauber um diesen Klumpen gezogen. Ich wunderte mich über die Irregularität; da rief Anselm höchst verdrießlich: «Das ist ja mein Haus, das Haus, worin ihr Toren eben schwadroniert! Wißt ihr, wie viel mich's gekostet hat? Für zwanzigtausend Taler hatte ich's noch nicht; das kann ich euch versichern!»

Er rollte rasch seinen Plan zusammen und warf ihn ärgerlich in eine Ecke.

Ernst stellte sich mitten in die Stube, nahm aus seiner Dose, worauf der Herr Christus abgebildet war, eine ansehnliche Prise und hob in gemessener Rede, zu mir gewendet, an: «Siehst du, hier hast du den modernen deutschen Wirtshausliberalismus, den Affen des französischen Tigers, der doch mit seinen Klauen nur festhalten will, was er bereits hat, nämlich die blutbesprengten Stücke des Throns und Altars! Hier hast du unsern Deutschen in einem Zuge, mit einem Worte; da liegt die Bescherung auf einer Schüssel. Nichts ist ihnen heilig, wenn es nur gilt, wohlerworbene Rechte andrer vertilgen; aber wenn sie selbst ein Titelchen von dem einbüßen sollen, was ihnen gehört, da schaudern die Herren schön zurück. Der da ist zum Glück kein Gewaltiger, kein Fürst und Herr, er ficht bloß mit den Händen durch die Luft und führt kein Schwert, sondern nur einen Bleistift. Ich sage dir, hätte er die Macht, er ließe alle Häuser dieser Stadt nach seinen geraden Linien niederreißen; aber an der alten Rumpelkammer, die ihm, wie er sagt, mehr als zwanzigtausend Taler gekostet hat, würde auch dann der Mauerbrecher haltmachen, wie jetzt der Bleistift dort haltgemacht hat. O Gott, wann erscheint der Tag, wo alle Menschen dieses Gespinst des Irrtums und der Eigenliebe erkennen, wie wir es erkennen? Wann bekehrt sich die Welt zu dem, wodurch sie einzig restauriert werden kann?»

Anselm trat dicht vor den Restaurator, stemmte die Arme in die Seite und fragte höhnisch: «Nun, und wodurch willst du sie denn verjüngen? Laß doch einmal von deinen Kunstgriffen uns vernehmen, du großer Chemiker!» – Ernst versetzte: «Willst du mich zum Worte kommen lassen? Willst du mich nicht unterbrechen? Wollt ihr hören, so was man hören nennt?» – «Aber Teure», rief ich dazwischen, «versäumen wir nicht die Stunde des Narrenzuges!» – «Sprich», sagte Anselm zu Ernst, ohne auf mich zu achten; «es soll einmal das Thema gründlich unter uns abgehandelt werden.»


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