Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Erster Band
Victor Hugo

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4. Eine Thräne für einen Tropfen Wasser.

Diese Worte waren gleichsam der Vereinigungspunkt von zwei Scenen, die sich bis dahin neben einander, in demselben Augenblicke, jede aber auf ihrem besonderen Schauplatze abgespielt hatten: die eine, wie man soeben gelesen hat, im Rattenloche, die andere, wie der Leser erfahren soll, auf der Leiter des Prangers. Die erste hatte nur die drei Frauen zu Zeugen gehabt, mit denen der Leser soeben Bekanntschaft gemacht hat; die zweite hatte als Zuschauer das ganze Publikum gehabt, das wir weiter oben, auf dem Grèveplatze, um den Pranger und Galgen sich ansammeln gesehen haben.

Diese Volksmenge, der die vier Gerichtsdiener, welche seit neun Uhr morgens an den vier Ecken des Prangers postirt waren, Hoffnung auf eine mittelmäßige Rechtsvollstreckung, nicht etwa auf eine Aufknüpfung, sondern nur auf eine Auspeitschung, auf ein Ohrenabschneiden, kurzum: auf etwas, erweckt hatten, – diese Menge war so schnell angewachsen, daß die vier Gerichtsdiener, die allzusehr bedrängt wurden, mehr als einmal in die Notwendigkeit versetzt wurden, sie mit tüchtigen Ruthentziehen und durch Ausschlagenlassen der Pferde mit dem Hintertheile »zusammenzuschnüren«, wie man sich damals ausdrückte. Diese Volksmenge, die bei öffentlichen Rechtsvollstreckungen ans Warten gewöhnt war, zeigte nicht allzuviel Ungeduld. Sie unterhielt sich damit, den Pranger zu betrachten: eine Art sehr einfachen Bauwerkes, das aus einem gemauerten, inwendig hohlen Würfel von etwa zehn Fuß Höhe bestand. Ein sehr roher Stufenaufgang aus unbehauenem Steine, den man vorzugsweise »die Schandleiter« nannte, führte auf die höher gelegene Plattform, auf welcher man ein Rad aus hartem Eichenholze in wagerechter Lage bemerkte. Man band den armen Sünder kniend und mit den Armen auf dem Rücken auf dieses Rad. Eine hölzerne Stange, die eine im Innern des kleinen Baues verborgene Winde in Bewegung setzte, gab dem Rade, das immer in horizontaler Lage blieb, eine drehende Bewegung, und zeigte auf diese Weise das Gesicht des Verurteilten nach und nach allen Punkten des Platzes. Dies Verfahren nannte man »einen Missethäter drehen«.

Wie man sieht, war der Pranger auf dem Grèveplatze weit davon entfernt, alle die Ergötzlichkeiten desjenigen an den Hallen zu bieten. Da war nichts Architektonisches, nichts Denkmalartiges zu entdecken. Kein eisernes Kreuzdach, kein achteckiges Thürmchen, keine zarten Säulchen, welche am Dachrande in laub- und blumengeschmückte Kapitäle ausliefen, keine chimärisch und ungeheuerlich geformten Dachrinnen, keine geschnitzte Holzarbeit, keine geschmackvolle und gründlich in Stein gearbeitete Bildhauerarbeit – nichts von alledem war zu finden.

Man mußte sich mit diesen vier Bruchsteinflächen nebst zwei Sandsteinmauern und einem häßlichen, dürren, schmucklosen Steingalgen daneben, zufriedenstellen. Für Liebhaber der gothischen Baukunst wäre das Vergnügen gering gewesen. Wahr ist, daß nichts weniger begierig auf Baudenkmäler war, als die biedern Maulaffen des Mittelalters, und daß sie sich über die Schönheit eines Prangers nur wenig graue Haare wachsen ließen.

Der arme Sünder kam endlich, auf das Hintertheil eines Karrens gebunden, an, und als er auf die Plattform hinaufgezogen war, als man ihn von allen Punkten des Platzes mit Stricken und Riemen auf das Rad des Prangers gebunden sehen konnte, erscholl ein ungeheures Hohngeschrei, mit Gelächter und Beifallklatschen vermischt, vom Platze her. Man hatte Quasimodo erkannt.

Er war es in der That. Der Glückswechsel war seltsam. An dieser nämlichen Stelle stand er am Pranger, wo man ihm den Abend vorher als Papst und Fürsten der Narren, in Begleitung des Herzogs von Aegypten, des Königs von Thunes und des Kaisers von Galiläa, zugejauchzt, ihn ausgerufen und begrüßt hatte. Ganz gewiß gab es in der Menge nicht eine Seele, selbst ihn nicht, der vorher den Triumphirenden und nun den armen Sünder vorstellte, mit eingerechnet, welche sich in Gedanken dieses Zusammentreffen ordentlich deutlich machte. Gringoire und seine Lebensweisheit fehlten bei diesem Schauspiele. Alsbald ließ Michel Noiret, der vereidete Trompeter des Königs, unseres gnädigen Herrn, dem Volke Schweigen gebieten, und rief das Urtheil, der Verfügung und dem Befehle des Herrn Oberrichters gemäß, aus. Danach stellte er sich mit seinen Leuten, die in Uniformen gekleidet waren, hinter dem Karren auf.

Quasimodo in seiner Gleichgiltigkeit verzog keine Miene. Jeder Widerstand war ihm durch das unmöglich gemacht worden, was man damals, im Stile der Criminalkanzlei »die Stärke und Festigkeit der Fesseln« nannte, was da sagen will, daß die Riemen und Ketten ihm wahrscheinlich ins Fleisch einschnitten. Uebrigens ist das eine Ueberlieferung von Kerker und Galeere her, die sich nicht verloren hat, und welche die Handschellen genau noch unter uns, dem civilisirten, sanften und menschlichen Volke, bewahren, – Bagno und Guillotine natürlich nicht zu vergessen.

Er hatte sich führen und stoßen, tragen und setzen, binden und freimachen lassen. Man konnte aus seinem Gesichte nichts herauslesen, als das Staunen eines Wilden oder eines Blödsinnigen. Man wußte, er war taub; man hätte ihn auch blind nennen können.

Man setzte ihn in knieender Stellung auf das kreisförmige Brett: er ließ es geschehen. Man zog ihm Hemd und Wamms bis zum Gürtel aus: er ließ sie machen. Man schnürte ihn in ein neues System von Riemen und Fesseln: er ließ sie schnallen und schnüren. Von Zeit zu Zeit nur schnaufte er laut wie ein Kalb, dessen Kopf auf dem Rande des Fleischerkarrens hängt und baumelt.

»Der Tölpel,« sagte Johann Frollo-du-Moulin zu seinem Freunde Robin Poussepain (denn die zwei Studenten waren, wie sich das versteht, dem armen Sünder gefolgt), »er begreift nicht mehr, als ein Maikäfer, der in eine Schachtel gesperrt ist!«

Ein tolles Gelächter entstand bei der Menge, als man seinen nackten Buckel, die Kameelsbrust, seine schwieligen und haarigen Schultern erblickte. Während dieser allgemeinen Heiterkeit stieg ein Mann in der Stadtuniform, von untersetztem Wuchse und robustem Aussehen, auf die Plattform und nahm neben dem armen Sünder Platz. Sein Name machte schnell die Runde im Zuschauerkreise. Es war Meister Pierrat Torterue, der vereidete Foltermeister beim Châtelet.

Zuerst stellte er auf eine Ecke des Prangers eine schwarze Sanduhr, deren obere Kapsel mit rothem Sande gefüllt war, welchen diese in den unteren Behälter laufen ließ; hierauf zog er seinen halbtheiligen Ueberrock aus, und man sah ihn mit der Rechten eine kleine Peitsche ergreifen, die mit langen, weißen, glänzenden, knotigen, geflochtenen und mit Metallhaken besetzten Riemen versehen war. Mit der linken Hand faltete er nachlässig das Hemd um den rechten Arm bis zur Achsel in die Höhe.

Währenddem rief Johann Frollo, der seinen blonden Lockenkopf über die Menge hob (er war zu diesem Zwecke auf die Schultern Robin Poussepains gestiegen): »Kommt und sehet, ihr Herren und Damen! schauet, wie man den Glöckner meines Bruders, des Herrn Archidiaconus von Josas, den Meister Quasimodo, diesen närrischen Kauz von abenteuerlichem Gestelle mit einem Buckel wie ein Thurmdach, und mit Beinen wie verdrehte Säulen, ein- für allemal auspeitschen wird!«

Der Haufe brach in Gelächter aus, vornehmlich die Kinder und jungen Mädchen.

Endlich pochte der Foltermeister mit dem Fuße auf. Das Rad begann sich zu drehen. Quasimodo schwankte in seinen Fesseln. Die Bestürzung, die sich plötzlich in seinem häßlichen Gesichte malte, verursachte, daß das Gelächter ringsumher sich verdoppelte. Plötzlich, im Augenblicke, wo das Rad in seiner Umdrehung dem Meister Pierrat Quasimodo's hügligen Rücken zeigte, hob Meister Pierrat den Arm; die feinen Riemenschnuren pfiffen scharf, wie ein Bündel Nattern durch die Luft, und fielen wüthend auf die Schultern des Unglücklichen nieder.

Quasimodo fuhr in sich zusammen, als ob er plötzlich aus dem Schlafe erwachte. Jetzt begriff er. Er wand sich in seinen Fesseln; ein heftiges Zucken, aus Ueberraschung und Schmerz gemischt, durchwühlte die Muskeln seines Gesichtes, aber er stieß nicht einmal einen Seufzer aus. Nur den Kopf wandte er hinterwärts, erst zur Rechten, dann zur Linken, wiegte ihn dann hin und her, wie ein Stier thut, der von einer Bremse in die Flanke gestochen wird.

Ein zweiter Hieb folgte dem ersten, dann ein dritter, dann ein neuer, dann wieder einer, und so fort. Das Rad drehte sich in einem fort, und es regnete Hiebe. Bald spritzte das Blut hervor, man sah es aus zahllosen Striemen über die schwarzen Schultern des Buckligen rieseln, und die dünnen Riemen spritzten es, bei ihrem Sausen durch die Luft, in Tropfen auf die Menge.

Quasimodo hatte, so schien es wenigstens, seine ursprüngliche Gleichgültigkeit wiedergefunden. Er hatte anfangs im Stillen und ohne großen, sichtbaren Kraftaufwand seine Fesseln zu zerreißen versucht. Man hatte gesehen, wie sein Auge flammte, seine Muskeln sich spannten, die Glieder sich zusammenzogen, und die Riemen und Ketten sich ausdehnten. Die Anstrengung war gewaltig, ungeheuer, verzweifelt; aber die erprobten Folterinstrumente des Gerichtsamtes widerstanden. Sie krachten, und dabei blieb es. Quasimodo sank erschöpft zusammen. Auf seinen Zügen machte die Betäubung einem Gefühle der Bitterkeit und tiefer Entmuthigung Platz. Er schloß sein einziges Auge, ließ seinen Kopf auf die Brust sinken und erschien wie todt. Von nun an rührte er sich nicht mehr. Nichts vermochte ihm eine Bewegung abzunöthigen. Weder das Blut, das unaufhörlich floß, noch die Hiebe, deren Wuth sich verdoppelte, noch der Zorn des Foltermeisters, der sich selbst anfeuerte und in der Auspeitschung berauschte, noch das Sausen der schrecklichen Peitschenriemen, die immer schneidender wurden und zischender als Insektenflügel.

Endlich streckte ein Beamter vom Châtelet, der schwarzgekleidet und auf schwarzem Rosse seit dem Beginne der Execution neben der Leiter gehalten hatte, seinen Ebenholzstab nach der Sanduhr hin. Der Henker hielt inne. Das Rad stand still. Das Auge Quasimodo's öffnete sich langsam wieder.

Die Geißelung war zu Ende. Zwei Knechte des vereinten Foltermeisters wuschen die blutenden Schultern des Delinquenten, rieben sie mit irgend einer Salbe ein, die augenblicklich alle Wunden schloß, und warfen ihm eine Art braunes Tuch, das wie ein Meßgewand zugeschnitten war, über den Rücken. Währenddem ließ Pierrat Torterue die rothen, blutgetränkten Peitschenriemen auf den Boden abtropfen.

Noch war nicht alles für Quasimodo vorüber. Er mußte zum Schluß noch jene Stunde Prangerstehen abbüßen, welche Meister Florian Barbedienne so verständigerweise zu dem Urteilsspruche des Herrn Robert von Estoureville hinzugefügt hatte; – alles zum höchsten Ruhme des alten physiologischen und psychologischen Wortspieles von Johann von Cumenes: »Surdus absurdus«.Lateinisch: Ein Tauber ist unsinnig.

Man drehte also die Sanduhr um und ließ den Buckligen auf dem Rade gefesselt, damit doch ja der Gerechtigkeit völlig Genüge geleistet würde.

Das Volk, vornehmlich im Mittelalter, ist in der Gesellschaft das, was das Kind in der Familie ist. So lange es in diesem Zustande jugendlicher Unwissenheit, sittlicher und geistiger Unmündigkeit verharrt, kann man von ihm, wie vom Kinde sagen:

»Dieses Alter ist ohne Erbarmen.«

Wir haben schon früher gezeigt, daß Quasimodo allgemein verhaßt war, und zwar aus mehr als einem triftigen Grunde. In dieser Menschenmenge gab es wohl kaum einen Zuschauer, der nicht Veranlassung hätte oder zu haben glaubte, über den boshaften Buckligen von Notre-Dame Klage zu führen. Die Freude war allgemein gewesen, als man ihn am Pranger erscheinen sah; und die rohe Strafvollstreckung, die er soeben erlitten, wie die klägliche Lage, in der sie ihn gelassen hatte, weit davon entfernt den Pöbel zum Mitleid zu bewegen, hatte dessen Haß noch ingrimmiger gemacht, weil er mit dem Stachel der Schadenfreude bewaffnet war.

Als daher dem »beleidigten Gerechtigkeitsgefühle« der Menge, wie noch heutzutage die viereckigen MützenGemeint sind die Richter, welche solche Mützen tragen. Anm. d. Uebers. kauderwelschen, Genüge gethan war, kam die Reihe an die tausenderlei Privatracheakte. Hier, wie im Großen Saale, brachen besonders die Weiber los. Alle hatten einen Groll auf ihn: die einen wegen seiner Bosheit, die andern wegen seiner Häßlichkeit. Die letztern namentlich waren am wüthendsten.

»Oh! du Larve des Satans!« rief eine.

»Du Besenstielreiter!« schrie eine andere.

»Du Muster von jämmerlicher Fratze,« heulte eine dritte, »wer möchte dich zum Narrenpapste machen, wenn heute gestern wäre!«

»Das ist gut,« fuhr eine Alte fort. »Hier sehen wir die Grimasse des Prangers; wann die des Galgens?«

»Wann wirst du, mit deiner großen Glocke über den Ohren, hundert Fuß unter der Erde liegen, verfluchter Glöckner?«

»Das ist also dieser Teufel, der das AngelusLateinisch: »Der Engelsgruß«, Vespergebet an die heilige Jungfrau. Anm. d. Uebers. läutet!«

»Ach! der Taube! der Einguck! der Bucklige! das Unthier!«

»Seht das Gesicht, das eine Schwangere besser, als alle Arznei- und Apothekermittel zur Fehlgeburt bringen kann!«

Und die zwei Studenten Johann du Moulin und Robin Poussepain sangen aus vollem Halse den alten Volksrefrain:

Einen Strick
Für das Diebsgenick!
Und ein Birkenreis
Für den Affensteiß!

Tausend andere Beschimpfungen regnete es, und Hohngeschrei, Verwünschungen, Gelächter und Steinwürfe kamen von allen Orten.

Quasimodo war taub, aber er sah deutlich; und die Wuth des Pöbels war nicht weniger kräftig auf den Gesichtern, als in ihren Schimpfreden ausgedrückt. Uebrigens machten ihm die Steinwürfe das tolle Gelächter begreiflich.

Zuerst hielt er Stand. Aber nach und nach wankte diese Geduld, welche unter der Peitsche des Foltermeisters starr geblieben war, und gab allen diesen Insektenstichen Raum. Der Stier Asturiens, welcher von den Angriffen des Lanzenreiters kaum gereizt wird, geräth über die Hunde und Banderillos in Zorn.

Langsam warf er zuerst einen drohenden Blick auf die Menge. Aber geknebelt, wie er war, blieb sein Blick zu machtlos, um die Fliegen zu verjagen, die an seiner Wunde nagten. Dann schüttelte er sich in seinen Fesseln, und seine wüthenden Sprünge ließen das alte Prangerrad auf seinen Brettern krachen. Ueber allem dem nahmen die Spöttereien und das Hohngeschrei nur noch zu.

Nun wurde der Unglückliche, welcher die für ein wildes Thier bestimmte Fessel nicht brechen konnte, ruhig; nur manchmal hob ein ingrimmiger Seufzer alle Tiefen seiner Brust. Auf seinem Antlitze sah man weder Scham noch Zornesröthe. Er war dem Zustande der Gesellschaft zu sehr entfremdet und dem der Natur zu nahe, um zu wissen, was Scham bedeutet. Ist übrigens die Ehrlosigkeit auf dieser Stufe der Häßlichkeit noch ein merkbares Etwas? Der Zorn aber und der Haß und die Verzweiflung lagerten auf diesem häßlichen Gesichte nach und nach eine immer düsterere Wolke ab, die sich immer mehr mit Zündstoff füllte, welcher in zahllosen Blitzen aus dem Auge des Cyklopen zuckte.

Indessen hellte sich diese Wolke einen Augenblick auf, als ein Maulthier, welches einen Priester trug, herankam und die Menge theilte. So weit auch er diesen Maulesel und diesen Priester von sich entfernt sah, sänftigte sich das Angesicht des armen Teufels. Auf die Wuth, welche es zusammenzog, folgte ein seltsames Lächeln voll unaussprechlicher Milde, Sanftmuth und Zärtlichkeit. In dem Maße, wie der Priester sich näherte, desto offenherziger, deutlicher und strahlender wurde dieses Lächeln. Es war als ob der Unglückliche die Ankunft eines Erretters begrüßte. In dem Augenblicke jedoch, wo der Maulesel nahe genug beim Pranger war, so daß sein Reiter den Delinquenten erkennen konnte, senkte der Priester die Blicke, kehrte plötzlich um, gab dem Maulthiere beide Sporen, als ob er Eile gehabt hätte, sich von demüthigenden Forderungen, und vielleicht auch von Sorge zu befreien, von einem armen Teufel in solcher Stellung gegrüßt und erkannt zu werden.

Dieser Priester war der Archidiaconus Dom Claude Frollo.

Die Wolke senkte sich düsterer wieder auf die Stirne Quasimodo's. Eine Zeit lang mischte sich noch ein Lächeln hinein; aber es war bitter, muthlos, unendlich traurig.

Die Zeit verfloß. Seit anderthalb Stunden wenigstens stand er nun, zerfleischt, mißhandelt, unaufhörlich verspottet und fast gesteinigt, da.

Plötzlich bewegte er sich von neuem in seinen Banden; und mit der Verdoppelung der Verzweiflung, vor der das ganze Gerüst zitterte, das ihn trug, schrie er, indem er das Schweigen brach, das er bis dahin hartnäckig beobachtet hatte, mit heiserer und wüthender Stimme, die mehr einem Gebelle, als einem Menschenrufe glich, und welche den Lärm des Hohngeschreies übertönte: »Zu trinken!«

Dieser Nothschrei, weit entfernt Mitleiden zu erregen, vergrößerte noch das Vergnügen des süßen Pariser Pöbels, der die Leiter umringte, und der, wie man sagen muß, damals kaum weniger grausam und weniger verthiert war, als jene Bettlerhorde, zu der wir den Leser schon geführt haben, und die ganz einfach die niedrigste Schicht des Volkes war. Nicht eine Stimme erhob sich rings um den außer um mit seinem Durste Spott zu treiben. Freilich war er in diesem Augenblicke wunderlicher und abstoßender noch, als Mitleid erregend mit seinem purpurroten und schweißtriefenden Gesichte, seinem irren Blicke, seinem vor Zorn und Leiden schäumenden Munde und der halb heraushängenden Zunge. Auch muß man sagen, daß, hätte sich in diesem Haufen irgend eine barmherzige und gute Bürger- oder Bürgerinnenseele gefunden, die in Versuchung gerathen wäre, diesem bedauernswerthen Geschöpfe in seiner Pein ein Glas Wasser zu bringen, daß, sage ich, an den verrufenen Stufen des Prangers ein solches Vorurtheil von Schimpf und Schande haftete, daß dieses genügt hätte, den barmherzigen Samariter zurückzutreiben.

Nach Verlauf einiger Minuten ließ Quasimodo seinen verzweifelten Blick über die Menge schweifen und wiederholte mit noch herzzerreißenderer Stimme: »Zu trinken!«

Alles brach in Lachen aus.

»Trink' das!« rief Robin Poussepain und warf ihm einen in der Gosse herangetriebenen Schwamm ins Gesicht. »Da, tauber Schurke, ich bin dein Schuldner.«

Ein Frauenzimmer warf ihm einen Stein an den Kopf:

»Das möge dich lehren, uns des Nachts mit deinem verwünschten Läuten zu stören.«

»Ach ja, Bursche!« heulte ein Gelähmter, der sich bemühte, ihn mit seiner Krücke zu erreichen, »willst du uns noch von der Höhe der Notre-Dame-Thürme behexen?«

»Da hast du einen Napf zum trinken!« begann jetzt ein Mann und warf ihm einen zerbrochenen Krug an die Brust. »Du bist die Ursache, daß meine Frau, an der du nur vorbeigegangen bist, ein Kind mit zwei Köpfen zur Welt gebracht hat!«

»Und meine Katze einen sechsbeinigen Kater!« kreischte eine Alte und warf einen Dachziegel nach ihm.

»Zu trinken!« wiederholte Quasimodo schnaufend zum dritten Male.

In diesem Augenblicke sah er, wie der Volkshaufen sich theilte. Ein junges, wunderlich gekleidetes Mädchen trat aus der Menge hervor. Sie war von einer kleinen weißen Ziege mit vergoldeten Hörnern begleitet und trug eine baskische Trommel in der Hand.

Quasimodo's Auge funkelte. Das war die Zigeunerin, welche er in der vergangenen Nacht zu entführen versucht hatte: eine Beschimpfung, das fühlte er dunkel, für die man ihn jetzt in diesem Augenblicke züchtigte; was übrigens am allerwenigsten der Fall war, da er ja nur infolge des Unglücks, taub zu sein, und von einem Tauben verurtheilt worden zu sein, Strafe erlitten hatte. Er zweifelte nicht, daß sie nur kam, um sich auch zu rächen, und ihm ihren Schlag, wie alle andern, zu versetzen.

Er sah sie in der That eilig die Leiter heraufsteigen. Zorn und Aerger schnürten ihm die Kehle zu. Er hätte gewünscht, den Pranger zusammenbrechen lassen zu können; und wenn der Blitz seines Auges hätte zerschmettern können, so wäre die Zigeunerin, ehe sie auf der Plattform ankam, zu Staub zermalmt worden.

Sie näherte sich, ohne ein Wort zu verlieren, Quasimodo, der sich vergebens hin- und herwand, um ihr auszuweichen, machte eine Kürbisflasche von ihrem Gürtel los und setzte sie sachte an die trockenen Lippen des Unglücklichen. Da sah man aus diesem bisher so trockenen und glühenden Auge eine dicke Thräne rollen, welche langsam über das mißgestaltete und vor Verzweiflung verzerrte Gesicht herabfloß. Das war vielleicht die erste Thräne, welche der Unglückliche jemals vergossen hatte.

Dabei vergaß er zu trinken. Die Zigeunerin verzog ungeduldig ihren kleinen Mund und setzte lächelnd den Flaschenhals an Quasimodo's zahnigen Mund. Er trank in langen Zügen. Sein Durst war brennend.

Als er geendet hatte, spitzte der Unglückliche seine schwarzen Lippen: jedenfalls, um die schöne Hand zu küssen, die ihm soeben Hilfe geleistet hatte. Aber das junge Mädchen, welches vielleicht nicht frei von Mißtrauen war, und sich des gewalttätigen Versuches von der Nacht her erinnerte, zog ihre Hand mit der erschrockenen Geberde eines Kindes zurück, welches von einem Thiere gebissen zu werden fürchtet.

Da heftete der arme Taube einen Blick voll Vorwurf und unsäglicher Traurigkeit auf sie.

Es war jedenfalls ein rührendes Schauspiel, dieses schöne, frische, reine, reizende und zugleich so schwache Mädchen zu sehen, wie es so mitleidig zum Beistande so großen Elends, so großer Häßlichkeit und Bosheit herbeigeeilt war. Auf einem Pranger war dies Schauspiel erhaben.

Die Menge selbst war davon ergriffen und fing unter den Rufen »Hurrah! Juchhe!« an in die Hände zu klatschen.

Gerade in diesem Augenblicke bemerkte die Klausnerin von der Luke ihres Loches aus die Zigeunerin auf dem Pranger und schleuderte ihr den gräßlichen Fluch zu: »Verflucht sei du, Tochter Aegyptens! Verflucht! Verflucht!«


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